Liebe Leserinnen und Leser,
das Jahr neigt sich dem Ende zu und wir freuen uns, Ihnen eine neue Ausgabe der Richterzeitung präsentieren zu können.
Matthias Kradolfer erörtert in seinem interessanten Beitrag den Aspekt der Interdisziplinarität in der Rechtswissenschaft, indem er die verschiedenen Formen und Anwendungsbereiche interdisziplinären Wissens aufzeigt und die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Probleme einordnet. Der Autor lädt mit verschiedenen Beispielen dazu ein, darüber nachzudenken, wann und inwieweit der Richter nichtjuristisches Wissen nutzt und heranzieht, um seine Entscheidungen zu begründen.
Edy Salmina befasst sich in einem auf Deutsch und Italienisch veröffentlichten Beitrag mit dem allgegenwärtigen Thema der Strafjustiz im medialen Ökosystem. Wenn die öffentliche Meinung über die Medien und die sozialen Medien bekanntlich geeignet ist, die Entscheidungsfindung der Menschen zu beeinflussen, ist diese auch geeignet, die Entscheidfindung bei Richtern und Staatsanwältinnen zu beeinflussen? Besteht eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz? Dieser Beitrag gibt uns Denkanstösse, damit wir diese Gefahr nicht bagatellisieren und wir uns des Problems der Medienbeeinflussung bewusst werden. Richter und insbesondere Staatsanwälte und Polizeibehörden sind davon betroffen. Medienbeeinflussung kann zu einer Politisierung der Strafjustiz führen und sich sogar auf das System der Richterwahlen auswirken. Die Problematik bedarf einer ständigen Diskussion und eines angemessenen Umgangs.
Jacqueline Covaci erörtert in ihrem Beitrag den Grundsatz der Unmittelbarkeit bei der Aufnahme von Personalbeweisen, der es dem Strafrichter, der Strafrichterin in erster Instanz, aber auch dem Berufungsgericht erlaubt, eine Partei oder einen bereits vernommenen Zeugen persönlich zu befragen, wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweises für die Urteilsfindung notwendig erscheint. In diesem Zusammenhang erörtert die Autorin Überlegungen zur Zeugenpsychologie, wie z. B. die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Partei oder eines Zeugen, oder die Frage, ob es ratsam ist, die Parteien oder andere Prozessbeteiligte viele Jahre nach den Ereignissen oder zum Schutz des Opfers persönlich zu vernehmen. Dabei weist die Autorin auch auf die Bedeutung der Tonaufzeichnung der Einvernahme hin, die für den Richter, die Richterin bei der freien Beweiswürdigung und der Wahrheitsfindung zweifelsohne ein Vorteil sein kann.
Peter Zihlmann analysiert in seinem Essay anhand einiger Werke der abendländischen Literatur der letzten 250 Jahre die Sicht der Schriftsteller auf die Richterinnen und Richter und stellt die interessante Frage, was uns diese Bilder in unserer heutigen Rechtskultur sagen könnten.
Aus dem benachbarten Deutschland berichtet Roland Kempfle über die Problematik der Massenverfahren, deren Belastung für die deutsche Justiz immer mehr zunimmt und die eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit, die psychische Gesundheit und die Motivation der Rechtspfleger darstellt. Die vom Deutschen Richterbund eingesetzte Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Verfassers hat daher Empfehlungen erarbeitet, die in dem Beitrag zusammengefasst sind. Die Empfehlungen werden von der politischen Seite begrüsst, die sich um Lösungen bemüht, insbesondere durch eine Erhöhung der Zahl der Stellen in der Justiz.
Auch in Österreich hat der Druck der Richtervereinigungen Früchte getragen, so dass für 2023 eine Aufstockung mehrerer Stellen bei Richtern, Staatsanwälten und anderen Justizbediensteten geplant ist. Dennoch werden die zusätzlichen Stellen nicht überall besetzt werden können, da es nicht genügend qualifizierte Bewerber gibt. Unsere österreichische Korrespondentin Yvonne Summer erläutert die Situation und die aktuellen Probleme. Zwei von der Österreichischen Richtervereinigung eingesetzte Arbeitsgruppen versuchen, Lösungen zu finden.
In der SVR-Kolumne befasst sich Marcel Ogg mit der Ethik-Kommission der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter (SVR) acht Jahre nach deren Gründung. Er erörtert deren Zweck, die Ursprünge und Funktionsweise und kommt auch auf kritische Punkte zu sprechen. Er plädiert schliesslich für eine stärkere Einbeziehung der Richterinnen und Richter in die Tätigkeit der Kommission.
Leonie Grob berichtet über die Ergebnisse der Jahreskonferenz der Permanent Study Group «Justice and Court Administration» der European Group of Public Administration (EGPA), die vom 6. bis 9. September 2022 in Lissabon stattfand, während Andreas Lienhard in groben Zügen die Ergebnisse der Jahreskonferenz der International Association for Court Administration (IACA) zusammenfasst, die vom 17. bis 20. Oktober 2022 in Helsinki stattfand.
Die 59. Aktualisierung der Bibliographie zum Richterrecht und die 22. Auswahl von Berichten aus den internationalen Medien des Venice Commission Observatory über die weltweite Rechtsprechung der Verfassungsgerichte runden diese Ausgabe ab.
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre und schöne Feiertage!
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann