Jusletter Coronavirus-Blog

[Staatsrecht] Bernard & Husmann / Kritische Gedanken zur Coronapolitik jenseits des rechtskonservativen Mainstreams

Kritik an der Rechtspolitik während der Coronapandemie kam bisher kaum von links. Dabei obläge es linken und linksliberalen Jurist*innen die derzeitige Entwicklung wachsam zu begleiten.

Das hierzulande vorherrschende Schweigen linker und linksliberaler Jurist*innen zur Coronapolitik in den letzten fast zwei Jahren beunruhigt uns. Grund- und staatsrechtliche sowie rechtsstaatliche Bedenken zur Coronapolitik wurden bislang – anders als sonst üblich – zwar nicht ausschliesslich, aber doch primär von rechtsliberalen oder konservativen Kräften ins Feld geführt. Dabei zöge die Coronapolitik zahlreiche Fragen nach sich, die eine kritische Begleitung linker und linksliberaler Jurist*innen zwingend machen würde: In der Schweiz wurde das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ein Notrechtsregime ausgerufen. Dieses Notrecht führt geradezu zwangsläufig zu grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsatzthemen, die linke wie linksliberale Jurist*innen intensiv beschäftigen und zu öffentlichen Stellungsnahmen bewegen müssten. Denn in einem lange andauernden rechtlichen Ausnahmezustand setzen sich erfahrungsgemäss auf die Dauer immer die Stärkeren durch. Und dieser Mechanismus widerspricht linker oder linksliberaler Zielsetzung fundamental.

Exemplarisch: Bereits die Selbstentmachtung des Parlaments zu Beginn der Pandemie war staatsrechtlich verfehlt. Die Exekutive entschied innert Wochen weitreichende Massnahmen, welche die Politik über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte determinieren. Umfassende Demonstrations- und Versammlungsverbote, die Aussetzung des Arbeitsgesetzes für medizinisches Personal, die Aushebelung des Rechts auf Asyl durch ein generelles Einreiseverbot, die temporäre weitgehende Schliessung der Justiz oder der Erlass von dem Gesetz widersprechenden Strafbestimmungen durch die Exekutive sind rechtsstaatlich in hohem Masse problematisch und lassen sich nicht mit einem blossen Verweis auf einen Staatsnotstand rechtfertigen. Die Möglichkeiten der Zertifikatskontrolle am Arbeitsplatz im weitgehenden Ermessen der jeweiligen Arbeitgeber*innen und der nun vorhandene faktische Impfdruck mögen aus gesundheitspolitischen Erwägungen nachvollziehbar sein. Ob es indessen in einem liberalen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat legitim ist, wenn die Exekutive mit moralischen Untertönen spricht, mit Prämien liebäugelt, um Bürger*innen zum Impfen zu bewegen oder die Testalternative als kostenpflichtig erklärt, erscheint fraglich. Es liegt auf der Hand, dass daraus gesellschaftliche Spaltungstendenzen resultieren, weil sich Impfskeptiker*innen an den Rand gedrängt fühlen. Das Vorgehen widerspricht deshalb auch der politischen Klugheit. Die derzeit wechselseitige Beschuldigungs-, Angst- und Misstrauensstimmung vergiftet die demokratische Kultur gründlich und allenfalls nachhaltig. 

Auch bezüglich des zur Abstimmung stehenden Covid-Gesetzes müssten linke oder linksliberale Jurist*innen dezidiert und öffentlich ihre Meinung kundtun. Wenn ein Gesetz im formellen Sinne faktisch nahezu alle Kompetenzen an die Exekutive delegiert, läuft das der Gewaltenteilung und den verfassungsmässigen Bestimmungen über die Gesetzgebung markant zuwider. Diese Bedenken sind vertieft zu diskutieren, ungeachtet dessen, ob das Gesetz am Ende dennoch aus pragmatischen Gründen angenommen oder es wegen dieser Bedenken bzw. allenfalls auch derjenigen des Komitees um Sibylle Berg abgelehnt wird. 

Es wäre auch anders gegangen, wie der abgelehnte rechtsstaatlich und staatsrechtlich wohlkonturierte Minderheitsantrag der grünen Nationalrätin Porchet beweist: Sie wollte den Gebrauch des Covid-Zertifikats an klare Voraussetzungen und an einen eindeutigen Gesetzeswortlaut binden, damit die konkrete Ausgestaltung nicht der Exekutive überlassen wird. Die aufgeheizte Debatte um das Covid-Gesetz wäre weitgehend obsolet geworden, da die Ausgestaltung des Covid-Zertifikats grund- und staatsrechtlich markant entschärft und durch das Bundesparlament demokratisch legitimiert worden wäre. 

Es ist an der Zeit, dass linke und linksliberale Jurist*innen aus ihrer Schockstarre gerüttelt werden und auch bezüglich der Coronapolitik ihre Verantwortung dezidiert wahrnehmen, um einem kritischen Rechtsdiskurs jenseits der vorherrschenden Polemik zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu gehört nicht zuletzt auf globaler Ebene die Forderung nach einer verstärkten internationalen Regulierung von Forschung und Entwicklung in der Biotechnologie sowie die Thematisierung von Verteilfragen betreffend medizinische Güter und Know-how jenseits nationalstaatlich begrenzten Denkens.


Stephan Bernard, 46, ist Rechtsanwalt und Mediator in Zürich und Dr. Markus Husmann, 36, ist Rechtsanwalt in Luzern. Im Tätigkeitszentrum beider stehen die Strafverteidigung und Grundrechtsthemen.


Gepostet am 19. November 2021

Zitiervorschlag: Stephan Bernard / Markus Husmann, Kritische Gedanken zur Coronapolitik jenseits des rechtskonservativen Mainstreams, in: Jusletter Coronavirus-Blog 19. November 2021