Urteil des Bundesgerichts 2C_443/2020 vom 8. Oktober 2020

Bei fehlenden detaillierten Unterlagen ist oftmals einzig die Wiederverkaufspreismethode praktikabel

  • Traité par: Claude Grosjean / Ralf Imstepf
  • Catégories d'articles: Arrêt de principe
  • Domaines juridiques: TVA
  • Proposition de citation: Claude Grosjean / Ralf Imstepf, Urteil des Bundesgerichts 2C_443/2020 vom 8. Oktober 2020, ASA Online : Arrêt de principe
Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 2020 i.S. A GmbH gegen Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV (2C_443/2020) zum MWSTG 2009; Praxispräzisierung.

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Art. 24 Abs. 2 MWSTG, Drittvergleichsmethoden. Die Wiederverkaufspreismethode ist häufig die einzige praktikable Methode zur Bestimmung des Werts einer Leistung unter eng verbundenen Personen. Für die Anwendung der Kostenaufschlagsmethode fehlen regelmässig die Aufzeichnungen über die den Leistungen zugrundeliegenden Kosten, während die Anwendung der Preisvergleichsmethode an auf dem Markt vergleichbaren Leistungen scheitert. Eine Gewinnmarge von 10 % scheint vorliegend angemessen (E. 5.2.3).

Art. 24, al. 2, LTVA, méthodes de comparaison entre tiers. La méthode du prix de revente est souvent la seule méthode praticable pour déterminer la valeur dune prestation entre personnes étroitement liées. Pour lutilisation de la méthode du prix de revient majoré, le relevé des coûts qui sont à la base des prestations fait régulièrement défaut, tandis que lutilisation de la méthode du prix comparable sur le marché libre se heurte à la question de lexistence de prestations comparables sur le marché. Une marge bénéficiaire de 10 % semble appropriée dans le cas présent (consid. 5.2.3).

Art. 24 cpv. 2 LIVA, metodi di confronto con terzi indipendenti. Il metodo del prezzo di rivendita è spesso il solo attuabile per determinare il valore di una prestazione tra persone strettamente vincolate. Per applicare il metodo del costo maggiorato mancano spesso i giustificativi dei costi riferiti alle prestazioni, mentre lapplicazione del metodo del confronto del prezzo fallisce a causa della mancanza di prestazioni paragonabili sul mercato. Nel caso in esame un margine di utile del 10 per cento sembra adeguato (consid. 5.2.3).

2.

Sachverhalt ^

A.

Die A. GmbH bezweckt unter anderem den Betrieb eines Architekturbüros. Sie ist seit dem 1. April 2000 im Register der Mehrwertsteuerpflichtigen bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) eingetragen und verwendet die Saldosteuersatzmethode. Die A. GmbH handelt durch ihre beiden im Handelsregister eingetragenen einzelzeichnungsberechtigten Gesellschafter B. und C.

Die D. GmbH bezweckt die Erbringung von Dienstleistungen im Immobilienbereich. Sie ist seit dem 26. November 2012 im Register der Mehrwertsteuerpflichtigen bei der ESTV eingetragen und verwendet die Saldosteuersatzmethode. Die D. GmbH wird von B. als einzigem Gesellschafter und Geschäftsführer geführt.

Die E. GmbH bezweckt ebenfalls die Erbringung von Dienstleistungen im Immobilienbereich. Sie ist auch seit dem 26. November 2012 im Register der Mehrwertsteuerpflichtigen bei der ESTV eingetragen und verwendet die Saldosteuersatzmethode. Die E. GmbH hat C. als einzigen Gesellschafter und Geschäftsführer.

B.

Am 11. September 2017 führte die ESTV bei der A. GmbH eine Kontrolle betreffend die Steuerperioden 2012–2015 durch.

B.a. Die Kontrolle wurde mit der Einschätzungsmitteilung vom 5. Dezember 2017 abgeschlossen. Mit dieser Einschätzungsmitteilung setzte die ESTV die Steuerforderung für die Zeit vom 1. Januar 2012 bis zum 31. Dezember 2015 (Steuerperioden 2012–2015) gegenüber der A. GmbH auf gesamthaft Fr. 427’139.– fest und machte die Differenz zur deklarierten Steuer in der Höhe von Fr. 34’645.– zuzüglich Verzugszins geltend. Die ESTV begründete ihre Nachforderung mit nicht verbuchten und nicht versteuerten Leistungen der A. GmbH an die zwei eng verbundenen D. GmbH und E. GmbH. Mit Schreiben vom 30. Januar 2018 beantragte die A. GmbH, die Nachforderung gemäss Einschätzungsmitteilung vom 5. Dezember 2017 sei von Fr. 34’645.– auf Fr. 1’221.60 zu reduzieren. Subsidiär verlangte sie eine einlässlich begründete Verfügung. Sie brachte im Wesentlichen vor, sie habe weder der D. GmbH noch der E. GmbH Leistungen erbracht.

B.b. In der Folge erliess die ESTV am 25. März 2019 eine einlässlich begründete Verfügung. Dabei hielt sie an ihrer Einschätzungsmitteilung vom 5. Dezember 2017 fest und führte insbesondere aus, dass die D. GmbH und die E. GmbH ohne Personal und Mobilien ihre Geschäftstätigkeiten nicht erbringen könnten. Die ESTV begründete ihre Nachforderung erneut mit nicht verbuchten sowie nicht versteuerten Leistungen der A. GmbH an diese zwei eng verbundenen Gesellschaften. Sie berechnete den für eng verbundene Personen anwendbaren Drittpreis auf den von der D. GmbH und der E. GmbH ausgewiesenen Umsätzen abzüglich einer Gewinnmarge von 10 %. Bei der Berechnung der Steuer wandte sie den Saldosteuersatz von 6.1 % an.

B.c. Am 4. Mai 2019 erhob die A. GmbH gegen die Verfügung vom 25. März 2019 Einsprache und beantragte, diese im Sinne einer Sprungbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht weiterzuleiten. Die ESTV leitete die Eingabe vom 4. Mai 2019 umgehend an das Bundesverwaltungsgericht weiter. Die A. GmbH verlangte die Aufhebung der Verfügung der ESTV vom 25. März 2019 und die Reduktion der Steuerforderung um Fr. 33’424.40 auf Fr. 1’220.60. Das Bundesverwaltungsgericht trat auf die Sprungbeschwerde ein und wies diese mit Urteil vom 20. April 2020 ab. Im Wesentlichen erwog es, die A. GmbH habe den mit ihr eng verbundenen Gesellschaften mehrwertsteuerlich relevante Leistungen erbracht, ohne diese in ihren Geschäftsbüchern zu verbuchen und als Umsatz zu versteuern. Diese Leistungen würden, auch wenn hierfür jeweils kein Entgelt vereinbart worden sei, unter unabhängigen Dritten eine Gegenleistung auslösen.

C. ...

3.

Aus den Erwägungen ^

1.–2. ...

3.

Gegenstand des vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahrens ist die Frage, ob von der Beschwerdeführerin zugunsten der D. GmbH und der E. GmbH Leistungen im mehrwertsteuerlichen Sinne erbracht worden sind, für die ein unabhängiger Dritter ein Entgelt geleistet hätte. Demgegenüber ist unbestritten, dass es sich aus Sicht der Beschwerdeführerin bei der D. GmbH und der E. GmbH aufgrund der Stellung ihrer Gesellschafter und Geschäftsführer um eng verbundene (juristische) Personen im Sinne von Art. 24 Abs. 2 MWSTG in Verbindung mit Art. 3 lit. h MWSTG handelt (vgl. auch Ziff. A hiervor).

3.1. Die Vorinstanz erwägt, die Bilanzen und Erfolgsrechnungen der D. GmbH und E. GmbH wiesen unbestrittenermassen weder ein Anlagevermögen noch Aufwände im Zusammenhang mit EDV-Geräten, Löhnen oder sonstigen Infrastrukturkosten auf. Wie ohne jegliche Infrastruktur und Personalaufwand selbst blosse Vermittlungsleistungen möglich sein sollten, erschliesse sich der Vorinstanz – entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin – nicht. Die ESTV gehe daher zu Recht davon aus, dass die für die Geschäftstätigkeit der D. GmbH und E. GmbH erforderlichen Leistungen von der Beschwerdeführerin erbracht worden seien. Diese Leistungen hätten aufgrund des Leistungsaustauschs bei der Beschwerdeführerin beim Ertrag verbucht werden müssen, da die Leistungsverhältnisse, auch wenn hierfür jeweils kein Entgelt vereinbart worden sei, unter unabhängigen Dritten eine Gegenleistung ausgelöst hätten. Damit sei der Nachweis für die Voraussetzungen erbracht, sodass Art. 24 Abs. 2 MWSTG angewendet werden dürfe (vgl. E. 3.3 des angefochtenen Urteils). Zur Bemessung des Drittpreises habe die ESTV aufgrund der fehlenden Angaben zu den jeweiligen Kosten die Wiederverkaufspreismethode verwendet, was ohne Weiteres zulässig sei. Der Beschwerdeführerin gelinge es nicht, aufzuzeigen, dass die von der ESTV vorgenommene Schätzung offensichtlich fehlerhaft sei (vgl. E. 3.4 des angefochtenen Urteils).

