Liebe Leserinnen und Leser
Sind ethische Normen in einem Gericht notwendig? Wie können sie in ausserordentlich umfangreichen oder komplexen Verfahren berücksichtigt werden? Alain Chablais präsentiert die neue Ethikcharta des Bundesverwaltungsgerichts und den Entstehungsprozess derselben. Das Dokument enthält nach eine Präambel vier Kapitel zu den grundlegenden Anforderungen an die richterliche Tätigkeit (Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Sorgfaltspflicht und Kollegialität) sowie ein Kapitel zur Führungskultur, der im grössten Gericht der Schweiz eine zentrale Bedeutung zukommt. Zu diesem Thema äussern sich auch Andrea Titz in ihrem Beitrag über den Stand berufsethischer Diskussion in Deutschland sowie Thomas Wallimann-Sasaki, der als Sozialethiker das Bundesverwaltungsgericht auf seinem Weg zur Ethikcharta begleitet hat.
Der kanadische Richter Marc Richard präsentiert die Instrumente, welche der Richterschaft in Kanada zur raschen Lösung ethischer Probleme aus der täglichen Praxis zur Verfügung stehen. Dabei geht er insbesondere auf die informellen und vertraulichen Stellungnahmen des Canadian Advisory Committee on Judicial Ethics ein.
Richter befassen sich im Rahmen ihrer Arbeit auch mit Fällen von Stalking, es kommt aber auch vor, dass sie selbst Opfer solchen Verhaltens sind. Welche Mittel stellt das schweizerische Recht den Opfern von Stalking zur Verfügung? Emanuela Epiney-Colombo präsentiert die aktuelle Rechtslage im Straf- und Zivilrecht.
Das Management komplexer Fälle bildet Gegenstand des wissenschaftlichen Beitrags von Michael Beusch, Salome Zimmermann und Keita Mutombo zu den UBS-Amtshilfeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Autoren behandeln spezifischen Probleme solcher Fälle, insbesondere die interne Organisation (Mittelbeschaffung, Vertraulichkeit, Logistik), Koordination der Rechtsprechung und die Zusammenarbeit in Gruppen. Sie erläutern, wie das Bundesverwaltungsgericht die Flut von 380 Beschwerden bewältigen konnte und welche Lehren daraus gezogen werden können.
Der Umgang mit komplexen Fällen wird auch in zwei weiteren Beiträgen behandelt: Rainer Hohler erläutert, wie das Bezirksgericht Bülach den Swissair-Strafprozess geführt hat und gibt praktische Ratschläge zur effizienten Bewältigung solcher Prozesse. Marc Steiner beleuchtet das Thema aus Sicht des Wirtschaftsverwaltungsrechts und stellt Überlegungen zur Auslegung verfahrensrechtlicher Vorgaben an, insbesondere zur Mitwirkung der Gerichtsschreiber in Fällen, in denen eine gut funktionierende Teamarbeit aufgrund des Aufgabenumfangs unabdingbar ist.
Die vorliegende Ausgabe der Richterzeitung enthält zudem diverse Beiträge aus Zeitungen und Online-Medien zu stets aktuellen Themen wie der richterlichen Unabhängigkeit oder der Qualität und Objektivität der Gerichtsberichterstattung. Denis Masmejan zeigt die Schwierigkeiten des Gesetzgebers im Rahmen der parlamentarischen Initiative zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf. Weiter wird über die neu gewählten Bundesrichter und Änderungen in der kantonalen Justizorganisation informiert.
Aus Deutschland wird über die Wahl eines neuen Präsidenten des Bundesfinanzhofes, aus Schweden über die Unvoreingenommenheit eines Richters trotz Mitgliedschaft in einer Vereinigung für den Schutz des geistigen Eigentums und aus den USA über den Vorschlag zur parlamentarischen Vorladung von Bundesrichtern berichtet.
Schliesslich finden sich in der vorliegenden Ausgabe Berichte aus den Richtervereinigungen auf schweizerischer, europäischer und internationaler Ebene: In der SVR-ASM Kolumne wird das European Judicial Training Network (EJTN) vorgestellt und aus der europäischen Richtervereinigung wird über die beiden diesjährigen Tagungen berichtet. Nebst einem Beitrag zur Jahresversammlung der Internationalen Richtervereinigung wird über die Diskussionen und Schlussfolgerungen aus den vier Studienkommissionen rapportiert.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.
Emanuela Epiney-Colombo, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli