Liebe Leserinnen und Leser
Die vorliegende Ausgabe der Richterzeitung befasst sich schwerpunktmässig mit dem Thema Dissenting Opinion. Katalin Kelemen diskutiert im Science-Beitrag das Phänomen der abweichenden Meinung und ihrer Bekanntgabe bei der Urteilsverkündung aus rechtsvergleichender Perspektive. Dabei legt sie den Fokus auf die europäischen Verfassungsgerichte, die zum grossen Teil die Begründung von abweichenden Meinungen (und deren Bekanntgabe) zulassen. Was sind die häufigsten Argumente für die Zulassung der Dissenting Opinion, was spricht dagegen? In welchem Verhältnis steht dieses Institut zu Verfassungsprinzipien wie etwa der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtssicherheit? Und was ist dessen «persönliche Dimension», also die Auswirkung auf die Ansicht der Richterinnen und Richter?
In Forums-Beiträgen wird das Thema Dissenting Opinion unter weiteren Aspekten diskutiert: Felix Schöbi stellt die Sicht eines Bundesrichters ins Zentrum. Justizöffentlichkeit bedeutet eine Absage an jede Form von Kabinettsjustiz. In einem auffälligen Spannungsverhältnis zum fulminanten Bekenntnis des Bundesgerichts zur Justizöffentlichkeit steht die eigene Praxis im Umgang mit abweichenden Meinungen (Dissenting Opinions). Nicolas von Werdt geht den Argumenten nach, die zugunsten einer vom Bundesrat vorgeschlagenen Neuerung sprechen. Danach sollen bei nicht einstimmig ergangenen Entscheiden des Bundesgerichtes begründete Minderheitsmeinungen (dissenting opinions) dem schriftlichen Entscheid als Anhang beigefügt werden können. Zu beachten ist dabei aber auch, dass eine derartige Neuerung mindestens teilweise auch in eine gegenläufige Richtung geht und dabei die eine gewaltenteilige Staatsorganisation ausmachenden Werte, wie etwa richterliche Unabhängigkeit, Rechtssicherheit und den Ruf nach Transparenz in der Entscheidfindung berührt. Könnte, angesichts des heutigen schweizerischen Systems der relativ kurzen Amtsdauer von sechs Jahren mit Wiederwahlerfordernis die richterliche Unabhängigkeit vermehrt unter Druck kommen? Thomas Stadelmann ergänzt in seinem Beitrag zum Schwerpunkt-Thema diese Ausführungen mit dem Vorschlag, die Einführung von Sondervoten als Alternative zu öffentlichen Beratungen zu prüfen. Wer hat Angst vor der Dissenting Opinion? fragt schliesslich die langjährig Gerichtsberichtserstatterin Brigitte Hürlimann. Sie begrüsst den neuen Aufschwung im Diskurs um das abweichende Urteilsvotum, denn gerichtliche Minderheitsmeinungen bereichern die Diskussion innerhalb und ausserhalb der Rechtssphäre, führen zu mehr Transparenz und Rechtssicherheit und zeigen auch Nichtjuristinnen und -juristen anschaulich auf, wie um das «richtige Urteil» gerungen wird.
In zwei weiteren Science-Beiträgen findet befasst sich zum einen Rainer J. Schweizer kritisch mit der Reform der Bundesgerichtsbarkeit. Mit der beantragten Änderung sollen einige bedeutsame Verbesserungen am 2005 beschlossenen Prozessrecht vorgenommen werden, doch gibt es auch eine Reihe von Anträgen, die zwar auf eine neuerliche Entlastung des Bundesgerichts zielen, jedoch zu weiteren Einschränkungen des Zugangs zum Bundesgericht führen. Zum anderen untersucht Mark Schweizer die Praxis der Vergleichsverhandlungen unter Leitung des Gerichts oder einer Gerichtsdelegation. Gesetzlich sind Zeitpunkt und Ablauf dieser Verhandlungen kaum geregelt. Vorliegende Untersuchung beleuchtet durch eine Umfrage, an der 56 Gerichtspersonen aus 16 Kantonen teilgenommen haben, die Rechtswirklichkeit der gerichtlichen Vergleichsverhandlung in der Schweiz.
