Urteil des Bundesgerichts 2C_804/2019 vom 21. April 2020

Spannungsverhältnis zwischen Sistierung und Beschleunigungsgebot

  • 26. August 2020
  • Bearbeitet durch: Dominique Seger
  • Beitragsart: Grundsatzurteil
  • Rechtsgebiete: Internationale Amtshilfe
  • Zitiervorschlag: Dominique Seger, Urteil des Bundesgerichts 2C_804/2019 vom 21. April 2020, ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts 2C_804/2019 vom 21. April 2020 i.S. A.A. und B.A. gegen Eidgenössische Steuerverwaltung, Dienst für Informationsaustausch in Steuersachen SEI. Beschwerde gegen die Zwischenverfügung des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung I, vom 12. September 2019 (A-1787/2019).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Die Sistierung eines Amtshilfeverfahrens kann nur ausnahmsweise zulässig sein und bedarf zwingender Gründe. Die Sistierung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht ist mit dem Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG kompatibel und verletzt weder Bundes- noch Völkerrecht, wenn vor Bundesgericht bereits ein Verfahren in einer anderen Sache hängig ist, in dem sich dieselbe Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung stellt. Erforderlich ist dabei, dass sich beide Verfahren effektiv um die identische Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung drehen, sodass die Antwort des Bundesgerichts im ersten Verfahren das zweite Verfahren vor der Vorinstanz präjudiziert und die Übermittlung der ersuchten Informationen bestimmt.

La suspension de la procédure d’assistance administrative ne peut être accordée qu’à titre exceptionnel et requiert des motifs impérieux. La suspension de la procédure par le Tribunal administratif fédéral est compatible avec le principe de célérité prévu à l’art. 4 al. 2 LAAF. Elle ne viole ni le droit fédéral ni le droit international si une procédure est déjà pendante devant le Tribunal fédéral pour une autre affaire, dans laquelle se pose la même question juridique. Les deux procédures doivent nécessairement traiter de la même question juridique de sorte que la réponse du Tribunal fédéral dans la première procédure préjuge de la deuxième procédure par devant l’instance inférieure et détermine la transmission des informations demandées.

2.

Sachverhalt ^

A.

Mit Schreiben vom 18. Juli 2018 und gestützt auf Art. 26 des Abkommens vom 26. Februar 2010 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (DBA CH-NL; SR 0.672.963.61) ersuchte der zuständige Dienst der niederländischen Steuerbehörde (Belastingdienst/Central Liaison Office Almelo; nachfolgend: BD) die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) um Amtshilfe betreffend A.A. und B.A.

B.

Mit Schlussverfügung vom 15. März 2019 erklärte die ESTV den betroffenen Personen, dass sie dem BD Amtshilfe leisten werde. A.A. und B.A. erhoben daraufhin am 12. April 2019 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Überdies beantragten sie am 2. Juli 2019, dass das Bundesverwaltungsgericht ihr Beschwerdeverfahren sistiere, da sich dieselbe Rechtsfrage stelle wie in den beim Bundesgericht hängigen Verfahren 2C_493/2019 und 2C_514/2019, namentlich ob der ersuchende Staat gemäss Ziff. XVI lit. a des Protokolls zum DBA CH-NL innerstaatlich zuerst alle «verfügbaren» oder bloss alle «üblichen» Mittel ausgeschöpft haben muss (Subsidiaritätsprinzip). Das Bundesverwaltungsgericht kam diesem Antrag mit Zwischenverfügung vom 12. September 2019 nach und sistierte das Verfahren.

C.

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 23. September 2019 beantragt die ESTV, dass die Zwischenverfügung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. September 2019 aufzuheben sei.

3.

Aus den Erwägungen ^

1.

1.1. Der angefochtene Entscheid hat die Sistierung des Verfahrens vor der Vorinstanz zum Gegenstand. Es handelt sich dabei um einen Zwischenentscheid nach Art. 93 Abs. 1 BGG. Solche Entscheide können beim Bundesgericht nur angefochten werden, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).

Die Aufhebung des angefochtenen Sistierungsentscheids würde nicht sofort einen Endentscheid herbeiführen. Die Beschwerde ist folglich nur unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig.

[…]

