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[Staatsrecht] Trajkova / Vorsorgeprinzip und Harmonisierung – Eine mögliche Gangart in der Covid-19-Pandemie

Vor der bevorstehenden Abstimmung möchte Trajkova aufzeigen, dass nun ein Gesamtüberblick wichtiger denn je ist. So können das Vorsorgeprinzip und eine freiwillige Harmonisierungsbereitschaft eine ehrliche Basis für die Bewältigung der Pandemie sein.

1. Fehlende Ausrichtungsdiskussion

Unlängst sind sie laut geworden: die Stimmen dieser Pandemie. Während über die Zulässigkeit der konkreten Massnahmen – gerade prominent die 3-G bzw. 2-G-Debatte – viel geschrieben wird, ist es bei der Frage der grundsätzlichen Ausrichtung der Bewältigung dieser Krise überraschend still. Gemeint ist nicht aktionsgebundenes Denken, sondern das Gesamtkonzept. Es steht ausser Frage, dass damit ein höchst komplexes und risikoreiches Diskussionsfeld thematisiert wird, das den Verantwortlichen ja geradezu hellseherische Fähigkeiten abverlangt. Naiv ist schliesslich die Vorstellung, es gäbe ein Patentrezept in Krisenzeiten, welches niedergeschrieben werden könnte. Dennoch: Ganzheitliche Ausrichtungsüberlegungen nicht anzusprechen, ist aus rechtsstaatlicher Sicht fatal.

Unbequem ist die Frage der Bewältigung unter anderem deshalb, weil sie überwiegend politischer denn rechtlicher Natur ist. Das Recht, allen voran die Verfassungsgrundsätze, liefert trotzdem mögliche Antworten dazu. Anstatt also die Unzulänglichkeiten der konkreten Massnahmen zu beleuchten, ist es an der Zeit, mindestens eine mögliche rechtliche Ausrichtung anzusprechen. Mit Ausrichtung gemeint ist, welches Fundament den jeweiligen Szenarien und damit auch der Bewältigungsstrategie zugrunde gelegt werden sollte.

2. Ehrliches Vorsorgeprinzip?

Eine mögliche Antwort ist das Vorsorgeprinzip: Viele Nachbarstaaten setzen die Karte auf das Vorsorgeprinzip, in dem Sinne, dass lieber prospektiv einschneidende Präventionsmassnahmen vollzogen werden, als retrospektiv überschiessende Notszenarien durchführen zu müssen. Verfassungsrechtlich betrachtet ist dieser konservative Ansatz nicht nur vertretbar, sondern auch erwünscht. Was dieses Vorgehen problematisch erscheinen lässt, ist der Umstand, dass solche Massnahmen prima vista als unverhältnismässig und ggf. auch rechtsungleich wahrgenommen werden. Es mag sein, dass rechtlich noch eine stringente Begründung möglich bleibt (vor allem bei der Rechtsgleichheit lässt sich argumentativ noch viel herausholen); breite Kreise der Bevölkerung wird diese Begründung aber kaum überzeugen.

Was in diesem Abstimmungskampf leider etwas verloren geht, ist der Gesamtüberblick: Gelöst von den einzelnen Massnahmen muss aufrichtig dargelegt werden, dass die Anwendung des Vorsorgeprinzips in Krisenzeiten nicht auf den gleichen Motiven gründet wie sonst üblich. Dem Vorsorgeprinzip ist nämlich in der Regel ein zeitlicher Spielraum inhärent. Betrieben wird Vorsorge, etwas Gutes zugunsten der (eher ferner liegenden) Zukunft. Was diese Krise aber auszeichnet, ist häufig eine gewisse Alternativlosigkeit aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit. Das soll nicht bedeuten, dass keine Optionen vorhanden wären, sondern, dass lediglich die Zeit fehlt, um sie gründlich zu eruieren.

Vorsorge in Zeiten der Pandemie bedeutet, unverhältnismässige Lösungen zu riskieren. Das mag stossend klingen, ist aber ehrlicher als die subtile Argumentation des Gegenteils. Die Graben sind schon zu gross, um mit schlecht begründeten Vorgehen überzeugen zu wollen. Vorteil des Vorsorgeprinzips ist eine gewisse diesem anhaftende Glaubwürdigkeit. Werden nämlich Massnahmen unter Berufung auf die Furcht vor der Alternativlosigkeit erlassen, gerät die Gegenseite in die aktive Position innovativ sein zu müssen. Dies ist um Einiges anspruchsvoller als passive Kritik auszuüben und kann im Ergebnis gewinnbringend sein.

3. Freiwillige Harmonisierung

Neben dem Vorsorgeprinzip ist ein weiterer Aspekt ausschlaggebend: der Gleichlauf der Massnahmen. Die Vorzüge des Föderalismus – unabhängig ob in Form der Laborfunktion oder dem geltenden Staatsverständnis – sind unbestritten und werden auch hier nicht in Abrede gestellt. Charakteristisch für diese Pandemie war aber bisher, dass sich der Föderalismus als Bremse präsentiert hat. Wiederum soll betont werden, dass damit nicht das System in grundsätzlicher Weise hinterfragt werden soll. Es geht vielmehr um die Frage, dass – gelöst von Kompetenzfragen – eine gewisse Harmonisierung unter den Kantonen den notwendigen zeitlichen Vorsprung ermöglichen könnte. Damit sind nicht Kompetenzverschiebungen zugunsten des Bundes gemeint. Im Mittelpunkt steht eine gewisse Harmonisierungswilligkeit als Bekenntnis der Solidarität zugunsten der Bevölkerung. Kantonale Unterschiede haben denn bisweilen mehr Unverständnis als Vorteile bewirkt. Will man freiwillig ähnliche Lösungen, dann lassen sich globale Probleme leichter in den Griff bekommen (vor allem mit einer einheitlichen gesetzlichen Grundlage). Denn Krankheiten machen nicht halt vor Kantonsgrenzen. Politisch wichtig ist in diesem Zusammenhang die Vermarktung: Es geht nicht darum Kompetenzverluste zu promovieren, sondern gemeinsam vorausschauend zu agieren.

4. Fazit

Das Vorsorgeprinzip und die freiwillige Harmonisierung zugunsten der Zeitnot – diese sind aus Sicht der Verfasserin zwei wesentliche Leitplanken bei der Ausrichtung der Bewältigung dieser Krise. Sie liefern keine abschliessenden Lösungen, legen aber eine gewisse Ehrlichkeit an den Tag. Bei der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz sollten also nicht allein die Zulässigkeit der darauf gestützten Massnahmen im Fokus stehen, sondern die Frage der vorhandenen Alternativen.


Renata Trajkova ist Rechtsanwältin, wissenschaftliche Assistentin, Mitarbeiterin am Zentrum für Stiftungsrecht sowie Doktorats-Stipendiatin an der Universität Zürich.