3.2. Der Mehrwertsteuer unterliegen die im Inland durch steuerpflichtige Personen gegen Entgelt erbrachten Leistungen, soweit das Gesetz keine Ausnahme vorsieht (sogenannte Inlandsteuer im Sinne von Art. 1 Abs. 2 lit. a MWSTG; vgl. Art. 18 Abs. 1 MWSTG). Eine Leistung (in Form einer Lieferung oder einer Dienstleistung) ist die Einräumung eines verbrauchsfähigen wirtschaftlichen Werts an eine Drittperson in Erwartung eines Entgelts (vgl. Art. 3 lit. c i.V.m. lit. d und lit. e MWSTG). Das Entgelt ist der Vermögenswert, den die empfangende Person oder an ihrer Stelle eine Drittperson für den Erhalt einer Leistung aufwendet (vgl. Art. 3 lit. f MWSTG).

3.2.1. Charakteristisch für die Mehrwertsteuerpflicht ist nach dem Gesagten der Austausch von Leistungen. Ein Leistungsaustauschverhältnis in diesem Sinne liegt vor, sofern zwischen der (Haupt-) Leistung in Form einer Lieferung oder Dienstleistung gemäss Art. 3 lit. d oder lit. e MWSTG und der Gegenleistung in Form eines Entgelts nach Art. 3 lit. f MWSTG ein hinreichender Konnex besteht. Dies setzt eine innere wirtschaftliche Verknüpfung («rapport économique étroit») voraus in dem Sinn, dass die Leistung eine Gegenleistung auslöst, was in marktwirtschaftlich gleichwertigen (äquivalenten) Leistungen («contrepartie économique équivalente») zum Ausdruck kommt (vgl. BGE 141 II 182 E. 3.3 S. 187; 140 I 153 E. 2.5.1 S. 160; 140 II 80 E. 2.1 S. 82; 138 II 239 E. 3.2 S. 241; 132 II 353 E. 4.1 S. 357; 126 II 443 E. 6a S. 451 f.).

3.2.2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist von einer Entgeltlichkeit und von einem mehrwertsteuerlichen Leistungsaustauschverhältnis selbst dann auszugehen, wenn zwar überhaupt kein Entgelt bezeichnet und bezahlt wird, jedoch die Leistung, die der nahestehenden Drittperson erbracht wird, üblicherweise nur gegen Entgelt erhältlich ist. In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 24 Abs. 2 MWSTG, dass bei Leistungen an eng verbundene Personen als Entgelt der Wert gilt, der unter unabhängigen Dritten vereinbart würde. Dieser Wert bemisst sich nach dem Preis, den eine Drittperson der gleichen Abnehmerkategorie auf dem Markt zu bezahlen hätte («le principe de pleine concurrence»; «dealing at arm’s length»; vgl. BGE 138 II 239 E. 3.3 S. 242; Urteile 2C_812/2013 vom 28. Mai 2014 E. 2.2.3; 2C_778/2008 vom 8. April 2009 E. 3.1; vgl. auch BGE 140 II 88 E. 4.1 S. 92 f.; 138 II 57 E. 2.2 S. 59 f.). Zur Ermittlung dieses sogenannten Drittpreises können die Methoden, die auch bei den direkten Steuern Anwendung finden herangezogen werden. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung erweisen sich hierzu die Kostenaufschlags-, die Preisvergleichs- und die Wiederverkaufspreismethode als zulässig (vgl. Urteile 2C_495/2017 und 2C_512/2017 vom 27. Mai 2019 E. 7.2.2 und E. 11.1; vgl. auch E. 5.2.3 hiernach).

3.2.3. – 4.

5.

Die Beschwerdeführerin beanstandet im Weiteren eine falsche Auslegung und Anwendung von Art. 24 Abs. 2 MWSTG.