1.1.3. Ins Gewicht fällt vorliegend, dass sich das Gebot zur Beschleunigung des Verfahrens auf dem Gebiet der internationalen Amtshilfe in Steuersachen nicht nur aus der Verfassung ergibt, sondern in Art. 4 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 28. September 2012 über die internationale Amtshilfe in Steuersachen (StAhiG; SR 651.1) zusätzlich gesetzlich verankert wurde. Die zügige Durchführung des Amtshilfeverfahrens ist ausserdem auch völkerrechtlich geboten, denn die Schweiz hat sich ihren Partnerstaaten gegenüber zwar nicht zu festen Obergrenzen für die Verfahrensdauer (vgl. BGE 142 II 218 E. 2.7 S. 225), aber doch zu einem möglichst weitgehenden und wirksamen Informationsaustausch verpflichtet (vgl. z.B. Ziff. XVI lit. c des Protokolls zum DBA CH-NL). Die ESTV ist mit dem Vollzug der internationalen Amtshilfe in Steuersachen betraut (Art. 2 Abs. 1 StAhiG) und hat folglich auch die Einhaltung des gesetzlichen Beschleunigungsgebots zu gewährleisten. Wird sie in der Erfüllung dieses gesetzlichen Auftrags durch eine Verfahrenssistierung des Bundesverwaltungsgerichts beeinträchtigt, bedeutet dies für die ESTV nicht bloss einen tatsächlichen, sondern einen rechtlichen Nachteil. Damit macht die ESTV substanziiert die Verletzung des Beschleunigungsgebots geltend. Der Zwischenentscheid der Vorinstanz ist somit bereits deshalb nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG selbständig anfechtbar.

1.2. […] Als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung präsentiert die ESTV die Frage, ob die Sistierung von Beschwerdeverfahren auf dem Gebiet der internationalen Amtshilfe in Steuersachen das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG verletze. Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde einer betroffenen Person nicht ein, welche die Sistierung des betreffenden Amtshilfeverfahrens verlangt hatte (Urteil 2C_871/2018 vom 5. Oktober 2018 E. 4.1 und 4.3), dies deshalb, weil die Anwendung der allgemeinen Grundsätze zur Sistierung keine grundsätzliche Frage betraf. Die ESTV erachtet es demgegenüber als geboten, im Bereich der Steueramtshilfe die Sistierung im Lichte des spezialgesetzlichen Beschleunigungsgebots gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG weitgehend oder gar ganz auszuschliessen. Die Frage ist von grosser praktischer Bedeutung und stellt sich überdies nicht nur im vorliegenden, sondern in einer Reihe von Fällen, die aktuell beim Bundesgericht hängig sind. Es handelt sich folglich um eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung gemäss Art. 84a BGG.

[…]

1.4. Auf die nach Art. 100 Abs. 1 und Art. 42 BGG frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist somit einzutreten.

[…]

3.

3.1. Die Vorinstanz hat das Beschwerdeverfahren sistiert, weil sich dieselbe Rechtsfrage stelle wie in zwei bereits beim Bundesgericht hängigen Verfahren. Die ESTV rügt, dass diese Sistierung gegen das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG verstosse.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts zum verfassungsmässigen Beschleunigungsgebot (Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK) und etwa der spezialgesetzlichen Ausprägung von Art. 5 Abs. 1 StPO entzieht sich die Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer starren Regeln. Ob sich die Dauer eines Verfahrens als angemessen erweist, ist in jedem Einzelfall unter Würdigung aller konkreten Umstände zu prüfen, es sei denn, die anwendbaren Verfahrensvorschriften sähen bestimmte Erledigungsfristen vor (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1 S. 377; 135 I 265 E. 4.4 S. 277; 130 I 312 E. 5.2 S. 332; 124 I 139 E. 2.c S. 141). Die Sistierung eines Verfahrens kann mit dem Beschleunigungsgebot in Konflikt geraten. Sie kann sich insbesondere aus Gründen der Verfahrensökonomie anbieten, wenn ein präjudizieller Entscheid einer anderen Behörde bevorsteht (BGE 130 V 90 E. 5 S. 95; Urteil 9C_799/2018 vom 21. Februar 2019 E. 2, in: SVR 2019 AHV 13 Nr. 36). Im Zweifelsfall ist freilich zugunsten des Beschleunigungsgebots auf eine Sistierung zu verzichten (BGE 119 II 386 E. 1b S. 389).

3.2. Für den Bereich der Steueramtshilfe schreibt Art. 4 Abs. 2 StAhiG vor, dass Verfahren der internationalen Amtshilfe in Steuersachen zügig durchzuführen sind (vgl. oben E. 1.1.3). Dieses spezialgesetzliche Beschleunigungsgebot bindet nicht nur die ESTV als mit dem Vollzug betraute Behörde, sondern richtet sich an alle an der Amtshilfe Beteiligten, einschliesslich der Gerichte (vgl. Botschaft vom 6. Juli 2011 zum Erlass eines Steueramtshilfegesetzes, BBl 2011 S. 6205). Das Gesetz konkretisiert das Beschleunigungsgebot an verschiedener Stelle, indem es etwa Gerichtsferien ausschliesst (Art. 5 Abs. 2 StAhiG), bloss einen einmaligen Schriftenwechsel vorsieht (Art. 19 Abs. 4 StAhiG), die Beschwerdefrist vor Bundesgericht auf zehn Tage verkürzt (Art. 100 Abs. 2 lit. b BGG) und dem Bundesgericht vorschreibt, Nichteintretensentscheide innert 15 Tagen zu fällen (Art. 107 Abs. 3 BGG; vgl. BGE 142 II 218 E. 2.5.1 S. 224).

3.3. Art. 4 Abs. 2 StAhiG bringt für das Amtshilfeverfahren zum Ausdruck, dass das Beschleunigungsgebot in diesem Gebiet aufgrund der auf dem Spiel stehenden Interessen von besonderer Bedeutung ist. Die Verfahrensbeschleunigung dient im Kontext der internationalen Amtshilfe nicht den Interessen der vom Ersuchen betroffenen Personen, sondern dem Interesse der Schweiz an einem ordentlichen Funktionieren der Amtshilfe (BGE 142 II 218 E. 2.5.1 S. 224 mit Hinweis auf Charlotte Schoder, StAhiG, Praxiskommentar zum Bundesgesetz über die internationale Amtshilfe in Steuersachen [Steueramtshilfegesetz, StAhiG], 2014, N. 43 zu Art. 4 StAhiG).

3.4. Sistiert die ESTV oder ein Gericht ein Amtshilfeverfahren, droht eine Beeinträchtigung des Beschleunigungsgebots. Unnötige Verzögerungen des Amtshilfeverfahrens verletzen nicht nur das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG, sondern laufen auch den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz zu einem wirksamen Informationsaustausch zuwider, welche die Schweiz seit der Übernahme des internationalen Standards von Art. 26 des Musterabkommens der OECD (OECD-MA) gegenüber ihren Vertragspartnern eingegangen ist (vgl. im Verhältnis zu den Niederlanden Art. 26 Abs. 1 DBA CH-NL und Ziff. XVI lit. c des Protokolls zum DBA CH-NL). Ohne eine feste Limite rechtlich verbindlich vorzugeben, wird davon ausgegangen, dass Amtshilfeverfahren binnen 90 Tagen durchgeführt werden (Michael Beusch/Ursula Spörri, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 333 zu Art. 26 OECD-MA); nur in Ausnahmefällen können die Umstände eine längere Verfahrensdauer rechtfertigen oder erfordern (Schoder, a.a.O., Art. 4 N 44). Als Behörde, welcher der Vollzug der Steueramtshilfe obliegt (vgl. Art. 2 Abs. 1 StAhiG), ist es an der ESTV, diese Vorgaben zu gewährleisten und das Amtshilfeverfahren in allen Phasen soweit als möglich zu beschleunigen, um die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen sicherzustellen. Sie und die Gerichte haben in aller Regel von der Sistierung von Amtshilfeverfahren abzusehen. In jedem Fall ausgeschlossen ist die Sistierung, wenn sie zu einer substanziellen Verlängerung des Amtshilfeverfahrens führt.

3.5. Die Sistierung eines Amtshilfeverfahrens kann demnach nur ganz ausnahmsweise zulässig sein und bedarf zwingender Gründe. Zu denken ist an die Konstellation, in der sich in einem Verfahren vor der Vorinstanz die gleiche entscheidwesentliche Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung stellt, die bereits in einer anderen Sache vor dem Bundesgericht hängig ist. Erforderlich ist dabei, dass sich beide Verfahren effektiv um die identische Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung drehen, sodass die Antwort des Bundesgerichts im ersten Verfahren das zweite Verfahren vor der Vorinstanz präjudiziert und die Übermittlung der ersuchten Informationen bestimmt. In diesem Fall öffnet die Vorinstanz mit einem Entscheid in der Sache den Parteien nämlich den Weg an das Bundesgericht, den ihnen Art. 84a BGG ansonsten versperrt hätte (vgl. Urteile 2C_598/2017 vom 29. März 2017 E. 1.3; 2C_988/2015 vom 29. März 2017 E. 1.1; 2C_527/2015 vom 3. Juni 2016 E. 1.2.2; 2C_289/2015 vom 5. April 2016 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 142 II 218, aber in: StR 71/2016 S. 710; 2C_216/2015 vom 8. November 2015 E. 1.3.2). In einer solchen (Ausnahme-) Konstellation verletzt die Sistierung das gesetzliche Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG ausnahmsweise nicht.

3.6. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Zwischenentscheid festgestellt, dass vor Bundesgericht zwei Verfahren hängig sind, in denen sich im Wesentlichen dieselbe Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung stellt. Die ESTV behauptet zwar, dass sich das vorliegende von jenen Verfahren massgeblich unterscheide. Sie unterlässt es aber, diese angeblichen Unterschiede zu substanziieren. Damit bleibt es für das Bundesgericht bei den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG). Folglich ist davon auszugehen, dass die Entscheide des Bundesgerichts in den bei ihm hängigen Verfahren die vorliegende Angelegenheit dergestalt präjudizieren werden, dass sich eine Sistierung rechtfertigt.

3.7. Die Sistierung des Verfahrens, welche die Vorinstanz vorgenommen hat, erweist sich nach dem Gesagten als mit dem Beschleunigungsgebot gemäss Art. 4 Abs. 2 StAhiG kompatibel. Der angefochtene Zwischenentscheid verletzt weder Bundes- noch Völkerrecht.

[Abweisung der Beschwerde.]