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[Staatsrecht] Kettiger / Wann gilt ein Gesetzesentwurf im Sinne von Art. 7d Bst. b RVOG als abgelehnt

Der Entwurf des Bundesrats zu einem Covid-19-Gesetz verletzt Verfassungsrecht. Deshalb müsste eigentlich das Parlament verhindern, dass der Entwurf zum Gesetz wird. Es besteht aber die Angst, dass bei einer Ablehnung nach Art. 7d Abs. 2 Bst. d RVOG das bestehende Notverordnungsrecht dahinfällt und dass dies unabsehbare Auswirkungen für Gesellschaft und Wirtschaft hat. Dies kann man vermeiden, wenn das Parlament den Gesetzesentwurf an den Bundesrat zurückweist.

1. Die Fragestellung

1.1 Art. 7d RVOG

Gemäss Art. 185 Abs. 3 BV1 kann der Bundesrat direkt gestützt auf diese Verfassungsbestimmung gesetzesvertretende Notverordnungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Dieses Notverordnungsrecht muss befristet sein.2 Art. 7d Abs. 2 Bst. a RVOG3 besagt, dass die gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV erlassenen Notverordnungen «sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten» ausser Kraft treten, wenn der Bundesrat bis dahin der Bundesversammlung keinen Entwurf einer gesetzlichen Grundlage für den Inhalt der Verordnung, oder einer die Notverordnung ersetzenden Verordnung der Bundesversammlung unterbreitet.

Die Unterbreitung eines solchen Erlassentwurfs zu Handen des Parlaments lässt die vom Bundesrat erlassenen Notverordnungen während der parlamentarischen Beratung weiterhin in Kraft. Die Notverordnungen treten von Gesetzes wegen ausser Kraft, «wenn die gesetzliche Grundlage oder die sie ersetzende Verordnung der Bundesversammlung in Kraft tritt» (Art. 7 Abs. 2 Bst. c RVOG). Die Notverordnungen treten ebenfalls ausser Kraft, «nach der Ablehnung des Entwurfes durch die Bundesversammlung» (Art. 7 Abs. 2 Bst. b RVOG).

1.2 Der Entwurf zu einem Covid-19-Gesetz

Der Bundesrat hat vor allem mittels Notverordnungsrecht durch die Coronavirus-Krise geführt und dabei zahlreiche (man könnte fast sagen zahllose) Verordnungen gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV erlassen.4

Das befristete Notverordnungsrecht soll nun in ordentliches Recht überführt werden. Zu diesem Zweck verabschiedete der Bundesrat zu Handen des Parlaments am 12. August 2020 die Botschaft zum Covid-19-Gesetz samt eines Gesetzesentwurfs.5 Wie der Titel des Gesetzesentwurfs «Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie» besagt, besteht der Inhalt dieses Gesetzes nicht – wie üblich – aus rechtlichen Regelungen, welche das Parlament erlassen hat, sondern aus einer Aneinanderreihung von Delegationsnormen. Diese ermächtigen den Bundesrat, die bisher als Notrecht erlassenen Verordnungen weiterhin zu erlassen – nun allerdings als ordentliches Recht gestützt auf das Covid-19-Gesetz. Das Gesetz gilt bis zum 21. Dezember 2021, für die Massnahmen im Bereich der Arbeitslosenversicherung bis zum 31. Dezember 2022. In diesem Zeitraum kann der Bundesrat auf dem Verordnungsweg in zahlreichen Bereichen Regelungen erlassen, die von der ordentlichen Gesetzgebung abweichen. Damit wird faktisch die Notverordnungskompetenz des Bundesrats in Sachen Covid-19 zeitlich um ein bis zwei Jahre verlängert.

1.3 Zur Verfassungswidrigkeit des Entwurfs

Das Covid-19-Gesetz ist von seiner Konzeption her aus den folgenden Gründen verfassungs- und gesetzeswidrig:

  • Das schweizerische Staatsrecht kennt keine «Ermächtigungsgesetze». Bei der Überführung von Notverordnungsrecht in ordentliches Recht ist der materielle Gesetzesbegriff von Art. 164 BV zu beachten. Art. 164 Abs. 2 BV erlaubt zwar die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen, allerdings nur insoweit, als sie nicht durch die Bundesverfassung ausgeschlossen sind.6 Ein verfassungsrechtliches Delegationsverbot ergib sich somit insbesondere für alle wichtigen und grundlegenden rechtsetzenden Bestimmungen (Art. 164 Abs. 1 BV), für schwerwiegende Einschränkungen von Grundrechten (Art. 36 Abs. 1 BV), für den Freiheitsentzug (Art. 31 Abs. 1 BV) sowie für bestimmte Fragen des Ausgabenrechts (Art. 127 Abs. 1 BV).7 Zudem wird eine Normierung der Grundzüge im Gesetz verlangt.8 All diesen Grundsätzen vermag das Covid-19-Gesetz nicht zu genügen – es widerspricht in eklatanter Weise Art. 164 BV,9 abgesehen davon, dass nicht geklärt ist, ob es grundsätzlich überhaupt zulässig ist, den Bundesrat in einer Delegationsnorm zur Abweichung vom Gesetzesrecht zu ermächtigen.
  • Notverordnungsrecht darf nur unter bestimmten Voraussetzungen erlassen werden. Anwendungsvoraussetzungen für Art. 185 Abs. 3 BV sind (kumulativ), dass die öffentliche Ordnung oder die innere bzw. äussere Sicherheit betroffen sind, dass bezüglich des Schutzgutes, das mit einer Notverordnungsmassnahme geschützt werden soll, sowohl eine sachliche wie eine zeitliche Dringlichkeit besteht und dass keine geeignete (bestehende) gesetzliche Massnahmen zur Verfügung stehen (Subsidiarität); zudem muss das Notverordnungsrecht befristet sein.10 Wenn nun die Zuständigkeiten zum Erlass von Notverordnungsrecht ins Gesetz überführt werden, werden diese sehr strengen und einschränkenden Anforderungen unterlaufen. Der vorgesehene Art. 1 Abs. 2 Covid-19-Gesetz vermag diese Lücke nicht zu schliessen,11 zumal dort die Voraussetzungen zum Gebrauch der Delegationsnormen durch den Bundesrat viel offener formuliert sind. Das Covid-19-Gesetz verletzt mithin Art. 185 Abs. 3 BV.
  • Mit dem Covid-19-Gesetz kommt für die Überführung von Notverordnungsrecht in ordentliches Recht zum ersten Mal überhaupt Art. 7d RVOG zur Anwendung. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers muss bei der Überführung in ordentliches Recht Art. 164 BV vollumfänglich gewahrt werden und es «führt kein Weg an dem Grundsatz vorbei, wonach wichtige rechtsetzende Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind»12. Art. 7d RVOG bezweckt nach dem Willen des Gesetzgebers, die normale demokratische Kompetenzordnung auch in ausserordetlichen Lagen so rasch wie möglich wieder zu gewährleisten.13 Das Covid-19-Gesetz erfüllt die Anforderungen von Art. 7d RVOG nicht.

Aus einer verfassungsrechtlichen Sicht gilt es, das Covid-19-Gesetz in der vorliegenden Form zu verhindern, dies insbesondere auch, um ein Präjudiz für künftiges «überschiessendes» Notverordnungsrecht des Bundesrats zu verhindern. Die Vorlage muss aber auch verhindert werden, damit nicht die Gefahr besteht, dass das Bundesgericht im konkreter Normenkontrolle nachträglich bestimmte Regelungen aufhebt und wegen diesem «Damoklesschwert» zusätzliche Rechtsunsicherheit entsteht. Das Parlament müsste der Einschränkung, die es für Notverordnungsrecht mit Art. 7d RVOG gesetzt hat, Nachachtung verschaffen. Die SP und die SVP lehnten das Gesetz in dieser Form im Rahmen der Vernehmlassung ab.14

1.4 Die „Sachzwang-Logik“ als Argument gegen eine Ablehnung

Trotz Vorbehalten bzw. Unbehagen gegenüber dem Gesetzesentwurf in der vorliegenden Form wird in Verwaltung und Politik verbreitet als Argument gegen eine Ablehnung des Covid-19-Gesetzes vorgebracht, dass diese unabsehbare Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hätte, da mit der Ablehnung sämtliche bestehenden Notverordnungen des Bundesrats dahinfallen würden – auch jene betreffend die wirtschaftliche und soziale «Abfederung» der Folgen der Coronavirus-Krise. Es bestehe mithin – unbesehen der verfassungsrechtlichen Mängel – ein «Sachzwang», dem Gesetzesentwurf zuzustimmen.15

1.5 Ablehnung nach Art. 7 Abs. 2 Bst. b RVOG

Die Kernfrage ist mithin, was «nach der Ablehnung des Entwurfes durch die Bundesversammlung» in Art. 7d Abs. 2 Bst. b RVOG bedeutet, bzw. wann genau dieser Fall eintritt.

2. Die Antwort

2.1 Keine Anhaltspunkte in den Materialien

Die Materialien zu Art. 7d RVOG enthalten keinen einzigen Anhaltspunkt zur Kernfrage. Die Ablehnung durch das Parlament im Sinne von Art. 7d Abs. 2 Bst. b RVOG wird im Bericht, der den Gesetzesentwurf begleitete,16 nicht weiter erläutert. Auch in der parlamentarischen Beratung finden sich dazu keine Aussagen.17

2.2 Anhaltspunkt im Parlamentsrecht

Das Parlamentsrecht kennt den Begriff der «Ablehnung» eines Gesetzesentwurfs bezüglich der folgenden Beschlüsse: Wenn sich die abweichenden Beschlüsse der beiden Räte auf einen Beratungsgegenstand als Ganzes beziehen, so ist die zweite Ablehnung durch einen Rat endgültig. Dies gilt insbesondere für das Eintreten auf einen Erlassentwurf (Art. 95 Bst. a ParlG18) und die Annahme eines Erlassentwurfs in der Gesamtabstimmung (Art. 95 Bst. b ParlG). Art. 74 Abs. 5 ParlG hält zudem fest, dass es einem Nichteintreten gleichkommt, wenn einer der Räte einen Erlassentwurf in der Gesamtabstimmung «verwirft». Eine Ablehnung im Sinne von Art. 7d Abs. 2 Bst. b RVOG liegt somit dann vor, wenn einer der Räte entweder das Eintreten auf die Gesetzesvorlage verweigert oder in einer Gesamtabstimmung, d.h. einer Abstimmung, die sich auf den Gesetzesentwurf als Ganzes bezieht, das Gesetz zum zweiten Mal ablehnt.

2.3 Der Königsweg: Rückweisung

Die Rückweisung ist separat in Art. 75 ParlG geregelt. Ein Rat kann einen Erlassentwurf, auf den er eingetreten ist, an den Bundesrat oder an die vorberatende Kommission zur Überprüfung oder Änderung zurückweisen (Art. 75 Abs. 1 ParlG). Einzelne Abschnitte oder Bestimmungen kann er auch bei der späteren Beratung zurückweisen (Art. 75 Abs. 2 ParlG). Anträge auf Rückweisung geben an, was überprüft, geändert oder ergänzt werden soll (Art. 75 Abs. 3 ParlG). Die Rückweisung eines Gesetzesentwurfs stellt keine Ablehnung im Sinne von Art. 7d Abs. 2 Bst. b RVOG dar. Aus der Systematik von Art. 75 ParlG folgt, dass nach dem Eintreten auf einen Gesetzesentwurf dieser auch in seiner Gesamtheit zur Überarbeitung an den Bundesrat zurückgewiesen werden kann.

Wenn das Parlament mithin den Entwurf zum Covid-19-Gesetz nach dem Eintreten an den Bundesrat zurückweisen würde, dann hätte dies keine Folgen für das – vorläufige – Weiterbestehen der Notverordnungen. Die Räte könnten den Bundesrat mit der Rückweisung beauftragen, den Gesetzesentwurf so auszugestalten, dass dieser mit Art. 164 BV vereinbar wird, beispielsweise indem eine Normierung der Grundzüge im Gesetz erfolgt oder indem einzelne gesetzliche Regelungen ausformuliert werden bzw. in den entsprechenden Fachgesetzen gleich definitiv geregelt werden (z.B. die Möglichkeit der Gerichtsverhandlungen mittels Videokonferenz-Anwendungen im Zivilprozessrecht).

3. Fazit

Angesichts der eklatanten Verfassungswidrigkeit des Entwurfs des Covid-19-Gesetzes sollten die eidgenössischen Räte zwar auf die Erlassvorlage eintreten, dann aber den Gesetzesentwurf zur Verbesserung an den Bundesrat zurückweisen. Das geltende Notverordnungsrecht des Bundesrats bleibt damit vorläufig bestehen.

Mag. rer. publ. Daniel Kettiger ist Berater, Rechtsanwalt und Justizforscher in Thun

  1. 1Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.
  2. 2Vgl. Urs Saxer, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Art. 185 BV, Rz. 71; Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2. Aufl., Art. 185, Rz. 10 f.
  3. 3Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG) vom 21. März 1997, SR 172.010.
  4. 4Vergleiche Beispielsweise die amtliche Übersicht «Rechtsetzung im Bereich Massnahmen gegen COVID-19: Übersicht (Stand 13.05.2020)», https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/gesetzgebung/berichtnotverordnungen.html (zuletzt besucht am 02.09.2020); siehe auch die Übersicht bei https://www.legalis.ch/de/covid-19-updates/ (zuletzt besucht am 02.09.2020).
  5. 5Botschaft vom 12. August 2020 zum Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Gesetz), BBl 2020 6563.
  6. 6Vgl. Pierre Tschannen, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Art. 164 BV, Rz. 37.
  7. 7Vgl. Biaggini (Fn. 2), Art. 164, Rz. 12.
  8. 8Vgl. Biaggini (Fn. 2), Art. 164, Rz. 13.
  9. 9Dieser Auffassung auch Markus Schefer in einem Vortrag im Webinar «Gewaltenteilung in ausserordentlichen Lagen» der SVVOR vom 2. September 2020, https://youtu.be/5PxqHN7Msz4?t=3564 (zuletzt besucht am 02.02.2020): «Dieser Entwurf genügt in meiner Einschätzung den Anforderungen des materiellen Gesetzesvorbehalts von Art. 164 BV nicht».
  10. 10Vgl. Saxer (Fn. 2), Art. 185 BV, Rz. 71; Biaggini (Fn. 2), Art. 185, Rz. 10 f.
  11. 11Dieser Auffassung auch Markus Schefer (Fn. 9), https://youtu.be/5PxqHN7Msz4?t=3564 (zuletzt besucht am 02.02.2020).
  12. 12Vgl. Parlamentarische Initiative Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen, Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 5. Februar 2010, BBl 2010 1563, S. 1583.
  13. 13Vgl. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 5. Februar 2010 (Fn. 12), BBl 2010 1563, S. 1578.
  14. 14Vgl. Bericht über das Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens, S. 7; https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/62339.pdf (zuletzt besucht am 02.09.2020)..
  15. 15In diesem Sinne auch die Stellvertretende Direktorin des Bundesamts für Justiz (BJ), Susanne Kuster in einem Vortrag im Webinar «Gewaltenteilung in ausserordentlichen Lagen» der SVVOR vom 2. September 2020, https://youtu.be/5PxqHN7Msz4?t=2650 (zuletzt besucht am 02.02.2020): «… dann würden alle bestehenden Notverordnung ausser Kraft treten.».
  16. 16Vgl. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 5. Februar 2010 (Fn. 12), BBl 2010 1563.
  17. 17Vgl. AB 2010 N 1201 ff.; AB 2010 N 1302 ff.; AB 2010 S 1060 ff.; AB 2010 N 1929 f.; AB 2010 S 1318.
  18. 18Bundesgesetz über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) vom 13. Dezember 2002, SR 171.10.