5.1. Sie macht geltend, die Vorinstanz verwende für die Bestimmung des Drittpreises die Wiederverkaufsmethode. Die vorinstanzliche Anwendung dieser Methode mache aber vorliegend keinen Sinn und entspreche auch nicht den Richtlinien der OECD. Die OECD-Verrechnungspreisrichtlinie 2017 verlange eine Funktionsanalyse. Die Beschwerdeführerin habe weder Infrastruktur zur Verfügung gestellt noch Arbeitsleistungen erbracht. Zudem habe sie keine (Haftungs-) Risiken für die Geschäftstätigkeit der beiden Gesellschaften übernommen. Aufgrund dieser Funktionsverteilung hätten die allfälligen Transaktionen keinen Wert. Eine unabhängige Drittperson hätte folglich einen Preis von Fr. 0.– vereinbart.

5.2. Der Beschwerdeführerin ist mit Blick auf ihre Beanstandungen zur Bestimmung des Drittpreises nicht zu folgen.

5.2.1. In tatsächlicher Hinsicht ist erstellt, dass die Beschwerdeführerin gegenüber den beiden eng verbundenen Gesellschaften Leistungen erbracht hat. Diese Leistungen sind mehrwertsteuerlich relevant, da sie unter unabhängigen Dritten üblicherweise in Erwartung eines Entgelts erbracht würden (vgl. E. 3.2 hiervor). Umstände, die gegen die Erwartung eines Entgelts sprechen, sind weder dargetan noch ersichtlich. In rechtlicher Hinsicht ist daher festzuhalten, dass die Anwendbarkeitsvoraussetzungen von Art. 24 Abs. 2 MWSTG erfüllt sind (vgl. E. 3.2.2 hiervor).

5.2.2. Es kann in der vorliegenden Angelegenheit offenbleiben, welche Tragweite der OECD-Verrechnungspreisrichtlinie 2017 zukommt, auf die sich die Beschwerdeführerin beruft (vgl. BGE 144 II 130 E. 8.2.2 S. 140; 123 I 112 E. 4d/cc S. 121; vgl. auch BGE 145 V 84 E. 6.1.1 S. 87; 142 V 442 E. 5.2 S. 445 f.; 133 V 257 E. 3.2 S. 258 f.). Die Beschwerdeführerin legt ihrer Funktionsanalyse nicht die für das bundesgerichtliche Verfahren verbindlich festgestellten Tatsachen zugrunde (vgl. E. 4.3 hiervor). Da erstellt ist, dass die Beschwerdeführerin den beiden anderen Gesellschaften Leistungen erbracht hat, wäre solches auch in einer Funktionsanalyse zu berücksichtigen. Inwieweit in diesem Rahmen zwischen Leistungen mit Bezug zur Infrastruktur und Arbeitsleistungen sowie der Übernahme von Haftungsrisiken zu unterscheiden wäre, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf und ergibt sich auch nicht ohne Weiteres.

5.2.3. Was die Methode zur Ermittlung des Drittpreises als solches betrifft, zeigt die Beschwerdeführerin ausserdem nicht auf, dass die Verwendung der Wiederverkaufspreismethode rechtswidrig sein sollte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei fehlenden detaillierten Unterlagen die Wiederverkaufspreismethode oftmals die einzige praktikable Methode zur Bestimmung des Werts einer Leistung unter eng verbundenen Personen darstellt. Demgegenüber fehlen für die Anwendung der Kostenaufschlagsmethode regelmässig die Aufzeichnungen über die den Leistungen zugrundeliegenden Kosten, während die Anwendung der Preisvergleichsmethode an auf dem Markt vergleichbaren Dienstleistungen scheitert. Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass eine andere Methode besser geeignet wäre, den Wert der Leistungen zwischen der Beschwerdeführerin und den beiden eng verbundenen Gesellschaften zu ermitteln. Folglich hat die ESTV zu Recht von den Umsätzen der beiden Gesellschaften eine Gewinnmarge von 10 % abgezogen und auf der Differenz den Saldosteuersatz von 6.1 % berechnet.

5.3. Nach dem Dargelegten erweist sich die durch die ESTV vorgenommene und durch die Vorinstanz bestätigte Einschätzung nach pflichtgemässem Ermessen im Sinne von Art. 79 Abs. 1 MWSTG unter Anwendung der Wiederverkaufspreismethode im Rahmen von Art. 24 Abs. 2 MWSTG als bundesrechtskonform.

6.

7.

Im Ergebnis erweist sich die Beschwerde als unbegründet, weshalb sie abzuweisen ist. […]