Liebe Leserinnen und Leser
Die vorliegende Ausgabe enthält – unter anderem – Beiträge zu zwei ganz unterschiedlichen Themenkreisen, nämlich einerseits quasi handwerklichen Aspekten des richterlichen Alltags und andererseits zu Stellung, Wahl und insbesondere Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter.
Auf das Handwerk ausgerichtet sind zwei Abschlussarbeiten aus dem Lehrgang «Judikative» der schweizerischen Richterakademie: Die Studie von Martina Schmid zur gerichtlichen Vergleichsverhandlung ist ein – reflektierter und analytisch aufbereiteter – Leitfaden von den Interessenlagen über Vorbereitung, Verhandlungsablauf und -führung bis zu den der Richterin und dem Richter zur Verfügung stehenden Instrumenten der Vergleichsverhandlung. «Dolmetschen vor Gericht» von Martin Knüsel sodann stellt die wegweisende Zürcher Dolmetscherverordnung vor, behandelt die rechtlichen Grundlagen und insbesondere die Anforderungen an die dolmetschende Person sowie deren konkrete Einbeziehung ins Gerichtsverfahren. Abgerundet wird die handwerkliche Thematik durch die Rezension von Axel Tschentscher, der die dritte Auflage der Methodenlehre von Ernst A. Kramer (zu Recht) auch den der Ausbildung längst Entwachsenen empfiehlt.
Direkt auf die Frage der Unabhängigkeit zielt der Beitrag von Matthias Burghardt (Richter an einem deutschen Oberlandesgericht) «Richter und parteipolitisches Engagement». Er untersucht die Frage, ob unter dem Aspekt der Unabhängigkeit die richterliche Tätigkeit vereinbar sei mit einem parteipolitischen Engagement (Rz 6) oder nur schon mit parteipolitischer Mitgliedschaft (Rz 1), letzteres für hiesige Verhältnisse wohl eine eher brisante Fragestellung. Seine – differenzierte – Antwort sei hier nicht vorweggenommen. Gleiches gilt für den Beitrag von Hans-Jakob Mosimann, Präsident des Sozialversicherungsgerichts (und Mitglied der Redaktion), in dessen im November 2010 am Tag der Richterinnen und Richter gehaltenen Referat das Spannungsfeld zwischen Leistungsbeurteilung und richterlicher Unabhängigkeit ausgelotet wird. Einen Vorfall besonderer Art schildert der Beitrag von Pierre Zappelli, auch er Mitglied der Redaktion: Im Kanton Freiburg hat ein Systemwechsel stattgefunden, von der Wahl auf Amtszeit zur einmaligen Wahl bis zum Altersrücktritt. Ein solchermassen wieder- und letztmals gewählter Richter ist nach erfolgter Wahl aus seiner Partei ausgetreten, um seine richterliche Unabhängigkeit zu bekräftigen, und wurde daraufhin von seiner Partei zum Rücktritt aufgefordert. Darüber hinaus wurde in Erwägung gezogen, den eben erfolgten Wechsel im Wahlsystem rückgängig zu machen. Solches erachtet die Redaktion von «Justice – Justiz – Giustizia» als bedenklich: Bei der Wahl auf (relativ kurze) Amtszeiten hängt das Damoklesschwert der baldigen Wahl (oder Nichtwiederwahl) durch eine politische Behörde über den Richterinnen und Richtern, was einen potentiellen Disziplinierungseffekt hat. Die einmalige Wahl bis zum Altersrücktritt hat keinen solchen unerwünschten Effekt. Wenn eine Partei mit der Wahl ohne Wiederwahlerfordernis eine für sie unerspriessliche Erfahrung gemacht hat, ist dies unseres Erachtens kein Grund, dieses (bessere) Wahlsystem wieder durch das alte zu ersetzen.
Ebenfalls mit institutionellen Aspekten befassen sich schliesslich zwei Rezensionen: Aldo Elsener bespricht die Dissertation, die Udo Hochschild nach Beendigung einer langjährigen Richtertätigkeit zur Frage der Gewaltenteilung verfasst hat. Hochschild sieht sie in Deutschland nicht respektiert, weil die Exekutive über (unter anderem) die Personalgeschäfte der Judikative entscheidet, die Regierung mithin die Verwaltungsrichterinnen und -richter berufen und befördern kann, die sie kontrollieren (sollen). DassHochschild dabei unter anderem das hiesige System der Volkswahl als positives Gegenbeispiel erwähnt, mag darauf hinweisen, dass insoweit das Ei des Kolumbus noch nicht gefunden sein dürfte. Noch einmal anders sind die Verhältnisse in den USA. Dies wird deutlich im von Walter Haller besprochenen und als ausgesprochen lesenswert empfohlenen Buch des US Supreme JusticeStephen Breyer (Making Our Democracy Work: A Judge’s View).
Schliesslich in eigener Sache: Auf Ende 2010 ist Anne Colliard aus der Redaktion ausgeschieden. Anne Colliard, seit 1991 Generalstaatsanwältin des Kantons Freiburg und nunmehr im Ruhestand, hat der Redaktion seit Bestehen von «Justice – Justiz – Giustizia» angehört und sie hat dieser Publikation viele wertvolle Impulse gegeben, für die wir ihr ganz herzlich danken. Gleichzeitig begrüssen wir Emanuela Epiney-Colombo, Präsidentin der zweiten Zivilkammer des Appellationsgerichts des Kantons Tessin und bisherige Tessiner Korrespondentin als neues Mitglied der Redaktion und heissen sie herzlich willkommen.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.
Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli