Jusletter

Schwerpunkt-Ausgabe: «Ludwig Wittgenstein»

Liebe Leserinnen und Leser

Recht ist Sprache. Deshalb sollten sich Juristen auch mit Sprachwissenschaften beschäftigen. Blickt man indes in das juristische Schrifttum, so ist festzustellen, dass Entdeckungsreisen in die Welt der Sprache selten bleiben. Dasselbe gilt für die Praxis, die die Interpretation von Rechtsbegriffen kaum je mit Hilfe der Sprachtheorie vornimmt. Vielleicht hängt dieser Umstand damit zusammen, dass die Sprache den Juristen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Dadurch bleibt sie gewissermassen unbemerkt, ja man könnte fast sagen: unsichtbar.

In der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen wollen wir dazu beitragen, dass die Sprache für den Juristen wieder an Sichtbarkeit gewinnt. Wir wählen zu diesem Zweck eine ganz bestimmte Vorgehensweise: die Konfrontation der juristischen Methodenlehre mit Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie. Gewonnen wird damit etwas, was möglicherweise nicht allen Juristen gefallen wird, nämlich die Aufdeckung einer Lebenslüge der Jurisprudenz. Diese besteht im Glauben, dass unsere Gesetze eine essentielle Bedeutung haben, die den Rechtsfinder bindet. Wittgensteins Philosophie zerstört diesen Glauben.

Wittgenstein lehrt aber auch, dass man deswegen nicht einem Regelnihilismus verfallen muss. Wenn - so Wittgenstein - die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist, erschliesst sich die Bedeutung einer Rechtsvorschrift aus ihrem «Gebrauch», d.h. aus der Art und Weise, wie diese Regel in der Praxis angewendet wird. Für die juristische Methodenlehre bedeutet diese Erkenntnis aber, dass einige ihrer Lehren der Revision bedarf. Wie dieser Revisionsbedarf konkret aussieht, ist Thema der nachstehenden Beiträge.

Marcel Alexander Niggli
Marc Amstutz

Jusletter, Leiter Ressort «Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie»