Sokrates, der alte Greis,
Sagte oft in tiefen Sorgen:
«Ach, wieviel ist doch verborgen,
Was man immer noch nicht weiß!»
Und so ist es. – Doch indessen
Darf man eines nicht vergessen:
Eines weiß man doch hienieden,
Nämlich, wenn man unzufrieden.
Wilhelm Busch
1.
Einleitung ^
In LeGes 29 (2018) 1 hat Markus Nussbaumer das von André Meinunger und mir herausgegebene Buch betrachtet und den darin enthaltenen Beitrag zum Gendern in Gesetzen (Baumann 2017) genauer unter die Lupe genommen (Nussbaumer 2018). Dem Buch insgesamt bescheinigt er einen Lesebuch-Charakter mit sympathisch offener Zugangsweise. Den Aussagen im Beitrag zum Gendern in Gesetzen mag er indes nicht folgen, denn er hält meine Kritik an der derzeitigen Praxis des Genderns in bundesdeutscher Gesetzgebung für überzogen. Auch eine Debatte um geschlechtergerechte Sprache sieht er nicht, denn der Sprachgebrauch diesbezüglich habe sich «in einen ziemlich stabilen neuen Zustand gewandelt, und ein Zurück scheint weder möglich noch gewollt» (Rz 2). Zwar hat er «aus streng rechtslinguistischer Perspektive ein gewisses Verständnis und einige Sympathien für [das] Plädoyer für das generische Maskulinum in der Gesetzessprache» (Rz 13), nennt diesen Ansatz aber zugleich rigide, puristisch und dogmatisch, denn dies reserviere der Gesetzessprache einen besonderen Status. Der Schweizer Verständlichkeitsansatz lasse es jedoch nicht zu, «die Sprache der Gesetze in ein Reservat des ausschliesslichen generischen Maskulinums zu verbannen, wohingegen in der Sprache um diese Rechtsdomäne herum in den letzten zwanzig Jahren eine Sprachentwicklung stattgefunden hat, die nicht mehr ignoriert und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wir könnten unmöglich zurück» (Rz 14). Und er ergänzt: «Aber wir wollen auch nicht zurück, wir sehen keinen Anlass dazu. Denn […]: Es geht doch!» (Rz 15). Auch angesichts der Infragestellung des binären Geschlechtersystems hält er die «‹Beidnennung› der Geschlechter Mann und Frau, und damit der mit riesigem Abstand weiterhin grossen Mehrheit der Geschlechtsidentitäten, in der Sprache» für «ein taugliches Zeichen, um Diversität zu markieren». Die Paarform (z. B. Mieter und Mieterinnen) könne also für alle Geschlechter stehen, das Maskulinum (der Mieter) hingegen habe diese «Fähigkeit in der jüngsten Sprachgeschichte verloren. Unwiederbringlich. Und seine Tauglichkeit für Gesetzestexte auch» (Rz 19).
«Unwiederbringlich» – was für ein Schlusspunkt für eine Rezension! – Hatten mich bis hierher die Argumente (‹ein Zurück ist nicht möglich›, ‹Gesetze sind nicht in einem sprachlichen Reservat› und ‹geht doch›) nicht überzeugt, so klang dieses «Unwiederbringlich» ein wenig wie ein mit Vergänglichkeit abgetöntes «Basta!» (was vielleicht am Fontane-Jahr liegt). Daher werde ich meine Argumentation erweitern in der Hoffnung, dieses Mal zu überzeugen. Dazu werde ich zuerst die Argumente des rezensierten Artikels kurz zusammenfassen, damit man diesem kleinen Disput folgen kann (Ziff. 2), danach auf die Gesamtdebatte eingehen und sie aus meiner Sicht skizzieren (Ziff. 3), um schliesslich wieder auf den Bereich der Gesetzgebung zurückzukommen (Ziff. 4). Denn vor allem von dort aus, meiner hauptberuflichen Tätigkeit in der bundesdeutschen Gesetzesredaktion, nehme ich die vielen verschiedenen Anfragen, Meinungen und Behauptungen zu diesem Thema wahr. Aus der Analyse der Gesamtdebatte und der Kenntnis von Gesetzen als Textsorte ziehe ich für den Gebrauch von Personenbezeichnungen in Gesetzen jedoch ganz andere Schlüsse als der Rezensent (Ziff. 5).
2.
Die Argumente aus dem rezensierten Artikel ^
Im rezensierten Beitrag (Baumann 2017) hatte ich für die derzeitige bundesdeutsche Gesetzgebung eine uneinheitliche Praxis beim sogenannten geschlechtergerechten Formulieren von Personenbezeichnungen konstatiert. Diese zeigt sich unter anderem im Nebeneinander von maskulinen Substantiven (der Arbeitnehmer, Arzt, Gläubiger) und Paarformen (Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etc.) – was der Verständlichkeit nicht förderlich ist.
Da derzeit nicht nur umstritten ist, ob das Maskulinum generisch – also zur Bezeichnung von Personen aller Geschlechter – verwendet werden kann, habe ich die Betrachtung auch auf andere Sprachformen ausgedehnt. So bin ich auf substantivierte Adjektive und Partizipien im Differentialgenus (der bzw. die Berechtigte, Prüfende, Jugendliche) sowie auf die Funktion von Personenbezeichnungen im Gesetz eingegangen. Da Nomina agentis genau dazu dienen, Personen zu bezeichnen, die die im Wortstamm ausgedrückte Tätigkeit ausüben, gibt es so viele dieser Ableitungen in Gesetzen (erwerb(en) > Erwerber; anmeld(en) > Anmelder etc.). Eine Umformung dieser Personenbezeichnungen aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit hatte ich als Verstoss gegen diverse Gebote und Prinzipien dargestellt:
- gegen das rechtssystematische Gebot der Einheitlichkeit der Rechtssprache,
- gegen das rechtssystematische Gebot, höherrangiges Recht in niederrangigem nicht zu wiederholen (wenn trotz der grundgesetzlich gesicherten Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz dies in jedem Gesetz neu ausgedrückt werden soll),
- gegen das juristische Prinzip der Abstraktion (wenn mit dem Geschlecht permanent etwas ausgedrückt wird, das für die jeweilige Regelung irrelevant ist),
- gegen rechtsförmliche Gebote (wenn Kurzschreibungen mit Klammern, Schräg- oder Unterstrichen oder dem sogenannten Genderstern in Gesetzen verwendet würden),
- gegen das Gebot der Sprachökonomie (wenn Bekanntes – dass Menschen auch Frauen sein können – stets mitgesagt wird) und
- gegen das Gebot der Verständlichkeit (wenn der Inhalt einer Regelung hinter deren geschlechtergerechten Formulierung zu verschwinden droht).
Da ein so verstandenes Gendern nur Oberflächenphänomene verändert und dabei anderen etablierten Merkmalen der Textsorte ‹Gesetz› entgegensteht sowie verschiedenen Geboten und Prinzipien widerspricht, habe ich einen Vorschlag (inkl. Alternativen) gemacht, wie Personenbezeichnungen innerhalb der Gesetzgebung verwendet werden könnten, sowie eine Gesetzesfolgenabschätzung gefordert, die wirklich prüft, ob die neuen Regelungen die Geschlechter in unterschiedlicher Weise betreffen könnten.
3.
Die Debatte um geschlechtergerechte Formulierungen ^
Zumindest eine Frage aus der Rezension «… da gibt es also eine Debatte?» (Rz 2) dürfte sich seit Mai 2018 wohl beantwortet haben. Diese Debatte ist in vollem Gange. Und weil auch ich denke, dass der fragliche geschlechtergerechte Umgang mit Personenbezeichnungen in Gesetzen nicht losgelöst von der umgebenden sprachlichen Wirklichkeit betrachtet werden kann, beschäftige ich mich nun schon seit Jahren mit diesem Thema. Ich halte es für eines, das ergiebig sein könnte, würde man es soziologisch oder soziolinguistisch betrachten. Leider erschöpfen sich die meisten öffentlichen Beiträge jedoch in der Erklärung einzelner Sprachformen, die dann als geschlechtergerecht oder -ungerecht bezeichnet werden. (Das sogenannte generische Maskulinum ist darüber wohl recht bekannt geworden.) Oder aber es geht sogar um moralische Überlegenheit einer Gruppe gegenüber einer anderen, weil die eine sich für Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt und die andere angeblich nicht (Stefanowitsch 2018). Und das sei eben erkennbar am Einsatz bestimmter Sprachformen. In diesem Austausch von zumeist gleichen Argumenten hagelt es gegenseitige Belehrungen und Zuweisungen von wenig netten Attributen. Daher ist es oft deprimierend, diese Debatte zu verfolgen.1
Ungeteilte Vorannahmen und nicht beachtete Faktoren im Sprachgebrauch
Markus Nussbaumer meint, es gehe in dieser Debatte «doch nicht so sehr darum, ob oder ob nicht geschlechtergerecht formuliert werden soll, sondern darum, was denn als geschlechtergerecht zu gelten hat» (Rz 6). – Darin stecken zwei Aussagen, von denen die erste (‹es soll geschlechtergerecht formuliert werden›) als ausdiskutiert vorausgesetzt wird. Vielleicht ist das aber schon die erste Verkürzung in der Argumentation. Ich meine zwar auch, dass es einen recht breiten Konsens für Gleichberechtigung der Geschlechter in unserer Gesellschaft gibt, auch hinsichtlich des für die meisten in der Debatte neu hinzugekommenen dritten Geschlechts. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass dieser Konsens hinsichtlich der Gleichberechtigung sich auch auf den Sprachgebrauch bezieht. Ob also, wie man es ausdrückt, «geschlechtergerecht» formuliert wird. Denn dafür müsste man davon überzeugt sein, dass die Art der Formulierung dabei hilft, die tatsächliche Gleichberechtigung zu erreichen. Diese Überzeugung bei allen Sprechern einer Sprachgemeinschaft einfach vorauszusetzen, dürfte der erste Irrtum sein. Denn es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage der Weltanschauung, wie ich den Zusammenhang zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit sehe. Ob ich also bestimmte Formulierungen bevorzuge oder vermeide, um auf aussersprachliche Asymmetrien aufmerksam zu machen und sie zu beseitigen. Oder ob ich eher in der aussersprachlichen Wirklichkeit auf die Gleichberechtigung hinwirken würde. Oder beides. – Über diesen weltanschaulichen Faktor wird meist schnell hinweggegangen, oder es wird die Behauptung ins Feld geführt, bei bestimmten Sprachformen würde nicht nur an Männer gedacht. Selbst wenn das so wäre: Inwiefern würde das bei der tatsächlichen Gleichberechtigung, etwa der Besetzung von Chefposten oder einer gleichen Bezahlung, helfen? (Oder anders gefragt: Denken Männer wirklich zu wenig an Frauen? Ist Diskriminierung von nicht-binären Menschen durch das Vermeiden bestimmter Sprachformen abzuwenden?) Unbeachtet bleibt meist auch, ob man diesen Diskurs als eher älterer oder jüngerer Mensch betrachtet, als eher privilegierter oder unterprivilegierter, als in Sprache ausgebildeter oder eher wenig daran interessierter Mensch. Diese und andere Faktoren erscheinen kaum im Diskurs, obwohl doch genau davon der Sprachgebrauch und Einstellungen zu Sprache abhängig sind und obwohl dafür kein wissenschaftliches Vorwissen nötig wäre.
Umstrittene Sprachformen
Auch Nicht-Linguisten haben als kompetente Sprecher einer Sprache ein grundlegendes Wissen dazu, was Textsorten sind und dass der Gebrauch von Personenbezeichnungen sich danach richtet, ob sie in einem Märchen, einer Predigt, einem Posting im Internet, einem Tagebucheintrag, einer Rede vor der Belegschaft oder zu einem privaten Jubiläum vorkommen. Dennoch beschäftigen sich viele Diskursbeiträge pauschal und losgelöst von derartigen Faktoren, die die Kommunikation bestimmen, mit der «Richtigkeit» einzelner Sprachformen: Bezeichnet Bäcker nun alle Personen, die diesen Beruf ausüben oder nur Männer? Kann man noch von Prüfenden sprechen, wenn die Prüfung lange zurückliegt, oder geht das nur im Moment der Prüfung? Ist ein Dozierender das, was früher ein Dozent war, oder jemand, den man als belehrend oder besserwisserisch erlebt und der von oben herab zu lange Vorträge hält? Ist Flüchtling ein abwertender Begriff und sollte durch Geflüchteter ersetzt werden oder ginge damit der Status und ein Teil der Bedeutung verloren? Muss ich neue Sprachformen mit bestimmten Zeichen verwenden, um klarzumachen, dass ich dabei auch an Frauen denke und an Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen, also TeilnehmerInnen, Schüler_innen, Autor*innen? Oder gibt es auch einen anderen Weg, um deutlich zu machen, dass ich niemanden diskriminieren will, vielleicht eine Gender-Klausel, in der ich vorab klarstelle, dass ich mit allen Personenbezeichnungen immer alle meine? Oder gibt es – da, wo ich mich sprachlich äussere – gar keinen Klarstellungsbedarf? Muss ich mich jetzt auch mündlich anders äussern (Liebe Eltern und Lehrer*[Pause]innen), also z. B. den sogenannten Genderstern atmen? Oder mich an neue Formen gewöhnen, mit denen ich angeschrieben werde (Guten Tag, Antje Baumann, … statt: Sehr geehrte Frau Baumann, …)? usw. usf.