Weitere Forums-Beiträge befassen sich mit dem Mythos und der Realität des «Roboter-Richters», mit der Reform der Bundesgerichtsbarkeit sowie mit Richterwahlen, Rechtsprechung und Parteipolitik am US-Supreme Court. Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer begrüsst die Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes, welche nun endlich am 15. Juni 2018 erschienen ist (BBl 2018 S. 4605 ff.), und plädiert dafür, die seiner Meinung nach einzige, aber wirklich nötige Korrektur an der Botschaftsvorlage vorzunehmen, nämlich die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ersatzlos zu streichen. Unter der römisch-rechtlichen Parömie «Da mihi factum, dabo tibi ius» fragt sich François Paychère, zu was sich das Amt des Richters und der Richterin entwickelt. Wird der Einbruch von «Big Data» und der künstlichen Intelligenz zu einer Neuverteilung der Karten führen? Wer wird in Zukunft die Information erwerben, verstehen, beherrschen und gebrauchen? Was wird die Aufgabe der Richterin, des Richters in einer Welt sein, die mit automatisch generierten Fakten und Bewertungen (und seien sie nur als Vorschläge verstanden) «überflutet» wird? Wird es etwa analog zur «smart city» ein «smart law» geben? Nach Christian Kölz steht der Supreme Court als Institution vor grossen Herausforderungen nach der Bestätigung von Brett Kavanaugh als Associate Justice durch den Senat. Daniel Kettiger fasst, anhand einer Urteilsbesprechung, die aktuelle Bundesgerichtspraxis zur Spruchkörperbildung im Lichte von Art. 30 Abs. 1 BV zusammen und Stephan Gass bespricht ein Urteil des Justizgerichts des Kantons Aargau zu einem Ausstandsbegehren gegen ein Mitglied des Handelsgerichts.
Anastasia Falkner berichtet in der SVR Kolumne über das zweite Deutsch—Schweizer Justizseminar. Martin Schmied schreibt über die jährliche Zusammenkunft der Permanent Study Group «Justice and Court Administration» in Lausanne (im Rahmen der European Group for Public Administration [EGPA]). Levent Arslan (Pseudonym), informiert über den aktuellen, bedenklichen Zustand des türkischen Justizsystems.
Jeremias Fellmann rezensiert das von Thomas Stadelmann herausgegebenen Buch Democracy Falling Apart, welches ein beklemmendes Bild eines Staates, der Türkei, aufzeigt, dessen demokratische Strukturen der Erosion preisgegeben sind. Fellmann bespricht auch die Dissertation von Georg Grünstäudl über die Richterwahl und Richterausbildung in Österreich und der Schweiz im Systemvergleich. Hans-Jakob Mosimann untersucht das von Heiko Maas herausgegebene Buch «Furchtlose Juristen – Richter und Staatsanwälte gegen das NS-Unrecht», das in Umkehr von Ingo Müllers 1987 erschienenen Standardwerks «Furchtbare Juristen» von furchtlosen Juristen berichtet, also solchen, die sich – im Gegensatz zum Gros der deutschen Richter und Staatsanwälte – in ihrem Amt dem Unrecht der nationalsozialistischen Herrschaft widersetzt haben.
Juria mit der Auswahl der Venice Commission Observatory über die weltweite Medienberichterstattung zur Verfassungsgerichtsbarkeit – insbesondere sei hier auf den Artikel «European Commission sues Poland for Supreme Court take-over» hingewiesen – und das Update 46 zur Bibliographie zum Richterrecht runden diese Ausgabe der Richterzeitung ab.
Und Juria weist noch auf etwas Weiteres hin: Bundesrichter Thomas Stadelmann, Mitherausgeber und Redaktionsmitglied der Richterzeitung, wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Basel die Ehrendoktorwürde verliehen. Damit würdigt die Universität dessen langjähriges, grosses Engagement im Dienste der richterlichen Unabhängigkeit in der Schweiz wie im Ausland. Die Redaktion freut sich sehr über diese Ehrung und gratuliert Thomas Stadelmann dazu ganz herzlich.
Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern bei der Lektüre dieser Ausgabe viel Vergnügen.
Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann