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[Familienrecht] Ivanovic / Coronavirus SARS-CoV-2: Klärung von obhuts- und besuchsrechtlichen Fragen

Die derzeit geltende ausserordentliche Lage ist für viele Familien mit grossen Herausforderungen verbunden. Die rasche Reorganisation des Alltags hat zu zahlreichen Fragen rund um die Weitergeltung bzw. Abänderbarkeit der aktuellen Besuchs- und Betreuungsregelung von Kindern getrennt lebender Eltern geführt. Die Autorin befasst sich im Blog mit den derzeit am häufigsten anzutreffenden, viele Familien betreffenden Veränderungen und analysiert, ob diese eine Abänderung der geltenden Besuchs- und Betreuungsregelung zu rechtfertigen vermögen.
 

1. Einleitung

Seit dem 16. März 2020 herrscht in der Schweiz aufgrund der weltweit rasanten Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) die «ausserordentliche Lage».1 Aufgrund dieser ist der Bundesrat befugt, für alle Kantone oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen, insbesondere generell-abstrakte Normen, zu erlassen. Davon hat er mit der Verordnung vom 16. März erstmals Gebrauch gemacht,2 wobei schon davor aufgrund der damaligen Einstufung der Situation als «besondere Lage»3 Verordnungen erlassen worden sind.4 Darauf folgten diverse weitere Verordnungen.5 Diese haben innert kürzester Zeit verschiedenste Änderungen erfahren.6 Weitere Modifikationen wurden bereits angekündigt.7 Angesichts dieser rasanten Entwicklung und der mit ihr einhergehenden Rechtsunsicherheit verwundert es nicht, dass sich in verschiedensten Rechtsgebieten diverse Fragen stellen, so auch im Familienrecht.

Familien und ihre Mitglieder sind tagtäglich auf gegenseitige Unterstützung8 und Fürsorge, aber auch auf funktionierende staatliche Institutionen, wie z.B. Kindergärten, Schulen, etc. angewiesen. Vor diesem Hintergrund sind sie besonders betroffen durch das derzeit geltende Verbot von Präsenzveranstaltungen an Schulen und Ausbildungsstätten,9 von der Empfehlung, zuhause zu bleiben10 und persönlichen Kontakt mit besonders gefährdeten Personen, oftmals Grosseltern, zu vermeiden,11 aber auch von den angeordneten Ein- und Ausreisebeschränkungen für Personen aus Risikoländern.12 Eine vorübergehende Reorganisation des Familienlebens ist daher unabdingbar geworden. Damit zusammenhängende alltägliche Probleme weisen häufig auch eine rechtliche Komponente auf.

Beispielsweise sind aktuell viele Eltern aufgrund des eingeschränkten Personenverkehrs zwischen der Schweiz und den Nachbarländern nicht im Stande, persönlichen Kontakt mit den nicht in ihrer (alleinigen) Obhut stehenden Kindern zu haben. Ungewiss ist in diesen Fällen, ob der Elter, der seine Betreuungsanteile oder Besuchsrechte vorübergehend nicht wie gewohnt wahrnehmen kann, Anspruch auf Kompensation der persönlichen Kontakte mit dem Kind hat. Haben beide Elternteile Wohnsitz in der Schweiz, stellt sich demgegenüber die Frage, ob die vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Betreuungs- oder Besuchsregelungen während der Geltungsdauer der erwähnten Massnahmen bzw. solange empfohlen wird, soziale Kontakte auf ein Minimum zu beschränken, zu sistieren oder anderweitig an die besonderen Gegebenheiten anzupassen sind.13

Da diese äusserst praxisrelevanten Fragen in der Lehre bisher noch nicht im Detail beleuchtet wurden,14 versucht die Autorin mit dem vorliegenden Blogeintrag, Licht ins Dunkel zu bringen. Im Jusletter vom 18. Mai 2020 wird auf weitere im Kontext mit der «ausserordentlichen Lage» relevante Fragestellungen, insbesondere auf die Rechtsfolgen bei der Nichteinhaltung der nachfolgend darzulegenden Grundsätze sowie die Abänderbarkeit von Unterhaltsbeiträgen, eingegangen.

2. Praktische Fragen

2.1. Alternierende Obhut und persönlicher Verkehr bei Wohnsitz der Eltern in verschiedenen Staaten

Eine Vielzahl von in Grenzgebieten lebenden Familien steht derzeit vor dem Problem, dass derjenige Elternteil, der z.B. in Österreich15 lebt und weder über einen gültigen Aufenthaltstitel in der Schweiz verfügt noch die Schweizer Staatsbürgerschaft inne hat, die hierzulande lebenden Kinder für die Dauer des eingeschränkten Personenverkehrs nicht wie bisher persönlich besuchen oder betreuen kann.16 Unabhängig davon, ob es sich dabei um nicht wahrnehmbare Wochenendaufenthalte oder um Betreuungsanteile im Fall von alternierender Obhut handelt,17 stellt sich die Frage, ob die «ausserordentliche Lage» und die gestützt darauf verordneten Massnahmen eine Abänderung der aktuellen Besuchs- oder Betreuungsregelung zu rechtfertigen vermögen.

Für die Antwort auf diese Frage ist das Kindeswohl entscheidend.18 Wenn die Beibehaltung der aktuellen, vorübergehend nicht realisierbaren Regelung mit einer Kindeswohlgefährdung verbunden wäre und sie dem Kind mehr schadet als der mit der Abänderung einhergehende Kontinuitätsverlust, kann sich eine Modifikation aufdrängen.19 Das geistige Wohl eines Kindes kann unter Berücksichtigung seines Alters und der gesamten Lebensumstände derzeit durchaus gefährdet sein, wenn der persönliche Kontakt zum anderen Elternteil aufgrund behördlicher Massnahmen verunmöglicht wird.20 Dennoch dürfen die Folgen einer langfristigen Abänderung der aktuellen Regelung für das Kind, insbesondere der damit einhergehende Kontinuitätsverlust, nicht unterschätzt werden. Hinzu kommt, dass die geltenden Massnahmen nicht dauerhafter Natur sind. Sobald Grenzübertritte wieder weniger eingeschränkt oder uneingeschränkt möglich sind, kann die bisherige Besuchs- und Betreuungsregelung nach Ablauf einer vor allem für Kleinkinder notwendigen Angewöhnungszeit21 weitergeführt werden. Folglich werden m.E. die für ein Abänderungsverfahren notwendigen Voraussetzungen allein aufgrund des eingeschränkten Personenverkehrs zwischen der Schweiz und ihren Nachbarstaaten und des damit zusammenhängenden, vorübergehenden Ausfalls der Besuchs- und Betreuungstage zwischen einem Elternteil und dem Kind nicht gegeben sein. Stattdessen rechtfertigt sich in diesen Situationen eher ein «verständiges Improvisieren»,22 indem z.B. vermehrt auf alternative Kontaktformen wie Skype, Face-Time, E-Mail, Whats-App, etc. zurückgegriffen wird.23 Auf diese Art kann der im Ausland lebende Elternteil weiterhin für das Kind da sein. Eine streitige Auseinandersetzung der Eltern vor der KESB oder dem Gericht, die womöglich länger dauern würde als der grenzüberschreitende Personenverkehr eingeschränkt ist, macht schon aus Zeitgründen wenig Sinn. Ferner würde dies das Kind, welches sich ohnehin schon in einer belastenden Situation befindet, zusätzlich herausfordern.

Obwohl dem Vorstehenden zufolge die direkte Kommunikation zwischen dem im Ausland lebenden Elternteil und hierzulande ansässigen Kind weiterhin möglich bleibt, lässt sich damit der direkte persönliche Kontakt nicht ersetzen. Nichtsdestotrotz handelt es sich sowohl beim direkten persönlichen Kontakt als auch beim Kontakt via Skype, etc. um Formen des persönlichen Verkehrs.24 Folglich könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Besuchs- oder Betreuungstage25 nicht ausgefallen sind, wenn während der Dauer des eingeschränkten Personenverkehrs auf alternative Kommunikationsformen ausgewichen wurde.26 M.E. muss man sich jedoch an der zuvor gelebten Besuchs- und Betreuungsregelung orientieren, um beurteilen zu können, welche Formen und welche Dauer der Kontaktausgestaltung zwischen Eltern und Kind im Einzelfall als «angemessen» gelten.27 In den wenigsten Fällen wird sich der Kontakt zuvor auf alternative Kommunikationsformen beschränkt haben, sondern vielmehr in einer Kombination verschiedener Formen bestanden haben, weshalb die Frage nach Ersatzbesuchen bzw. Ersatzbetreuungstagen aufkommen kann. Dabei gilt es zu beachten, dass Telefon- und Videokontakte mit Teenagern unter Umständen den Kontakt und den Austausch mit einem Elternteil in ähnlicher Weise zu gewährleisten vermögen. Dagegen kann durch Telefonate oder Videoanrufe der persönliche Kontakt zu jüngeren oder ganz kleinen Kindern (Spielen, Vorlesen, Kuscheln, füttern/essen, ins Bett bringen, etc.) viel weniger gut ersetzt werden. Nichtsdestotrotz müssen die ausgefallenen Besuchswochenenden oder Betreuungstage nach dem Lockdown unabhängig vom Alter des Kindes grundsätzlich nicht kompensiert werden, zumal der zwischenzeitlich alleinbetreuende Elternteil den Ausfall nicht verursacht hat.28 Dessen ungeachtet steht es den Eltern frei, sich ohne behördliche Beteiligung, im gegenseitigen Einvernehmen über einen angemessen Ausgleich zu einigen. Vielfach wird das Gericht oder werden die Eltern selbst eine Ausfallregelung bereits im Eheschutz oder im Scheidungsverfahren festgelegt haben. Sollte darin eine Kompensation von Besuchs- oder Betreuungstagen vorgesehen sein, ist dieser Vereinbarung Folge zu leisten, solange damit die geltende Regelung nicht de facto indirekt abgeändert wird.29

2.2. Alternierende Obhut und persönlicher Verkehr bei Wohnsitz beider Elternteile in der Schweiz

Im Gegensatz zu internationalen Sachverhalten ist die Beibehaltung der vereinbarten oder gerichtlich festgelegten Betreuungs- bzw. Besuchsrechtsregelung zwischen im Inland lebenden Elternteilen und Kindern i.d.R. nach wie vor möglich. Da die COVID-19-Verordnung 2 den Kontakt zwischen besuchs- oder alternierend betreuenden Eltern und Kindern nicht verbietet, kann der bisherigen Regelung weiterhin Nachachtung verschafft werden, sofern dabei die Hygienevorgaben eingehalten werden.30 Dass der Bundesrat diesbezüglich keine generellen Einschränkungen vorgeschrieben hat,31 ist zu befürworten, zumal für Kinder gerade in Ausnahmesituationen wie der vorliegenden der Kontakt zu beiden Elternteilen von enormer Bedeutung ist.32 Der Besuch beim anderen Elternteil kann eine willkommene Abwechslung im eintönig gewordenen Alltag (ohne Schule, Freunde und Hobbies) sein. Vor diesem Hintergrund kann es vorübergehend sogar Sinn machen, das Besuchsrecht des nicht obhutsberechtigten Elternteils im gegenseitigen Einvernehmen auszuweiten, sofern dieser derzeit aufgrund von Kurzarbeit beruflich weniger eingespannt ist und mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufbringen kann und will. Eine generelle, auf Dauer gerichtete Abänderung der Betreuungs- oder Besuchsregelung kommt jedoch mangels ausreichend veränderter Verhältnisse in der Regel nicht in Frage. Fälle, in denen ein Elternteil aufgrund der Corona-Krise dauerhaft arbeitslos wird oder sein Arbeitspensum massgeblich reduziert, bleiben vorbehalten. In diesen Situationen würde sich die ehemalige Prognose betreffend die Erwerbstätigkeit eines Elternteils und die damit zusammenhängende zeitliche Verfügbarkeit für die Kinderbetreuung nicht bewahrheiten, weshalb ein Abänderungsgrund gegeben sein kann.33 Von diesen Fällen abgesehen gilt es jedoch lediglich vereinzelte Anpassungen an den Besuchs- und Betreuungsmodalitäten vorzunehmen, damit die geltende Regelung nach wie vor gelebt werden kann, indem beispielsweise die Anreise der Kinder während der Dauer der bundesrätlichen Massnahmen nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgt und der Kontakt mit weiteren Personen als dem besuchs-/betreuungsberechtigen Elternteil so gut wie möglich vermieden wird.34

Indes können Gründe gegeben sein, die das vorübergehende Aussetzen bzw. einseitige Abweichen von Besuchs- und Betreuungsregelungen aus Sicht des Kindeswohls notwendig erscheinen lassen.35 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Kind positiv auf das Virus getestet wurde oder sich aufgrund von eindeutigen Symptomen in Selbstquarantäne befindet.36 Dasselbe muss gelten, wenn das auf den besuchs- bzw. den anderen betreuungsberechtigten Elternteil oder mit ihm zusammenwohnenden Personen zutrifft. Das Kind einer akuten Ansteckungsgefahr auszusetzen, liegt nicht im Kindeswohl.37 Während dieser Zeit ist wiederum auf alternative Kommunikationsformen zurückzugreifen, sodass der Kontakt zwischen dem betroffenen Elternteil und dem Kind soweit es geht weiterhin aufrechterhalten werden kann.38 Eine Kompensation der ausgefallenen Besuchs- und Betreuungstage ist in diesen Fällen grundsätzlich ebenfalls nicht vorgesehen.39 Eine anderslautende einvernehmliche Vereinbarung oder Regelung im Eheschutz- bzw. Scheidungsurteil bleibt natürlich vorbehalten.

Weist der besuchs- oder der betreuungsberechtigte Elternteil (oder eine andere, im gleichen Haushalt lebende Person) leichte Erkältungssymptome o.dgl. auf, ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Das Interesse, das Kind vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen, ist dem Interesse des anderen Elternteils auf persönlichen Verkehr bzw. Betreuung des Kindes gegenüberzustellen. Können sich die Eltern nicht über die Gewichtung dieser Interessen einigen, rechtfertigt sich im Zweifelsfall ein kurzfristiges Aussetzen des Besuchs- oder Betreuungsrechts des erkrankten Elternteils. Nachdem die Symptome abgeklungen sind, ist die bisherige Regelung wie gewohnt fortzuführen. Es würde dem Kindeswohl widersprechen, wenn der persönliche Kontakt zum anderen Elternteil länger als notwendig ausgesetzt wird. Deshalb darf einem Elternteil nicht die Möglichkeit geboten werden, unter dem Vorwand der aktuellen Situation den persönlichen Kontakt zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil zu unterbinden, wenn dafür kein triftiger Grund vorliegt.40 Entsprechend vermag auch die blosse Befürchtung, dass sich der andere Elternteil nicht an die Hygienevorschriften hält, keine Aussetzung der bestehenden Besuchs- und Betreuungsregelung zu rechtfertigen.

Ist derjenige Elternteil erkrankt, unter dessen alleiniger Obhut das Kind steht oder der das Kind aktuell betreut, stellt sich die Frage, ob der andere Elternteil während dieser Zeit die Betreuung des Kindes übernehmen kann.41 Die Antwort darauf basiert wiederum auf dem Kindeswohl. Bei verheirateten Eltern spielt in diesem Kontext ferner die eheliche Beistandspflicht eine Rolle. 42 Um das Kind keiner akuten Ansteckungsgefahr auszusetzen, ist eine vorübergehende Betreuung durch den anderen Elternteil vor allem bei Kleinkindern zu befürworten,43 zumal die Abstandsvorschriften bei ihrer Pflege und Betreuung kaum eingehalten werden können. Ist ein Elternteil aufgrund eines schweren Krankheitsverlaufs nicht mehr in der Lage, sich ausreichend um das Kind zu kümmern, kann eine temporäre Betreuung durch den anderen Elternteil auch bei älteren Kindern Sinn machen. Letztere stehen derzeit vor neuen Herausforderungen, wie z.B. dem Home-Schooling, und sind deshalb unter Umständen mehr denn je auf die Unterstützung ihrer Eltern oder zumindest eines Elternteils angewiesen.

Eine vorübergehende Mehrbetreuung durch den anderen Elternteil kann auch notwendig werden, wenn die hauptbetreuende Person derzeit aufgrund der Corona-Pandemie einer erheblich erhöhten Arbeitsbelastung ausgesetzt ist. Gleich verhält es sich, wenn ein Elternteil Corona-bedingt mit neuen Arbeitszeiten konfrontiert ist (z.B. bei Umstellung der Schichten beim Pflegepersonal) und sich deshalb nicht ausreichend um das Kind kümmern kann. In diesen Fällen rechtfertigen sowohl das Kindeswohl als auch die eheliche Beistandspflicht bei noch verheirateten Eltern die vorübergehende Übernahme eines grösseren Anteils der Kinderbetreuung. Sind beide Eltern beruflich derart eingespannt, so dass die notwendige Betreuung des Kindes nicht durch temporäre Reorganisation des Familienlebens sichergestellt werden kann, stehen dafür kantonale Betreuungsangebote zur Verfügung.44

Unklarheiten in Bezug auf die Besuchs- und Betreuungsregelung können auch aufkommen, wenn ein Elternteil zur Risikogruppe gehört.45 Die Weiterführung der bisher gelebten Regelung erscheint vor allem bei Kleinkindern, die abgesehen von den Eltern und Geschwistern keine weiteren sozialen Kontakte pflegen und noch nicht alleine draussen mit weiteren Kindern spielen können, unproblematisch. Bei älteren Kindern ist in Absprache mit diesen und dem anderen Elternteil zu entscheiden, ob eine Reorganisation der Betreuungsregelung Sinn macht. Letzteres wird in Fällen, in denen dem Elternteil, der Risikopatient ist, die alleinige Obhut über das Kind zukommt, angesichts des damit einhergehenden Kontinuitätsverlustes i.d.R. nicht der Fall sein. Auch wenn die Kinder alternierend betreut werden, wird es eher dem Kindeswohl entsprechen, es für die Problematik und das Risiko zu sensibilisieren, damit das Kind versteht, weshalb es soziale Kontakte zu anderen Kindern und weiteren Personen so gut es geht vermeiden und die Hygienevorschriften einhalten muss. Das Ende der Corona-Pandemie ist nämlich noch nicht absehbar. Eine zweite Infektionswelle lässt sich nicht ausschliessen. Der betroffene Elternteil bleibt damit – neue, anderslautende Studien vorbehalten – auf unbestimmte Zeit Risikopatient. Den persönlichen Kontakt zwischen Kind und einem Elternteil für einen unbestimmten Zeitraum vollumfänglich zu sistieren, erscheint jedoch nicht verhältnismässig. Im Zweifelsfall ist m.E. deshalb die bisherige Besuchs- und Betreuungsregelung weiterzuführen.

2.3 Besuchs- und Betreuungsregelung bei Kindern in Heimen oder bei begleitetem Besuchsrecht

Die Kantone sind nach wie vor für den Betrieb von sozialen Einrichtungen zuständig.46 Daher obliegt es ihnen, allfällige einschränkende Bestimmungen zu erlassen. Im Kanton Zürich wurde z.B. bis dato kein generelles Besuchsverbot erlassen. Indes wurde empfohlen, die Besuche von externen Personen auf ein Minimum einzuschränken. Somit steht es im Ermessen der einzelnen Institution, weitergehende Besuchsverbote auszusprechen.47 Wird davon Gebrauch gemacht, müssen sich die Eltern daran halten,48 auch wenn das Besuchsrecht weder vom Gericht noch von der KESB eingeschränkt worden ist. Der Schutz der Kinder, Jugendlichen und des Heimpersonals geht derzeit vor,49 weshalb auf die oben erwähnten alternativen Formen des persönlichen Verkehrs auszuweichen ist.

Wurde aufgrund einer bestehenden Kindeswohlgefährdung ein begleitetes Besuchsrecht angeordnet, so kann dieses nach wie vor wahrgenommen werden, sofern und solange entsprechende Einrichtungen ihr Angebot weiterhin aufrechterhalten. Soziale Einrichtungen sind vom bundesrätlichen Schliessungsgebot nämlich nicht erfasst.50 Sollte eine Einrichtung derzeit trotzdem geschlossen sein, ist wiederum auf alternative Kontaktformen auszuweichen. Denkbar ist auch, dass die Eltern einvernehmlich eine andere Institution vereinbaren, in welcher die Besuche weiterhin begleitet durchgeführt werden können.51

3. Fazit

Die Massnahmen des Bundesrates können diverse Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Besuchs- und Betreuungsregelung von Kindern getrenntlebender Eltern haben. Dessen ungeachtet ist die geltende Besuchs- und Betreuungsregelung, wenn immer möglich, aufrecht zu erhalten. Eine generelle Abänderung der Obhutszuteilung oder der Regelung des persönlichen Verkehrs kommt daher unter Beachtung des Kindeswohls nicht in Frage. Stattdessen sind kleinere Anpassungen an den Modalitäten der Besuchs- und Betreuungsausgestaltung vorzunehmen, um weder das Kind noch die Eltern einer unnötigen Ansteckungsgefahr auszusetzen. Fallen Besuchs- oder Betreuungstage aufgrund der Erkrankung des Kindes, eines Elternteils oder aufgrund von Grenzschliessungen trotzdem vorübergehend aus, ist prinzipiell auf alternative Kommunikationsformen auszuweichen, um dem Kind die Aufrechterhaltung des Kontakts mit dem anderen Elternteil zu ermöglichen. In ausserordentlichen Situationen wie der vorliegenden sind Kinder auf die Unterstützung und Fürsorge beider Elternteile mehr denn je angewiesen. Die Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft beider Eltern ist deshalb aktuell von grösster Bedeutung, weshalb es wünschenswert wäre, dass sie derzeit in Bezug auf die Kinderbelange an einem Strang ziehen. Werden in diesem Kontext entstandene Streitigkeiten hingegen vor Gericht ausgetragen, bleibt die Lage auch nach Ablauf der Geltungsdauer der bundesrätlichen Massnahmen für gewisse Familien «ausserordentlich», was weder dem Kindeswohl entspricht noch in zeitlicher Hinsicht sinnvoll erscheint. Besonders bei Kleinkindern ist zu bedenken, dass bereits ein Kontaktabbruch von einigen Wochen erhebliche Folgen für die Beziehung zum besuchsberechtigten Elternteil haben kann und gleichzeitig alternative Formen des persönlichen Verkehrs das Besuchsrecht nicht vollständig ersetzen können.

Tanja Ivanovic, MLaw, Rechtsanwältin und Notarin, Wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern

  1. 1Art. 7 EpG.
  2. 2AS 2020 783.
  3. 3Art. 6 EpG.
  4. 4AS 2020 573.
  5. 5Statt vieler AS 2020 839; AS 2020 841; AS 2020 847; AS 2020 1063; AS 2020 1075.
  6. 6Allein die COVID-19-Verordnung 2 ist mittlerweile in 13 Fassungen verfügbar.
  7. 7Medienmitteilung des Bundesrats vom 16. April 2020, https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-78818.html (besucht am 22. April 2020).
  8. 8Vgl. Hausheer Heinz/Geiser Thomas/Aebi-Müller Regina E., Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 6. Aufl., Bern 2018, § 1 Rz. 01.11.
  9. 9Art. 5 Abs. 1 COVID-19-Verodnung 2 in ihrer Fassung vom 27. April 2020 (AS 2020 773).
  10. 10Zu den Empfehlungen des BAG, https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/so-schuetzen-wir-uns.html (besucht am 21. April 2020).
  11. 11Alle Personen ab 65 Jahren sowie Personen mit gewissen Vorerkrankungen gelten als besonders gefährdet, https://www.bag. admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/besonders-gefaehrdete-menschen.html (besucht am 22. April 2020).
  12. 12Art. 2 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 3 COVID-19-Verordnung 2 in ihrer Fassung vom 27. April 2020 (AS 202 773); zur Auflistung der einzelnen Risikoländer und Regionen Anhang 1 der zitierten Verordnung.
  13. 13Vgl. Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES), Empfehlungen zur Besuchsrechts-Ausübung während der Corona-Massnahmen des Bundes vom 3. April 2020, S. 2.
  14. 14Hierzulande wurden die Auswirkungen des Corona-Virus auf das Besuchsrecht soweit ersichtlich nur in einem Blog-Eintrag der Studer Anwälte AG vom 25. März 2020 diskutiert, Studer Anwälte, Corona-Virus: Kinder und Besuchsrecht geschiedener Eltern?, https://www.studer-anwaelte.ch/modx/wissen/corona-besuchsrecht.html (besucht am 23. April 2020).
  15. 15Siehe dazu die Reisehinweise des EDA, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/oesterreich/reisehinweise-oesterreich.html (besucht am 22. April 2020).
  16. 16Sachverhalte mit im Ausland lebenden Kindern werden in diesem Beitrag nicht beleuchtet, zumal sich die Zuständigkeit und das auf diese Fälle anwendbare Recht nach dem IPR des Staates, in dem das Kind seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, richten. Haben die Kinder Wohnsitz in der Schweiz, so unterstehen die Beziehungen zwischen Eltern und Kind demgegenüber schweizerischem Recht (Art. 82 IPRG).
  17. 17Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen persönlichem Verkehr und Betreuungsanteil Büchler, in: Schwenzer Ingeborg/Fankhauser Roland (Hrsg.), FamKomm Scheidung, Band I: ZGB, 3. Aufl., Basel/Bern 2017, Art. 273 N 4 m.w.H.
  18. 18Statt vieler BGE 125 III 401 E. 2b/dd; Fountoulakis/Breitschmid, in: Geiser Thomas/Fountoulakis Christiana (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1-456 ZGB, 6. Aufl., Basel 2018, Art. 134 N 3; Hegnauer, in: Hausheer Heinz (Hrsg.): Berner Kommentar, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Die Gemeinschaft der Eltern und Kinder, Kommentar zu Art. 270-275 (mit Supplement), Die Unterhaltspflicht der Eltern, Kommentar zu Art. 276-295 ZGB, Band/Nr. II/2/1, Bern 1997, Art. 274 N 121 m.w.H.
  19. 19BGer 5A_266/2017 vom 29. November 2017 E. 8.3; 5A_468/2017 vom 18. Dezember 2018 E. 9.1 m.w.H; BSK ZGB I-Fountoulakis/Breitschmid, Art. 139 N 3 m.w.H. (Fn. 18); BK ZGB-Hegnauer, Art. 273 N 121 m.w.H. (Fn. 18).
  20. 20BSK ZGB I-Breitschmid, Art. 307 N 18 ff. m.w.H. (Fn. 18).
  21. 21Unter Umständen ist darüber hinaus zuerst ein vorsichtiger Wiederaufbau der Beziehung mit dem Kleinkind nötig, bevor die vereinbarte Besuchs- und Betreuungsregelung vollumfänglich Wirkungen zeitigen kann.