Verbreitung neuer Sprachformen
Von vielen für den konkreten Sprachgebrauch wichtigen Faktoren ist in der Debatte also eher keine Rede. Stattdessen haben sich in den letzten Jahren die meisten Universitäten, grössere Unternehmen, Behörden und soziale Einrichtungen Leitfäden2 zugelegt, die erklären, wie bestimmte Sprachformen durch andere zu ersetzen sind. Trotz des empfehlenden Charakters dieser Handreichungen entfalten die dort als erwünscht bzw. unerwünscht präsentierten Sprachformen durch ihre massenhafte Verbreitung natürlich die Kraft von Mustern. 2015 führen die bundesdeutschen Grünen in ihrer Kommunikation den Genderstern ein, der dort das Binnen-I ablöst. Es erscheint eine Fülle an Artikeln in unterschiedlich ausgerichteten Zeitungen, Zeitschriften und Blogs zu diesem Thema, die Boulevard-Presse verbindet das Thema Gender seit Jahren mit den Themen Toiletten und Geld, die Buch-Titel werden reisserischer, man spricht schon von Gender-Gaga oder -Wahn, die Abschaffung von Lehrstühlen in den Gender-Studien ist kein Tabu mehr. 2017 und 2018 erregen zwei höchstrichterliche Beschlüsse öffentliche Aufmerksamkeit: das Recht auf positiven Eintrag ins Geburtenregister für Intersexuelle sowie kein Anspruch auf feminine Personenbezeichnung3. Erneut erlangt das generische Maskulinum und erstmals das dritte Geschlecht (das es zwar schon immer gab) öffentliche Aufmerksamkeit. Das niedlich klingende Wort Gendersternchen wird Anglizismus des Jahres, eine Gruppe um den Gender-Befürworter Stefanowitsch hat es ausgewählt (wobei nicht Häufigkeit allein, sondern die Befürwortung des Wortinhalts den Ausschlag gab4). Dann führt mit Hannover erstmals eine ganze Stadt die sogenannte Gendersprache für ihre Verwaltung ein – andere Städte folgen. Der Genderstern ist jetzt Teil der Verwaltungssprache, obwohl er in der vorgesehenen Verwendung innerhalb von Personenbezeichnungen nicht den Regeln der deutschen Rechtschreibung entspricht. Und dann – wir sind im März 2019 angekommen – werden gleich zwei Aufrufe gegen die Gendersprache gestartet, die innerhalb weniger Tage Zehntausende Unterstützer finden: seit 4. März 2019 https://stop-gendersprache-jetzt.de/ und zwei Tage später der Aufruf «Schluss mit dem Gender-Unfug!» des Vereins Deutsche Sprache (VDS). Nun wird es noch hitziger, die Initiatoren und Erstunterzeichner der Aufrufe werden als Ewiggestrige und Misogynisten angegriffen, in die rechte – mindestens aber in die deutschtümelnde – Ecke gerückt oder aber gleich ganz enthemmt «lauter Witzfiguren und Wutbürger … kleinbürgerliche Würstchen … und ein paar Profen»5 genannt. – Vereinfachungen und negative Zuschreibungen auf allen Seiten, Differenzierungen sind anscheinend nicht gefragt. Ein Versuch, Reflexion zu stimulieren, die vielleicht zu differenzierter Betrachtung führt, ist mein – von Max Frischs berühmten Fragebögen zu Freundschaft, Ehe, Geld, Tod usw. inspirierter – Fragebogen zu Sprache und Geschlecht (Baumann 2018b, 241). Der öffentliche Diskurs handelt das komplexe Problem jedoch eher rau und unterkomplex ab.
Merkmale des Diskurses um geschlechtergerechte Sprache
Man könnte sagen, die feministische Linguistik habe viel erreicht, meinte sie doch, in Bäcker, Bürger, Präsident etc. seien Frauen nur mitgemeint. Damit man an sie denke, müssten sie jedoch auch mitgesagt werden. Das sogenannte generische Maskulinum wurde fast als böser Zauberer dargestellt, der Frauen unsichtbar macht. Obwohl (oder weil?) der zugrundeliegende Konnex zwischen Sagen, Denken und Welt auch hier zu einfach ist, eignet er sich offenbar gut für aktivistische Zwecke, denn die Paarform und das Binnen-I verbreiten sich, wenn auch weite Teile der Gesellschaft davon gänzlich unberührt bleiben. Ungehört bleiben schon dabei all jene, denen die sprachliche Seite egal oder nicht genug ist. Frauen wurden jetzt also «sichtbarer», weil sie mitgesagt wurden, so die Argumentation. Nach der feministischen Linguistik kam die Genderlinguistik, die nicht mehr nur Frauen sichtbar machen wollte, denn sie deutet Geschlecht nicht mehr binär und vor allem als durch die Gesellschaft konstruiert. Auch für den sprachlichen Ausdruck bedeutet dies neue Herausforderungen, was sich auch in der weiter gewachsenen Vielfalt der diesbezüglichen Meinungen zeigt.6
Verschiedene Akteursgruppen und kein Konsens
Es gibt also keinen gesellschaftlichen Konsens, sondern eine laute Debatte darüber, ob überhaupt mithilfe der Sprache die Gleichberechtigung der Geschlechter befördert werden kann, und wenn ja: mit welchen sprachlichen Formen. Dabei stehen sich verschiedene Akteursgruppen gegenüber, die verschiedene Weltanschauungen und Motivationen haben: diejenigen, die die Emanzipation der Schwachen auch mithilfe der Sprache unterstützen wollen, diejenigen, denen generelle Sprachgebrauchsregeln zu weit in individuelle Freiheiten eingreifen, und diejenigen, denen jegliche Debatte um Geschlechter zu weit geht, weil diese Bestehendes (klare Rollenverteilung von Mann und Frau, Ehe nur für diese, inkl. konservativem Sprachgebrauch etc.) angreift.
Dieser eher vage Gruppierungsversuch zeigt auch, warum der Diskurs keine klaren Konturen bietet, denn in allen drei Gruppierungen finden sich Menschen jeden Alters, Geschlechts, Bildungsgrads und jeder politischen Partei. Das ist auch kein Wunder, betrachtet man einmal die Diskursgegenstände. Mit Sprache und Geschlecht werden gleich zwei Gegenstände miteinander verbunden und in Frage gestellt, die ein Individuum (mit-)konstituieren. Wie ich spreche und schreibe und zu welchem Geschlecht ich gehöre – das sind höchstpersönliche und damit äusserst empfindliche Fragen.7 Sie sind identitätsrelevant und können mit einfachen Verwaltungsentscheidungen oder politischen Entscheidungen nicht «gelöst» werden. Es ist ein Widerspruch in sich, wenn Sprachformen angeordnet werden und dabei der individuellen Vielfalt entsprechen sollen.
Staatlicher Eingriff – bis in die Ebenen der Grammatik und der Aussprache
Daher ist der Aspekt des staatlichen Eingriffs in diesen Diskurs (über die Verwaltung) wichtig. Die von etlichen Menschen als verordnet empfundene Beeinflussung des öffentlichen und des eigenen Sprachgebrauchs ist so gesehen nicht mit dem Verweis auf deren Bequemlichkeit oder Starrsinn abzutun (nur eine Frage der Gewöhnung, Sprache wandele sich eben, für das gute Ziel sei etwas sprachliche Mühe doch nicht zu viel verlangt usw.) – und auch keine soziolinguistische Kleinigkeit. Zwar wurde immer wieder derartig in den Sprachgebrauch eingegriffen, meist jedoch in nicht-demokratischen Strukturen (in der Nazizeit durch Wörter wie «Volksschädlinge», «Volksgemeinschaft» u.v.a.m., in der DDR z.B. «Antifaschistischer Schutzwall» statt «Grenze» oder «Mauer»; «Gammler» und «Rowdys» für Demonstranten). «Lenkungen» des Denkens über Sprache sind jedoch nicht auf Diktaturen oder auf einzelne Begriffe beschränkt, in offenen Gesellschaften werden sie aber von der jeweiligen Opposition oder frei denkenden Menschen stets erkannt, enttarnt und nicht flächendeckend verwendet (so etwa, als die bundesdeutschen Grünen den Konflikt in Jugoslawien lieber «friedenserzwingende Massnahmen» statt «Krieg» nennen wollten). Und Boulevard-Presse, Werbung und PR zeigen uns auch heute täglich, wie Manipulation oder Framing funktioniert. Sucht man jedoch in jüngerer Vergangenheit nach einem staatlichen Eingriff, der die gesamte Sprache betrifft, fällt einem höchstens die unglückliche Rechtschreibreform ein (vgl. Eisenberg 2018). Doch der hier in Frage stehende Eingriff würde noch weiter reichen als jene Reform, da er nicht nur Schreibweisen einzelner Wörter verordnete, also wie ich ein Wort schreibe, wenn ich es denn im offiziellen Zusammenhang verwenden will, sondern eben auch, dass ich dieses oder ein anderes als geschlechtergerecht eingestuftes Wort verwende – und ein anderes nicht. Damit würde ausserdem erstmals auch in die Grammatik eingegriffen, da Genus ja auch in Artikeln und Pronomen steckt und so (gemeinsam mit anderen grammatischen Kategorien wie Kasus und Numerus) den Zusammenhalt im Satz und über die Satzgrenze hinaus sichert.8 Und da der Genderstern im Wortinnern ja auch als Pause gesprochen werden soll (also als Knacklaut an einer Stelle, an der bisher kein solcher vorgesehen ist), würde dieser Eingriff erstmals auch in die Aussprache hineinreichen. Das wäre eine ganz neue Stufe staatlicher Regelung von Sprache – die es in demokratischer Zeit so noch nicht gab. Dieser Eingriff ist auch insofern anders, als er «unverhüllt» daherkommt, also nicht etwa auf geheimen Sprachregelungen aus Hinterzimmern (der Diplomatie, der Presseagenturen, der Parteizentralen oder Werbeabteilungen) basiert, sondern ganz offen in Leitfäden, Seminaren etc. festlegt und verbreitet, was die neue Sprache für die aktuell gute Sache (Geschlechtergerechtigkeit) sei. Wer diese Sprache nicht gebraucht, wird also nicht überzeugt oder wie in der Werbung vielleicht schleichend verführt, sondern durch die Verwaltung zu diesem Sprachgebrauch, sagen wir, angehalten.
Weitere Folgen eines staatlichen Eingriffs und widersprüchliche Ziele
Da Sprache Ausdruck von Individualität ist und zugleich über ihre Konventionalität an die Sprechergemeinschaft gebunden ist, wäre hier eine Verschiebung von der Freiheit des individuellen Ausdrucks hin zu einer Konvention zu konstatieren, die bei (vermutlich nicht kleinen) Teilen der Gesellschaft auf Widerstand treffen muss, da die der Konvention zugrundeliegenden Annahmen nicht geteilt werden. Gleichzeitig verlören neue Sprachformen wie etwa die mit dem Genderstern die Fähigkeit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community auszudrücken – da sie ja nun von der Verwaltung, also «von oben», eingeführt und verwendet würden.9 Hinzu kommt, dass die Forderungen der verschiedenen Strömungen zueinander in Widerspruch stehen. So hat die «Sichtbarmachung» der Frau in der Sprache mittels Paarform, Binnen-I, Unterstrich, Schrägstrich und Klammern zu Formen geführt, die allesamt «paarig» sind und damit die angestrebte Auflösung des binären Geschlechtersystems untergraben. Das trifft auch auf den Genderstern zu, denn trotz der Sichtweise, alle Nicht-Binären sollten (und würden?) sich im Stern wiederfinden, folgt doch auch dem Stern meist das feminine Suffix -in. Auch das derzeit beliebte substantivierte Partizip Präsens (Teilnehmende, Dozierende, Mietende …?) fällt auf diese paarige, das binäre System eher bestärkende, Struktur zurück, sobald der Singular genutzt werden muss (der bzw. die Dozierende). Und in grösserer Perspektive wird mit den meisten dieser Formen Sexus markiert und damit eben das betont, was laut Genderwissenschaften doch nicht einfach biologisch (vordiskursiv) gegeben, sondern eben erst diskursiv ausgehandelt oder konstruiert sei.
In dieser Streitsituation voller Widersprüche, in der die Argumente ausgetauscht scheinen und die Debatte zwar deutliche Polarisierung für und gegen das Gendern, aber weder neue Vorgehensweisen noch einen Konsens hervorgebracht hat – da ist der Ruf nach einer höheren Instanz nachvollziehbar. Doch welch höhere Instanz sollte hier helfen, da der Duden nicht mehr als Norm gilt und wir weder ein Pendant zur Académie française noch eine Queen haben? – Die Berliner Senatsverwaltung fragte den Rat für deutsche Rechtschreibung, welche Schritte möglich sind, um das Regelwerk der deutschen Sprache weiterzuentwickeln, sodass etwa der Genderstern regelkonform würde. Der Rat entschied im November 2018, erst einmal nichts zu entscheiden und die Entwicklung weiter zu beobachten. Ausserdem wurde der VDS-Aufruf auch als Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet.
4.
Gendern in Gesetzen ^
Durch den teilweise veränderten Sprachgebrauch (Nutzung von Paarform, Binnen-I, Unterstrich etc. durch mindestens eine politische Partei und mehrere Städte sowie Verbreitung dieser Formen in Leitfäden, alten und neuen Medien) hat sich die Bedeutung von Personenbezeichnungen in den letzten zwanzig Jahren ja durchaus schon verändert. Unter anderem erscheint ein maskulines Substantiv wie Lehrer durch den zunehmenden Gebrauch innerhalb einer Paarform heute manchen als nur noch für Männer geeignete Bezeichnung.10 Schliesslich ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch (Wittgenstein, PU). Was also dringend vonnöten ist, sind nachvollziehbare Gebrauchsfeststellungen mit korpuslinguistischen Mitteln.11
Neben der Feststellung, welche Personenbezeichnungen in welchen Texten von wem benutzt werden, sollte mehr ins Blickfeld rücken, was der Zweck von Personenbezeichnungen ist.
Funktion von Personenbezeichnungen
Mit Personenbezeichnungen kann ich Personen ansprechen, über sie sprechen oder mich selbst bezeichnen. Ich kann dies – je nach Kommunikationssituation – mehr oder minder konkret machen.
Meist werden drei Referenzarten unterschieden: spezifische, nicht-spezifische und generische oder klassenbezogene Referenz. Oft ist jedoch erst aus dem Kontext zu erkennen, ob mit einer Personenbezeichnung auf spezifische Personen Bezug genommen werden sollte oder auf irgendwelche (nicht-spezifischen) Personen oder auf eine ganze Klasse von Personen (nicht auf deren einzelne Mitglieder)12. Allein aus der Sprachform heraus lassen sich daher die im Diskurs oft verhandelten Fragen nicht beantworten – erst die Umstände des Gebrauchs klären, auf wen sich die Personenbezeichnung beziehen sollte. Ein Sprecher/Schreiber wählt eine von vielen möglichen Personenbezeichnungen aus, und zwar in Abhängigkeit von der jeweiligen Textsorte und damit von pragmatischen Faktoren wie Kommunikationsziel und -kanal, Grad der Vertrautheit, zur Verfügung stehender Zeit etc. Bei einer öffentlichen Rede kommt z. B. die traditionelle Anrede «Sehr geehrte Damen und Herren» in Frage oder die neutrale «Sehr geehrte Anwesende». In einem Formular werden andere Bezeichnungen nötig oder sinnvoll sein als in einem Brief, einer SMS, einem Aufsatz oder einem Zeugnis. (Deshalb überzeugt der Hinweis auf die Lächerlichkeit der Anrede einer Belegschaft mittels «Mitarbeiter» in Rz 2 des Beitrags von Nussbaumer nicht.) Personenbezeichnungen geben Auskunft über das Verhältnis, in dem Sender und Empfänger zueinander stehen, über die Kommunikationssituation, über Wertungen u.v.a.m. (vgl. Begrüssen Sie den Karnevalvereinspräsidenten, Frau L. ist eine Koryphäe, Frau Staatssekretärin, Schatz, du, Sie, Opa, Peters jüngste Ex, das Grossmaul, min Lütten, dieser Duckmäuser, die neuen Referendare, der Bäcker am Bahnhof …). In diesen Bezeichnungen wird daher auch (oft unbewusst und ungewollt) etwas sichtbar vom jeweiligen Verhältnis zwischen Sender, Empfänger und Welt. Und in diesem Verhältnis – also nicht durch ihre Form allein – erlangt die Personenbezeichnung ihre Bedeutung. Man könnte Personenbezeichnungen daher auch als ganz spezielle «Verhältniswörter» verstehen.
Allgemeingültige Vorgaben für Personenbezeichnungen müssen schon angesichts der Vielfalt an Kommunikationssituationen ihr Ziel verfehlen bzw. auf Anwendungsschwierigkeiten treffen. – Könnte eine solche Vorgabe denn wenigstens bei der Textsorte ‹Gesetz› sinnvoll sein? Schliesslich sollen diese Texte doch das Zusammenleben in der Gesellschaft regeln. Sind Gesetze also der richtige Ort für Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache, mit deren Hilfe diese Gerechtigkeit auch ausserhalb der Sprache erreicht werden soll?
Textsorte ‹Gesetz›
In Gesetzen charakterisieren Personenbezeichnungen ein Verhältnis, das rechtlich geregelt wird (Käufer und Verkäufer). Wie alle anderen Wörter der Regelung dienen auch sie dazu, dieses zu regelnde rechtliche Verhältnis möglichst genau zu beschreiben. Daher gibt es Differenzierungen: Wiederverkäufer, Wiederkaufsberechtigte, Vorkaufsberechtigte, nicht etwa einfach nur Erben, sondern auch gesetzliche und gewillkürte, pflichtteilsberechtigte oder pflichtteilsbelastete Erben, Ersatz-, Mit-, Vor- und Nacherben. Für diese möglichst differenzierte Charakterisierung eignen sich auch okkasionelle Bildungen gut, die zwar meist in keinem Wörterbuch zu finden, aber in dem jeweils zu regelnden rechtlichen Verhältnis aussagekräftig sind (Überbringer, Übernehmer, Schenker und Beschenkte, Entzieher, Störer etc.).
Die Textsorte ‹Gesetz› ist durch etliche Merkmale gekennzeichnet, die jedes für sich und alle zusammengenommen besondere Auswirkungen auf die Textverständlichkeit haben. Im rezensierten Beitrag (und in Baumann 2018a) habe ich sieben von ihnen näher erläutert. Zwar haben auch andere Textsorten einzelne dieser Merkmale, das Bündel aus ihnen halte ich jedoch für spezifisch. Es macht aus diesen fachsprachlichen, höchst intertextuellen und formalisierten, an Institutionen gebundenen Texten, die sowohl eine spezielle Autorenseite als auch eine gemischte Adressatenschaft haben, sehr verdichtete Texte, die nicht ohne Weiteres für jedermann verständlich sind. Zum Verstehen (und Anwenden) dieser Texte sind vielmehr etliche Voraussetzungen zu erfüllen, die sich nicht innerhalb des Textes selbst finden (da keine Regelung für sich und aus sich allein zu verstehen ist, Fachbegriffe oft nicht als solche zu erkennen sind, «unsichtbare», für den Laien nicht erkennbare Beziehungen zu anderen Regelungen bestehen, die Vagheit etwa durch unbestimmte Rechtsbegriffe der Eindeutigkeit entgegensteht etc.).
Das Verdichtete und Voraussetzungsvolle betrifft auch die Personenbezeichnungen in Gesetzen. Betrachtet man den Zweck von Personenbezeichnungen zusammen mit der Sender- und Empfängerseite von Gesetzen, wird klar, dass hier in den meisten Fällen nur auf Klassen von Personen Bezug genommen wird – da weder der Gesetzgeber noch die Adressatenschaft eine konkrete Person sind. Es gibt also nicht nur keine Anredeformen, auch bei den «besprochenen» Personen handelt es sich fast immer um ganze Gruppen von Personen, nämlich um alle die, die in dem jeweils zu regelnden Rechtsverhältnis eine bestimmte Rolle oder Position haben: Verlierer und Finder, Niessbraucher, Kläger und Beklagte, Zeugen, Verpfänder, Pfand-, Gesamt-, Nachlass- und andere Gläubiger, Mieter und Vermieter, Erwerber, Pächter und Verpächter, Verleiher, Besteller, Makler, Erfüllungs- und andere Gehilfen, Auftraggeber und Beauftragte, Zahlungs- und andere Dienstleister, Verwahrer und Hinterleger usw. usf. Diese Personenbezeichnungen sind nach den gängigen Massstäben von Leitfäden nicht geschlechtergerecht formuliert, weil sie oft die Form des Maskulinums haben und vermeintlich nicht von allen als generisch, sondern als Bezeichnungen nur für männliche Personen verstanden werden (s.o.).
Personen in Gesetzen
Müssen diese und all die vielen Personenbezeichnungen in Gesetzen wirklich gegendert werden? Aus den Merkmalen der Textsorte ‹Gesetz› und der beschriebenen Funktion von Personenbezeichnungen in Gesetzen ergibt sich eine besondere Konstellation: Da gesetzliche Regelungen von allem abstrahieren, was nicht zum jeweils zu regelnden Rechtsverhältnis gehört, weisen die Personenbezeichnungen keine spezifische, sondern eine generische Referenz auf. Dies rechtfertigt meines Erachtens eine Nichtanwendung dessen, was derzeit in Leitfäden als geschlechtergerechte Formulierung gilt. Selbst wenn auf natürliche Personen referiert wird, sind damit wohl meist Klassen von Personen gemeint, keine einzelnen konkreten Personen. (Dies gilt umso mehr für juristische Personen, wie eine GmbH, eine Stiftung, ein Arbeitgeber etc., die ja nicht auf lebende Personen referieren, sondern auf «personifizierte» Klassen von Objekten.)
Hinzu kommt, dass über das Grundgesetz eine Anwendungsregel hinsichtlich des Merkmals ‹Geschlecht› vorhanden ist, die besagt, dass Gesetze für Menschen aller Geschlechter gelten. Artikel 3 Absatz 1: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.» Ein Verständnis, nach dem in irgendeiner gesetzlichen Regelung nur Männer gemeint sein könnten, ist durch die Fachsprachlichkeit der Textsorte ausgeschlossen. Da keine Regelung allein steht, ist diese grundgesetzliche Norm eine Verstehens- oder Auslegungshilfe für die gesamte Rechtsordnung. Absatz 2 fügt dieser «absoluten» Norm eine «relative» hinzu: «Männer und Frauen sind gleichberechtigt.» Die Rechte von Frauen werden ins Verhältnis zu denen der Männer gesetzt. Es sollen explizit die gleichen Rechte sein. Und Absatz 3 komplettiert die Regelungen zu den Rechten der Geschlechter, indem er ein Diskriminierungsverbot etabliert: «Niemand darf wegen seines Geschlechtes […] benachteiligt oder bevorzugt werden.» Diesbezüglich wurde der gesamte Artikel 3 nicht geändert und es zeichnet sich auch keine Änderung ab. Daher erscheint mir meine Behauptung, dies – dass das Grundgesetz und alle anderen Gesetze auch für diejenigen Menschen gleichermassen gelten, die sich nicht in dieser […] Zweiteilung wiederfinden – sei vom Gesetzgeber ausdrücklich so gewollt, weiterhin nicht als gewagt (Rz 19 des Beitrags von Nussbaumer). Absatz 2 erster Satz geht direkt auf die Mütter des Grundgesetzes zurück, ohne sie wäre diese ausdrückliche Gleichstellung in Bezug auf Männer nicht ins Grundgesetz gekommen (vgl. «Mütter des Grundgesetzes»). Diese programmatische Regelung existiert also seit 1949. Später – im Zuge des Beitritts der DDR zur BRD – hinzugefügt wurde der konkretisierende zweite Satz: «Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.»
Artikel 3 des Grundgesetzes wirkt damit innerhalb der gesamten Rechtsordnung wie eine Art Gender-Klausel. Damit ist eine Auslegung, nach der in irgendeiner Regelung nur Männer gemeint sein sollen, keine sinnvolle Auslegung. Ist ausschliesslich der Bezug auf Männer gewollt, müsste dies ebenso ausdrücklich formuliert sein wie ein ausschliesslicher Bezug auf Frauen oder auf Intersexuelle. Solange dies nicht explizit formuliert ist, sind Personen jedes Geschlechts umfasst. Diese Sichtweise ist nicht nur die traditionelle – dieses Argument könnte leicht beiseitegeschoben werden –, sondern auch die «dominante Haltung, was die französisch- und die italienischsprachige Rechtsetzung des Bundes [in der Schweiz] betrifft» (Rz 13 des Beitrags von Nussbaumer). Hält man die dortigen wie die bundesdeutschen Legisten (einschliesslich der entsprechenden Gesetzesredaktionen) grundsätzlich auch für fähig, es «richtig» zu machen (Rz 15 des Beitrags von Nussbaumer), dann muss deren Nicht-so-Gendern wohl absichtsvoll sein. Ein Grund könnte darin liegen, dass es nicht darum geht, sich «mit Verweis auf Rechtssystematik und Fachsprachlichkeit und Rechtsförmlichkeit zum Vornherein gewisse Möglichkeiten verbieten [zu] lassen» (Rz 15 des Beitrags von Nussbaumer), sondern dass umgekehrt Rechtssystematik und Fachsprachlichkeit Gründe sind, gerade nicht im verbreiteten Sinne zu gendern. Denn durch diese Textsortenmerkmale umfassen die Personenbezeichnungen in Gesetzen Personen jedes Geschlechts, solange der Inhalt der Regelung nicht nur ein bestimmtes Geschlecht betreffen soll – was dann mit einer eindeutigen Formulierung auszudrücken wäre. Ein weiterer Grund könnte sein, dass das oben genannte Bündel an Merkmalen die Textsorte ‹Gesetz› zu einer eher «fixierten» Textsorte macht. Veränderungen in dieser formalisierten Art von Texten, die immer Teil eines grösseren Gesamttextes (der Rechtsordnung) sind, bleiben fast nie folgenlos. Das bekommen auch die professionellen «Verständlichmacher» in ihrem täglichen Bemühen zu spüren: Fast alle Änderungen auf der Textoberfläche ziehen andere nach sich. Daher werden sie oft auch so vehement abgelehnt, und nur klar überzeugende Umformulierungen und Umstrukturierungen der Gesetzesredaktion werden akzeptiert – weil der Gewinn an Verständlichkeit und Anwenderfreundlichkeit die Mühe der Änderung rechtfertigt. Ein weiterer Grund: Eine derart «fixierte» Textsorte, die so wenig Spielraum für Veränderungen jeder Art bietet, ist auf effiziente Sprachformen angewiesen. Generische Formen (nicht nur das Maskulinum) sind effizient und höchst geeignet für Texte, die vorzugsweise auf Gruppen von Personen Bezug nehmen, in denen das Geschlecht keine Rolle spielt. Das Sprachsystem bietet also derartige Formen bereits, neue zu suchen oder zu erfinden ist hier gar nicht nötig. Dass die Textsorte ohnehin zu den schwerverständlichen gehört, macht sie nicht geeigneter für Neuerungen. Vielmehr sollte in einer speziellen Textsorte auch mit Blick auf die Geschlechtergerechtigkeit besonders vorgegangen werden. Die Textsortenmerkmale sollten umgekehrt als Verstehenshilfe genutzt werden, statt sie zu dehnen oder gar zu überdehnen. Rechtssystematische Gepflogenheiten (inkl. der «Gender-Klausel»-Funktion von Art. 3 des Grundgesetzes) können gut «erklären» (Fix 1998), dass Personenbezeichnungen nicht wie etwa in einer persönlichen Gesprächssituation, sondern generisch zu verstehen sind.
