Urteil des Bundesgerichts 2C_177/2018 vom 22. August 2019

Substanziierungslast / Miteigentum

  • 20. Februar 2020
  • Bearbeitet durch: Monique Schnell Luchsinger
  • Beitragsart: Grundsatzurteil
  • Rechtsgebiete: Zoll
  • Zitiervorschlag: Monique Schnell Luchsinger, Urteil des Bundesgerichts 2C_177/2018 vom 22. August 2019, ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts 2C_177/2018 vom 22. August 2019 i.S. A. und B. AG gegen Oberzolldirektion. (Einfuhr von Pferden).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Aus der Untersuchungsmaxime und den Mitwirkungspflichten der Parteien können sich im Beschwerdeverfahren zumindest keine schärferen Anforderungen an die Substanziierung von Tatsachenbehauptungen ergeben, als sie nach der Verhandlungsmaxime im Zivilprozess gelten (E. 3.4).

Die Auslegung von Art. 30 Abs. 1 lit. a ZV ergibt, dass die vollständige Abgabebefreiung nicht zuzulassen ist, wenn sich die fragliche Ware nur zur Hälfte im (Mit-)Eigentum einer ausserhalb des Zollgebiets ansässigen Person befindet (E. 5.3.2 – 5.3.5).

En procédure de recours, la maxime inquisitoire et lobligation de coopérer des parties ne peuvent donner lieu à des exigences plus strictes concernant la précision des allégations de faits par rapport à ce qui est prévu en procédure civile où la maxime inquisitoire est applicable (consid. 5.4).

Linterprétation de lart. 30 al. 1 lit. a OD démontre que lexonération totale nest pas accordée si seulement la moitié des marchandises en cause est de la propriété (ou de la copropriété) dune personne établie hors du territoire douanier (consid. 5.3.2 à 5.3.5).

2.

Sachverhalt ^

A.  

A.________ betreibt in U.________/TG einen Pensions- und Handelsstall. Im Zusammenhang mit dem Betrieb dieses Stalles hat A.________ verschiedentlich den Import von Pferden aus dem Ausland durchgeführt oder veranlasst. 

Im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen A.________, welche aufgrund eines Verdachts auf Unregelmässigkeiten bei der Einfuhr der braunen Stute «C.________» in die Schweiz eröffnet worden war, kam die Zollkreisdirektion Schaffhausen (nachfolgend: die Zollkreisdirektion) zum Schluss, dass die Pferde «D.________», «E.________», «F.________» sowie die Ponystute «G.________» innerhalb der Ausserkontingentszollansatz-Phase (AKZA-Phase) unter Angabe unzutreffender Verwendungsangaben mit Carnet ATA (Admission Temporaire / Temporary Admission) ins Inland überführt worden seien. Sie seien erst nachträglich und in der (günstigeren) Kontingentszollansatz-Phase (KZA-Phase) definitiv zur Einfuhr abgefertigt worden. Für die definitive Abfertigung seien inhaltlich falsche Kaufverträge vorgelegt worden. Mit Schlussprotokoll vom 10. August 2015 legte die Zollkreisdirektion A.________ zur Last, mit dem erwähnten Vorgehen im Zusammenhang mit den am 21. Oktober 2010 («D.________»), 30. Oktober 2012 («C.________»), 30. Oktober 2013 («G.________») und 6. Dezember 2013 («E.________» und «F.________») erfolgten Einfuhren mit Carnet ATA Widerhandlungen gegen das Zollgesetz vom 18. März 2005 (ZG; SR 631.0) und das Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (MWSTG; SR 641.20) begangen zu haben. 

Ebenfalls am 10. August 2015 erliess die Zollkreisdirektion gestützt auf Art. 12 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0) zwei Nachforderungsverfügungen, mit welchen sie A.________ und die B.________ AG für den Betrag von Fr. 19’666.80 (Zoll von Fr. 18’570.–, Einfuhrsteuer von Fr. 425.65 und Verzugszins von Fr. 671.15) für solidarisch leistungspflichtig erklärte. Gemäss der Zollkreisdirektion entsprach dieser Betrag der Differenz zwischen den Abgaben gemäss nachträglich vorgenommener Abrechnung zum günstigeren Kontingentszollansatz und jenen, die sich ergeben hätten, wenn bei den Einfuhren von «D.________» (eingeführt am 21. Oktober 2010), «E.________» und «F.________» (eingeführt am 6. Dezember 2013) sowie von «H.________» und «I.________», die zunächst zusammen mit «C.________» am 30. Oktober 2012 und laut Zollanmeldung zum Zwecke der Ausbildung eingeführt worden waren, zum Ausserkontingentszollansatz abgerechnet worden wäre. Ausserdem wurde A.________ im Zusammenhang mit der Einfuhr der Ponystute «G.________» zur Nachleistung von Fr. 2’260.40 verpflichtet. 

 

B.  

Mit gemeinsamer Eingabe vom 8. September 2015 führten A.________ und die B.________ AG gegen die Nachleistungsverfügungen Beschwerde bei der Oberzolldirektion (OZD). Diese hiess die Beschwerde von A.________ mit Entscheid vom 4. November 2016 teilweise gut, soweit sie die Einfuhr der Ponystute «G.________» und die A.________ dafür auferlegten Abgaben betraf. Im Übrigen wies sie die Beschwerden von A.________ und der B.________ AG ab. 

Hiergegen führten A.________ und die B.________ AG separat Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses vereinigte die Verfahren und wies die Beschwerden mit Urteil vom 16. Januar 2018 ab. 

 

C.  

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 19. Februar 2018 beantragen die Beschwerdeführer Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts und Aufhebung der Nachforderungsverfügungen (recte: der Beschwerdeentscheide) der OZD vom 4. November 2016. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuweisen. 

Das Bundesverwaltungsgericht und die OZD haben sich vernehmen lassen und beantragen Abweisung der Beschwerde. 

3.

Aus den Erwägungen ^

[…]

3.4. Das Bundesgericht hatte bislang keine Veranlassung, den Umfang der Behauptungs- bzw. Substanziierungslast im verwaltungsrechtlichen Beschwerdeverfahren exakt abzustecken. Klar ist aber jedenfalls, dass die Untersuchungsmaxime die Behauptungs- bzw. Substanziierungslast der Parteien abschwächt (vgl. Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. 1983, S. 210). Folglich können sich aus der Untersuchungsmaxime nach Art. 12 VwVG und den Mitwirkungspflichten der Parteien (Art. 13 VwVG und Art. 5 Abs. 3 BV) im Beschwerdeverfahren vor der Vorinstanz zumindest keine schärferen Anforderungen an die Substanziierung von Tatsachenbehauptungen ergeben, als sie nach der Verhandlungsmaxime im Zivilprozess gelten. Dort sind Tatsachen jeweils so substanziiert zu behaupten, dass sie einerseits von der Gegenseite substanziiert bestritten werden können und andererseits das Gericht Beweis darüber abnehmen kann (BGE 144 III 519 E. 5.2.1.1 S. 522 f.; 144 III 67 E. 2.1 S. 69; 127 III 365 E. 2.b S. 368). Diese Schwelle ist erreicht, wenn die Tatsache in ihren wesentlichen Zügen oder Umrissen behauptet wird, sodass die Tatsachenbehauptung nicht sämtliche Einzelheiten zu enthalten braucht (BGE 136 III 322 E. 3.4.2 S. 327 f.). Die behauptende Partei muss ihre Vorbringen allerdings weiter und gegebenenfalls bis in die Einzelheiten substanziieren, wenn die Gegenseite die Tatsachenbehauptung substanziiert bestreitet (vgl. BGE 144 III 519 E. 5.2.1.1 S. 522 f.; 127 III 365 E. 2.b S. 368).  

[…]

5.3.2. Teilt sich eine ausserhalb des Zollgebiets ansässige Person das Eigentum an der betreffenden Ware hälftig mit einer im Zollgebiet ansässigen Person oder ist letztere an der Ware sachenrechtlich gar überwiegend berechtigt, lässt sich kaum sagen, dass sich die Ware im Eigentum der gebietsfremden Person befindet. Der Wortlaut von Art. 30 Abs. 1 lit. a ZV [Zollverordnung vom 1. November 2006, SR 631.01) deutet also eher darauf hin, dass die Ware zumindest überwiegend im Eigentum der gebietsfremden Person stehen muss.  