  22. 22BSK ZGB I-Fountoulakis/Breitschmid, Art. 134 N 3a (Fn.18).
  23. 23Vgl. KOKES, S. 2 (Fn. 13).
  24. 24Kilde Gisela, Der persönliche Verkehr: Eltern-Kind-Dritte, Zivilrechtliche und interdisziplinäre Lösungsansätze, Zürich/Basel/Genf 2015 (=Diss. Freiburg 2015 = Arbeiten aus dem iuristischen Seminar der Universität Freiburg Schweiz), Rz. 305; BSK ZGB I-Schwenzer/Cottier, Art. 273 N 2 m.w.H. (Fn. 18).
  25. 25Zur analogen Anwendung der Regeln über den persönlichen Verkehr auf die Betreuungstage FamKomm Scheidung-Büchler, Art. 273 N 5 (Fn. 17).
  26. 26KOKES, S. 2 (Fn. 13).
  27. 27Vgl. BSK ZGB I-Schwenzer/Cottier, Art. 273 N 10 m.w.H. (Fn. 18); vgl. auch Michel/Schlatter, in: Büchler Andrea/Jakob Dominique (Hrsg.), Kurzkommentar ZGB, 2. Aufl., Basel 2018, Art. 273 N 9; Näheres zur Angemessenheit bei BK ZGB-Hegnauer, Art. 273 N 78 ff. (Fn. 18).
  28. 28BGer 5C.146/2001 vom 26. Oktober 2001 E. 2a; 5A_381/2010 vom 21. Juli 2010 E. 5.3; Kilde, Rz. 379 m.w.H (Fn. 24); FamKomm Scheidung-Büchler, Art. 273 N 32 m.w.H. (Fn. 17); BK ZGB-Hegnauer, Art. 273 N 130 ff. (Fn. 18).
  29. 29Kilde, Rz. 380 m.w.H. (Fn. 24); FamKomm Scheidung-Büchler, Art. 273 N 32 m.w.H (Fn. 17); man denke z.B. an ein Kind, welches wöchentlich alternierend betreut wird. Wenn diese Betreuungsregelung während zwei Monaten nicht gelebt werden kann, müsste das Kind zwecks Kompensierung der ausgefallenen Betreuungstage, die auf die Grenzöffnungen kommenden zwei Monate beim anderen Elternteil verbringen.
  30. 30Erläuterungen des BAG zur Verordnung 2 über die Bekämpfung des Coronavirus, Stand 28. April 2020, S. 16.
  31. 31Erläuterungen des BAG zur Verordnung 2 über die Bekämpfung des Coronavirus, Stand 28. April 2020, S. 16.
  32. 32KOKES, S. 1 (Fn. 13).
  33. 33BGer 5A_468/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 9.1. m.w.H.; BSK ZGB I-Fontoulakis/Breitschmid, Art. 134 N 3 m.w.H. (Fn. 18).
  34. 34KOKES, S. 1 (Fn. 13).
  35. 35BK ZGB-Hegnauer, Art. 273 N 128 f. (Fn. 18).
  36. 36Erläuterungen des BAG zur Verordnung 2 über die Bekämpfung des Coronavirus, Stand 28. April 2020, S. 16; KOKES, S. 2 (Fn. 13); siehe auch Blogeintrag Studer Rechtsanwälte (Fn. 14).
  37. 37Bei anderen ansteckenden Krankheiten, wie z.B. Tuberkulose, wurde das Besuchsrecht lediglich vorübergehend sistiert, siehe dazu OGer ZH, ZR 1965, Nr. 102; siehe auch Blogeintrag Studer Rechtsanwälte (Fn. 14).
  38. 38KOKES, S. 2 (Fn. 13).
  39. 39Kilde, Rz. 379 m.w.H. (Fn. 24).
  40. 40Zum Ganzen Blogeintrag Studer Rechtsanwälte (Fn. 14).
  41. 41KOKES, S. 2 (Fn. 13).
  42. 42Art. 159 Abs. 3 ZGB.
  43. 43KOKES, S. 2 (Fn. 13); vgl. Art. 2 Abs. 6 COVID-19-Verordnung Erwerbsausfall in ihrer Fassung vom 23. April 2020 (AS 2020 871).
  44. 44Art. 5 Abs. 3 COVID-19-Verordnung 2 in ihrer Fassung vom 27. April 2020 (AS 2020 773).
  45. 45KOKES, S. 2 (Fn. 13).
  46. 46Art. 1a Covid-19-Verodnung 2 in ihrer Fassung vom 27. April 2020 (AS 2020 773); KOKES, S. 3 (Fn. 13).
  47. 47Informationen für Kinder- und Jugendheime und Anbietende sozialpädagogischer Familienhilfe, https://bi.zh.ch/internet/bildungsdirektion/de/themen/coronavirus-informationen-fuer-die-schulen.html (besucht am 23. April 2020).
  48. 48BK ZGB-Hegnauer, Art. 274 N 41 (Fn. 18).
  49. 49KOKES, S. 3 (Fn. 13); Informationen für Kinder- und Jugendheime (Fn. 47).
  50. 50Art. 6 Abs. 3 lit. k COVID-19-Verordnung 2 in ihrer Fassung vom 27. April 2020 (AS 2020 773); KOKES, S. 3 (Fn 13).
  51. 51KOKES, S. 3 (Fn. 13).