Würde man sein Handeln (und Formulieren) so begründen, wäre die Sprache der Gesetze nicht in ein «Reservat des ausschliesslichen generischen Maskulinums» verbannt (Rz 14 des Beitrags von Nussbaumer), sondern würde weiterhin gemäss den Textsortenmerkmalen verwendet. Dazu wäre allerdings meines Erachtens auch eine stärkere Popularisierung dieser Merkmale nötig, z. B. über deren Erklärung und Verteidigung im öffentlichen Diskurs.
5.
Fazit ^
Derzeit wird der Diskurs um geschlechtergerechte Sprachformen heftig geführt. Verbreitet haben sich vor allem die Paarform und andere paarige Formen. Da es verschiedene, auch einander widersprechende Forderungen und Vorschläge dazu gibt, welche Sichtweise auf Geschlecht angestrebt werden sollte, ist momentan auch nicht absehbar, welche sprachlichen Formen sich durchsetzen werden. Die fixierte und «schwere» Textsorte ‹Gesetz› braucht effiziente Personenbezeichnungen. Da es zum Wesen dieser Texte gehört, nicht auf spezifische Einzelpersonen, sondern auf Klassen und Arten von Personen zu referieren, eignen sich generische Formen als Personenbezeichnungen in Gesetzen. Dies bedeutet kein «konsequentes Zurück zum generischen Maskulinum» (Rz 11 des Beitrags von Nussbaumer), sondern das bewusste Verwenden dieser wie auch anderer generischer Formen. Ein anderer Referenztyp ist hingegen im Bereich der Prüfungs- und Ausbildungsverordnungen zu finden, da hier nicht-spezifisch auf Personen referiert wird, die später z. B. auch bestimmte Abschlüsse von Bildungsgängen oder Titel als Eigenbezeichnung verwenden werden. Daher sind hier nicht nur generische Formen anzutreffen.
Mit Blick auf die Textsortenmerkmale und die ihnen innewohnende Referenz auf Personen-Klassen – oft mittels generischer Personenbezeichnungen – kann man Gesetzen auf der Formulierungsebene einen hohen Grad an Geschlechtergerechtigkeit bescheinigen. Eine Änderung des Sprachgebrauchs durch den Einsatz von Paarform etc. ist meines Erachtens weder nötig noch sinnvoll. Dass es möglich ist, Paarformen in Gesetzen zu nutzen («geht doch!»-Argument), reicht angesichts der Deutungsmacht der Textsorte auch mit Blick auf Personenbezeichnungen nicht als Rechtfertigung für ihren Einsatz aus. Für mich heisst «wenn man es richtig macht» (Rz 15 des Beitrags von Nussbaumer) Handeln in Kenntnis der Gepflogenheiten und Merkmale dieser Textsorte, daher komme ich beim Gendern zu einem anderen Schluss als Markus Nussbaumer.
Was die Welt ausserhalb der Gesetzgebung betrifft, sollten die Bestrebungen, staatlicherseits in den Sprachgebrauch einzugreifen, nicht arg- und achtlos geduldet werden, da dies schon jetzt die individuelle Freiheit beim Benutzen der Sprache punktuell einschränkt.13
Wissenschaft und (zwischen-)staatliche Gremien sollten die Sprachentwicklung mit transparenten Korpusanalysen begleiten. Allerdings nicht in der bisher vom Rechtschreibrat und vom Rezensenten vertretenen Denkrichtung (was alles möglich ist). Die Analysen sollten belegen, welche Personenbezeichnungen in welchen Textsorten (ausserhalb der Verwaltung) tatsächlich verwendet werden. Bis dahin muss auch die aus meiner Sicht recht gewagte Aussage aus der Rezension, die Paarform sei ein «taugliches Zeichen, um Diversität zu markieren», als pure Behauptung stehen bleiben. Angesicht der erwartbaren Vielfalt an Referenzvarianten sollte der Staat Abstand davon nehmen, auf diesem sensiblen Gebiet der Personenbezeichnungen mittels seiner Verwaltung in den Sprachgebrauch einzugreifen.
Der Beitrag von Gesetzen zur Gleichberechtigung der Geschlechter kann ihrer Funktion entsprechend eher im Inhalt der Regelungen liegen als in der Art ihrer Formulierung. So würden Menschen jedes Geschlechts nicht nur mitgemeint, nicht nur mitgesagt, sondern wirklich gleichberechtigt. Ein möglicher Ansatzpunkt, die tatsächliche Gleichberechtigung mithilfe der Gesetzgebung zu befördern, läge in einer echten geschlechterbezogenen Gesetzesfolgenabschätzung. Die Redaktion von Gesetzen kann dafür kein Ersatz sein – aber das ist wie gesagt schon wieder eine Frage der Weltanschauung. Die Gesetzesredaktion kann höchstens darauf aufmerksam machen, wenn diese Abschätzung nur floskelhaft vorgenommen wird.14
Auf Korpusanalysen gestützt sollten aus dem Sprachgebrauch in der «sonstigen» Welt für die Textsorte ‹Gesetz› nicht dieselben Schlüsse gezogen werden wie für andere Textsorten (z. B. für Schreiben vom Amt). Nicht, um der Gesetzessprache einen neuen «besonderen Status» zu geben – den hat sie bereits mit all den Eigenschaften, die diese Texte so wichtig, aber auch so schwer zu verstehen und zu verändern machen. Vielleicht lässt die Schweizer Herangehensweise die Gesetzessprache ein bisschen weniger besonders sein. Ziel meines Gedankengangs ist es, die Gesetzessprache innerhalb der Entwicklung der Allgemeinsprache zu sehen – damit für diese spezielle Textsorte ein spezielles Vorgehen gewählt und nach aussen erklärt werden kann.
Die Debatte wird, von ihren Akteuren betrieben und von der Wissenschaft beobachtet, weitergehen und wohl noch etliche Seufzer hervorrufen. Ich würde mich freuen, würde dieser Beitrag als «eingreifendes Denken» im Brecht’schen Sinne verstanden.
Antje Baumann, Dr., Referentin im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Berlin, baumann-an@bmjv.bund.de
6.
Literaturverzeichnis ^
- Baumann, Antje (2017): Gendern in Gesetzen? – Eine spezielle Textsorte und ihre Grenzen, in: Meinunger, André/Baumann, Antje (Hrsg.) (2017): Die Teufelin steckt im Detail. Zur Debatte um Gender und Sprache, Kadmos, Berlin, S. 196–226.
- Baumann, Antje (2018a): Rechtstexte als Barrieren – Einige Merkmale der Textsorte «Gesetz» und die Verständlichkeit, in: Maaß, Christiane/Rink, Isabel (Hrsg.), Handbuch Barrierefreie Kommunikation, Berlin, S. 679–702.
- Baumann, Antje (2018b): XY ungelöst – die Geschlechterfrage zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Sprache, in: Fröhlich, Constanze/Grötschel, Martin/Klein, Wolfgang (Hrsg.): Abecedarium der Sprache, Kadmos, Berlin., S. 241–249, Fragebogen zu Sprache und Geschlecht auch unter: www.kulturverlag-kadmos.de/artikel/xy-ungeloest-ein-fragebogen-zu-sprache-und-geschlecht-im-abecedarium-der-sprache.html (Abruf am 16. März 2019).
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2018): Mütter des Grundgesetzes, Berlin, online unter: www.bmfsfj.de/blob/94392/a08ba3acb99425d436adddc1e745a45f/muetter-grundgesetz-data.pdf (Abruf am 17. März 2019).
- Busch, Wilhelm (1959): Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I–IV, Band 2, Hamburg, S. 8.
- Diewald, Gabriele/Steinhauer, Anja (2017): richtig gendern: wie Sie angemessen und verständlich schreiben, Duden, Berlin.
- Doleschal, Ursula (1992): Genus und (Ko-)Referenz, in: Reuther, Tilmann (Hrsg.), Slavistische Linguistik 1991, Sagner, München, S. 123–135.
- Eisenberg, Peter (2018): Zwanzig Jahre – Was wird aus der deutschen Orthografie?, in: Fröhlich, Constanze/Grötschel, Martin/Klein, Wolfgang (Hrsg.), Abecedarium der Sprache, Kadmos, Berlin. S. 263–270.
- Fix, Ulla (1998): Die erklärende Kraft von Textsorten. Textsortenbeschreibung als Zugang zu mehrfach strukturiertem – auch kulturellem – Wissen über Texte, in: Linguistica XXXVIII,1, Ljubljana, S. 15–27.
- Nussbaumer, Markus (2018): «Gendern» in Gesetzen, in: LeGes 29 (2018) 1.
- Sieburg, Heinz (2015): «Geschlecht» in Literatur und Geschichte: Bilder – Identitäten – Konstruktionen, Bielefeld.
- Stefanowitsch, Anatol (2018): Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen, Duden, Berlin.
- Wittgenstein, Ludwig (2001, zuerst 1953): Philosophische Untersuchungen, kritisch-genetische Edition, Schulte, Joachim (Hrsg.), Frankfurt a. M., zit. PU.
- Wizorek, Anne/Lühmann, Hannah (2018): Gendern?!, Gleichberechtigung in der Sprache – ein Für und ein Wider, Duden, Berlin.
- 1 Vgl. «Warum die Gendersternchen-Debatte so deprimierend ist», Welt, 8. Juni 2018.
- 2 Wie viele solcher Leitfäden und Handreichungen zum geschlechtergerechten Formulieren es im deutschsprachigen Raum gibt, kann ich nicht sagen, ich kenne Dutzende, die einander sehr ähneln, oft auch dieselben Beispiele nutzen.
- 3 Bundesgerichtshof: Urteil des VI. Zivilsenats vom 13. März 2018 - VI ZR 143/17; Bundesverfassungsgericht: Beschluss des Ersten Senats vom 10. Okt. 2017 – 1 BvR 2019/16 – Rn. 1–69.
- 4 Vgl. Begründung der Wahl auf www.anglizismusdesjahres.de/anglizismen-des-jahres/anglizismen-des-jahres-adj-2018/.
- 5 Ewiggestrige und Misogynisten: oft, also leicht zu finden; Witzfiguren usw.: «Oh, fuck off», taz, 7. März 2019.
- 6 Linguistisch differieren, stellvertretend für viele, etwa Eisenberg, Stefanowitsch oder eben Pusch; hinsichtlich der zu verfolgenden Ziele und der geeigneten sprachlichen Formen gibt es Unterschiede z. B. auch zwischen Luise F. Pusch («Fühlen Sie sich mitgemeint!») und Alice Schwarzer im Kommentar dazu («Sprache und Menschen») in der Emma vom 5. Feb. 2019.
- 7 Hinzu kommt, dass dieser Diskurs, in dem immer (mindestens) 2 grundsätzliche Fragen zugleich verhandelt werden (wie das Verhältnis von Genus und Sexus gesehen oder verstanden wird und ob man einen veränderten Sprachgebrauch als sinnvolles Mittel sieht, die Gleichberechtigung zu befördern), ausserdem noch verbunden ist mit anderen Diskursen, etwa dem Sexismus-Diskurs. Auch dieser wird heftig geführt, vgl. die Debatte um das Eugen-Gomringer-Gedicht «Avenidas» an der Fassade einer Berliner Hochschule, das nach Sexismus-Vorwürfen dort entfernt – und später an einem anderen Hochhaus im selben Bezirk wieder installiert wurde. Siehe z.B. «‹Blumen und Frauen› sind wieder da», Süddeutsche Zeitung, 22. Feb. 2019, oder den «Pressespiegel über die Debatte der Hochschulfassade» [sic] (Abruf 16. März 2019).
- 8 Vgl. z.B.: Mein Beitrag zur Publikation … ist noch nicht ganz fertig. … wäre es vielleicht möglich, ihn wenige Tage später einzureichen?
- 9 Darauf macht u. a. der Genderbefürworter Stefanowitsch aufmerksam in «Geschlechtslos in Hannover», Die Zeit, 26. Jan. 2019.
- 10 Nicht nur Sieburg (2015, 213) sieht diesen Prozess als Grund für eine Bedeutungsveränderung der früher generischen Bezeichnung, andere betonen die Sexualisierung von bisher Sexus-freien Texten durch den Gebrauch von Paarform und Binnen-I.
- 11 Der Rechtschreibrat verweist vage auf Korpusanalysen, erläutert sie jedoch nicht und legt sie auch nicht offen, vgl. Bericht und Vorschläge der AG «Geschlechtergerechte Schreibung» zur Sitzung des Rats für deutsche Rechtschreibung am 16. Nov. 2018.
- 12 Vgl. Margit wollte damals noch Juristin werden. vs. Es ist nützlich, einen Juristen in der Familie zu haben. vs. Juristen gelten ja als sehr sprachsensibel.
- 13 So etwa, wenn Eigenbezeichnungen angegriffen werden oder wenn von Redaktionen und Verlagen in sogenannten «style sheets» die Ausdrucksform für Texte vorgegeben wird: «AutorInneninformation: Wir bitten um geschlechtergerechte Formulierungen und der [sic] Verwendung des Binnen-I: StudentInnen, LehrerInnen, …» (Ruhr-Uni Bochum, 2018). Oder wenn Seminararbeiten zurückgewiesen werden, weil nicht auf eine bestimmte Weise geschlechtergerecht formuliert wurde.
- 14 Auch bei der Regelung über Informationen zu Abtreibungen (§ 219a des Strafgesetzbuchs) wurde z. B. an der vorgesehenen Stelle nur konstatiert, dass Frauen und Männer von diesem Entwurf in gleicher Weise betroffen seien.