 

5.3.3. Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte von Art. 30 Abs. 1 lit. a ZV ist zu beachten, dass die Zollrechtsrevision von 2005 und insbesondere die Einführung des Verfahrens der vorübergehenden Verwendung – unter Ablösung der Freipassabfertigung – das schweizerische Zollrecht an jenes der Europäischen Union (EU) annähern sollte (vgl. Botschaft vom 15. Dezember 2003 über ein neues Zollgesetz, BBl 2004 S. 581 und 596). Es bietet sich demnach an, bei der Auslegung der Bestimmungen über das Verfahren der vorübergehenden Verwendung die entsprechenden Bestimmungen des Zollrechts der EU zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang relevant ist insbesondere Art. 567 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (DVO-ZK/EWG) (heute: Art. 223 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union). Diese Bestimmung setzte für die vollständige Abgabenbefreiung bei der Einfuhr von Tieren voraus, dass die Tiere «einer ausserhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft ansässigen Person gehören». Dadurch wurde Art. 3 lit. a der Anlage D des Übereinkommens vom 26. Juni 1990 über die vorübergehende Verwendung (Istanbuler Übereinkommen; SR 0.631.24) in das Recht der EU übernommen (Reginhard Henke, in: Peter Witte [Hrsg.], Zollkodex der Union, 7. Aufl. 2018, N. 2 zu Vorbemerkungen zu Art. 150 bis 253 UZK). Wie Art. 567 DVO-ZK/EWG verlangt auch das Istanbuler Übereinkommen, dass das Tier einer gebietsfremden Person «gehört» (Art. 3 lit. a der Anlage D des Istanbuler Übereinkommens; in den gem. Art. 34 des Istanbuler Übereinkommens massgebenden französischen und englischen Fassungen: «doivent appartenir à», «must be owned by»).  

 

5.3.4. Der Sinn und Zweck von Art. 30 Abs. 1 lit. a ZV besteht darin, die vollständige Abgabebefreiung für Sachverhalte auszuschliessen, welche die Wettbewerbsverhältnisse auf dem schweizerischen Binnenmarkt potentiell beeinträchtigen. Namentlich soll das Verfahren der vorübergehenden Verwendung nicht dazu missbraucht werden, im Zollinland mit zollfrei eingeführten Waren Wertschöpfung zu betreiben und so die inländische Produktion zu konkurrenzieren (Remo Arpagaus, Zollrecht, SBVR Bd. XII, 2. Aufl. 2007, S. 470 N. 844). Steht eine Ware lediglich zur Hälfte im Miteigentum einer zollgebietsfremden Person und wird sie im Zollinland verwendet, besteht eine erhebliche Gefahr, dass im Inland ansässige Miteigentümer aus dieser Verwendung einen Nutzen ziehen und so der Wettbewerb im Binnenmarkt verzerrt wird. Folglich entspricht es dem Sinn und Zweck von Art. 30 lit. a ZV, die vollständige Abgabebefreiung nicht zuzulassen, wenn sich die fragliche Ware nur zur Hälfte im (Mit-)Eigentum einer ausserhalb des Zollgebiets ansässigen Person befindet.  

 

5.3.5. Nichts anderes ergibt sich aus dem Istanbuler Übereinkommen. Sein Ziel und Zweck (vgl. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]) gebietet jedenfalls nicht, dass die Konventionsstaaten die vollständige Abgabenbefreiung über den Wortlaut von Art. 3 lit. a der Anlage D des Istanbuler Übereinkommens hinaus auch dann gewähren müssen, wenn die ausserhalb des Zollgebiets ansässige Person nur hälftiges Miteigentum am Tier hat. Damit kann offenbleiben, inwiefern das Istanbuler Übereinkommen im vorliegenden Fall überhaupt unmittelbar anwendbar (self-executing) ist und sich die Beschwerdeführer darauf berufen können (vgl. dazu Botschaft vom 13. Dezember 1993 betreffend das zollrechtliche Übereinkommen über die vorübergehende Verwendung, BBl 1994 II S. 12 f. [Istanbuler Übereinkommen ist self-executing]; tendenziell in diese Richtung auch Urteil 2C_1049/2011 vom 18. Juli 2012 E. 3.2, in: ASA 81 S. 509; 2A.230/2006 vom 9. Oktober 2006 E. 4.; 2A.514/2006 vom 29. Juli 2002 E. 2; a.M. Reginhard Henke, in: Peter Witte [Hrsg.], Zollkodex der Union, 7. Aufl. 2018, N. 2 zu Vorbemerkungen zu Art. 150 bis 253 UZK [Istanbuler Übereinkommen ist non-self-executing]).  

[…]

[Abweisung der Beschwerde.]