Urteile des Bundesgerichts 2C_662/2021 und 2C_663/2021 vom 18. März 2022

Innerstaatliches Recht des ersuchenden Staates; Verjährung

  • Traité par: Susanne Raas
  • Catégories d'articles: Arrêt de principe
  • Domaines juridiques: Assistance administrative internationale
  • Proposition de citation: Susanne Raas, Urteile des Bundesgerichts 2C_662/2021 und 2C_663/2021 vom 18. März 2022, ASA Online : Arrêt de principe
Urteil des Bundesgerichts vom 18. März 2022 i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen A., B. Ltd., C. und D. (2C_662/2021 und 2C_663/2021).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Soweit das nationale Verfahrensrecht des ersuchenden Staats einer Verwertung der im Amtshilfeverfahren ersuchten Informationen entgegensteht, hat die betroffene Person dies im Grundsatz vor den Behörden des ersuchenden Staats geltend zu machen (E. 5.4.1). Der ersuchte Staat hat dies nicht zu prüfen. Dies gilt auch dann, wenn der ersuchende Staat selbst im Amtshilfeersuchen auf den möglichen Eintritt der Verjährung hinweist (E. 5.4.2 und 5.6). Anders liegen die Dinge nur dann, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass im ausländischen Verfahren elementare Verfahrensgrundsätze verletzt werden könnten oder anderweitig schwere Mängel bestünden (E. 5.4.1).
Geprüft wird das Ersuchen im Zeitpunkt seiner Einreichung (E. 5.5). Der Beurteilungszeitpunkt darf nicht vom Verhalten von betroffenen Personen oder anderen Verfügungsadressaten beziehungsweise vom Gang des schweizerischen Verfahrens abhängig sein (E. 5.5.3).

Dans la mesure où le droit procédural national de lEtat requérant soppose à lexploitation des informations demandées dans le cadre de la procédure dassistance administrative, la personne concernée doit en principe le faire valoir devant les autorités de lEtat requérant (consid. 5.4.1). LEtat requis na pas à examiner cette question. Cela vaut également lorsque lEtat requérant lui-même mentionne dans la demande dassistance administrative la possible survenance de la prescription (consid. 5.4.2 et 5.6). Il nen va autrement que lorsquil y a des raisons de penser que des principes élémentaires de procédure pourraient être violés dans la procédure étrangère ou quil y aurait dautres défauts graves (consid. 5.4.1).
La demande est examinée au moment de son dépôt (consid. 5.5). Le moment de l
évaluation ne doit pas dépendre du comportement des personnes concernées ou dautres destinataires de la décision, respectivement du déroulement de la procédure suisse (consid. 5.5.3).

2.

Sachverhalt ^

Am 13. August 2019 sowie am 2. Oktober 2019 richtete die schwedische Steuerbehörde (Swedish Tax Agency; nachfolgend: ersuchende Behörde) je ein Amtshilfeersuchen an die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV). Die ersuchende Behörde stützte sich dabei jeweils auf Art. 27 des Abkommens vom 7. Mai 1965 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich Schweden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA CH-SE; SR 0.672.971.41). Sie verlangte in den beiden Ersuchen Informationen betreffend A. (nachfolgend auch: betroffene Person).
In beiden Amtshilfeersuchen vom 13. August 2019 und 2. Oktober 2019 führte die ersuchende Behörde – soweit vorliegend erheblich – aus, es laufe eine Untersuchung in Bezug auf das steuerbare Einkommen der betroffenen Person. Untersucht würden die Steuerperioden vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2017. Im ersten Amtshilfeersuchen erklärte sie zudem, für die Steuerperiode 2013 würde am 31. Dezember 2019 die Verjährung eintreten.
Am 11. Februar 2020 erliess die ESTV sowohl die Schlussverfügung in Bezug auf das Amtshilfeersuchen vom 13. August 2019 als auch die Schlussverfügung hinsichtlich des Amtshilfeersuchens vom 2. Oktober 2019. Die ESTV hiess die Leistung von Amtshilfe gut.

Gegen die Schlussverfügung der ESTV hinsichtlich des Amtshilfeersuchens vom 13. August 2019 erhoben A., die B. Ltd. sowie C. (Verfahren A-1502/2020), gegen die Schlussverfügung in Bezug auf das Amtshilfeersuchen vom 2. Oktober 2019 erhoben A., die B. Ltd. sowie D. (Verfahren A-1507/2020) je am 13. März 2020 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Je mit Urteil vom 17. August 2021 hiess das Bundesverwaltungsgericht die beiden Beschwerden gut. Es seien keine Daten betreffend die Steuerperioden 2013 und 2014 zu übermitteln. Zur Begründung erwog es im Wesentlichen, für diese beiden Steuerperioden sei nach schwedischem Recht die Verjährung eingetreten.

Mit Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 2. September 2021 gelangt die ESTV an das Bundesgericht. Sie beantragt im Wesentlichen die sowohl Aufhebung des Urteils A-1502/2020 vom 17. August 2021 (Verfahren 2C_662/2021) als auch die Aufhebung des Urteils A-1507/2020 vom 17. August 2021 (Verfahren 2C_663/2021). Die beiden Schlussverfügungen der ESTV vom 11. Februar 2020 seien zu bestätigen. Eventualiter seien die Angelegenheiten im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht vereinigt die Verfahren und heisst die beiden Beschweden gut.

3.

Aus den Erwägungen ^

5.4. Ob eine über das Amtshilfeverfahren erlangte Information im ausländischen Steuerverfahren tatsächlich von Bedeutung ist, hängt im Wesentlichen vom Steuer- und Verfahrensrecht des ersuchenden Staats ab.
5.4.1. Dies bedeutet nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung indes nicht, dass sich der ersuchte Staat im Rahmen des Amtshilfeverfahrens zum innerstaatlichen Steuer- und Verfahrensrecht des ersuchenden Staats zu äussern hätte. Für die voraussichtliche Erheblichkeit reicht vielmehr aus, dass die ersuchten Informationen für eine Verwendung im ausländischen Verfahren als potenziell geeignet erscheinen (vgl. BGE 144 II 206 E. 4.3; Urteile 2C_232/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.4; 2C_1162/2016 vom 4. Oktober 2017 E. 6.3; 2C_241/2016 vom 7. April 2017 E. 5.4). Soweit das nationale Verfahrensrecht des ersuchenden Staats einer Verwertung der im Amtshilfeverfahren ersuchten Informationen entgegensteht, hat die betroffene Person dies im Grundsatz vor den Behörden des ersuchenden Staats geltend zu machen (vgl. BGE 144 II 206 E. 4.6; 142 II 161 E. 2.2; 142 II 218 E. 3.6 f.; Urteil 2C_241/2016 vom 7. April 2017 E. 5.4). Anders liegen die Dinge nur dann, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass im ausländischen Verfahren elementare Verfahrensgrundsätze verletzt werden könnten oder anderweitig schwere Mängel bestünden (vgl. Urteile 2C_936/2020 vom 28. Dezember 2021 E. 5.3; 2C_241/2016 vom 7. April 2017 E. 5.4 i.f.).
5.4.2. Der Grundsatz gilt namentlich auch für die Frage der Verjährung nach dem ausländischen Recht des ersuchenden Staats (vgl. Urteil 2C_800/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 4 und E. 6.3 i.f.; vgl. auch Urteil 2C_750/2020 vom 25. März 2021 E. 10). Würde die ESTV als ersuchte Behörde derartige Fragen abklären, griffe sie dem Steuerverfahren im ersuchenden Staat vor, was mit dem Zweck des Amtshilfeverfahrens nicht vereinbar ist (vgl. Urteile 2C_936/2020 vom 28. Dezember 2021 E. 5.5.2; 2C_823/2020 vom 13. Oktober 2020 E. 4.2; 2C_141/2018 vom 24. Juli 2020 E. 7.7.1; 2C_616/2018 vom 9. Juli 2019 E. 3.6.2; 2C_274/2016 vom 7. April 2016 E. 4.3). Nicht massgebend ist, dass der Hinweis auf den möglichen Eintritt der Verjährung von der ersuchenden Behörde selbst stammt, zumal weder spezifische Abklärungen getroffen wurden noch sonstige Anhaltspunkte bestehen, dass die verlangten Informationen für den ersuchenden Staat nicht mehr von Nutzen sind (vgl. im Detail auch E. 5.5.2 hiernach). Dass die potenziell eingetretene Verjährung im schwedischen Erkenntnisverfahren nicht mehr vorgebracht werden könnte, machen die Beschwerdegegner nicht geltend. Damit obliegt es den Beschwerdegegnern, den Einwand der Verjährung gegebenenfalls im innerstaatlichen Verfahren des ersuchenden Staats vorzubringen. Ferner ist nicht ersichtlich und von den Beschwerdegegnern nicht dargetan, dass im Zusammenhang mit der vorliegenden Verjährungsthematik im ausländischen Verfahren elementare Verfahrensgrundsätze verletzt werden oder anderweitig schwere Mängel bestehen könnten. Folglich liegt in den zu beurteilenden Angelegenheiten auch kein Ausnahmefall vor, in dem die Entwicklung der Umstände dazu führen, dass die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit im Verlaufe des Verfahrens entfallen ist ([…]; BGE 144 II 206 E. 4.3 i.f.; vgl. auch Urteil 2C_800/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 4 und E. 6.3).
5.5. Für dieses Ergebnis sprechen gleichermassen prozessuale Überlegungen: Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind Amtshilfeersuchen im Zeitpunkt ihrer Einreichung zu beurteilen ([…]; «im Zeitpunkt der Gesuchstellung»; «au moment où la demande est formulée»).
5.5.1. Vorliegend reichte die ersuchende Behörde die Ersuchen am 13. August 2019 und 2. Oktober 2019 ein. Die Vorinstanz erwog zunächst, dass die ESTV den Amtshilfeersuchen zu Recht Folge leistete (vgl. E. 3.2.5 der angefochtenen Urteile). Folglich ging die Vorinstanz davon aus, dass sich die erbetenen Informationen im Zeitpunkt der Gesuchstellung als voraussichtlich erheblich erweisen. Auch die Beschwerdegegner machen im Rahmen der bundesgerichtlichen Vernehmlassung nicht geltend, die voraussichtliche Erheblichkeit sei im Zeitpunkt der Gesuchstellung fraglich. Daraus ergibt sich, dass im Zeitpunkt der Einreichung der Amtshilfeersuchen am 13. August 2019 und 2. Oktober 2019 eine vernünftige Möglichkeit bestand, dass sich die angefragten Angaben für den genannten Zweck – die Steuerfestsetzung – als erheblich erweisen werden. Die vorinstanzlichen Urteile sind in diesem Punkt nicht zu beanstanden.
5.5.2. Nach Auffassung der Vorinstanz hat die ersuchende Behörde keinerlei Angaben gemacht, aus welchen explizit oder implizit hervorgegangen wäre, dass die erbetenen Informationen trotz Eintritts der Verjährung noch von Nutzen seien. Die Vorinstanz lässt indes ausser Acht, dass die ersuchende Behörde in beiden Ersuchen kein Datum nennt, ab dem die ersuchten Informationen nicht mehr nützlich sein würden. Das entsprechende Feld («Date after which any information is no longer usable») wurde mit einem Strich versehen. Es wurde bewusst nicht leer gelassen, was ein klares Indiz dafür ist, dass die ersuchende Behörde die verlangten Informationen ohne zeitliche Beschränkung für nützlich erachtet. Überdies steht der Hinweis auf die Verjährung der Steuerperiode 2013 nicht im Abschnitt des Ersuchens, in welchem die ersuchende Behörde dieses begründet und erläutert. Vielmehr wird die (potenzielle) Verjährung lediglich zusätzlich erwähnt, damit die ESTV das Ersuchen dringlich behandelt («Urgency of the reply»). Darin ist jedenfalls keine (abschliessende) Würdigung des schwedischen Steuerrechts durch die ersuchende Behörde zu erkennen, die im Zeitpunkt der Einreichung der Ersuchen Zweifel an der voraussichtlichen Erheblichkeit verursachen würde. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung ist es nicht erforderlich, dass die ersuchende Behörde im Amtshilfeersuchen die voraussichtliche Erheblichkeit für einen späteren Zeitraum begründet. Dementsprechend musste sich die ESTV auch nicht zusätzlich erkundigen, ob die erbetenen Informationen für die Steuerfestsetzung noch von Nutzen sein werden.
5.5.3. Dass die voraussichtliche Erheblichkeit der erbetenen Informationen grundsätzlich im Zeitpunkt der Gesuchstellung zu beurteilen ist, hat eine weitere verfahrensbezogene Komponente.
5.5.3.1. Vorliegend ersuchte der Rechtsvertreter der Beschwerdegegner in beiden Amtshilfeverfahren um eine Fristerstreckung für die Einreichung der Stellungnahmen im Rahmen der Gehörsgewährung vor Erlass der Schlussverfügungen (vgl. S. 4 der Schlussverfügungen der ESTV vom 11. Februar 2020 [Verfahren 2C_662/2021]; S. 5 der Schlussverfügungen der ESTV vom 11. Februar 2020 [Verfahren 2C_663/2021]; Art. 105 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdegegner erhoben alsdann jeweils die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel. Dieses Vorgehen der Beschwerdegegner ist legitim. Die ESTV bringt in diesem Zusammenhang jedoch zu Recht vor, dass der Beurteilungszeitpunkt nicht von der vom Amtshilfeverfahren betroffenen Person und anderen Verfügungsadressaten abhängig sein dürfe. Ansonsten käme ihnen ein taktisches Instrument zu, mit dem sie die Übermittlung von Informationen zu gewissen oder sämtlichen relevanten Steuerjahre verhindern und dadurch das Ergebnis des ausländischen Erkenntnisverfahrens vorwegnehmen könnten.
5.5.3.2. Nach den Angaben der ersuchenden Behörde, auf die die ESTV vertrauten durfte ([…]), waren die Steuerperioden vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2017 im Zeitpunkt der Einreichung nicht verjährt (vgl. E. 5.5.1 hiervor). Vor diesem Hintergrund mussten der ESTV beim Erlass der Schlussverfügungen am 11. Februar 2020 keine ernsthaften Zweifel an der voraussichtlichen Erheblichkeit der ersuchten Informationen aufkommen, auch wenn die Möglichkeit der ausländischen Verjährung als Dringlichkeitsgrund genannt wurde und die Steuerperiode 2013 gemäss ausländischem Recht am 31. Dezember 2019 möglicherweise verjährte. In der Folge erhoben die Beschwerdegegner jeweils am 13. März 2020 Beschwerde bei der Vorinstanz. Der Argumentation der Vorinstanz folgend, hätte ein Urteil, das sie noch im Jahr 2020 gefällt hätte, keine Verjährung der Steuerperiode 2014 zur Folge gehabt. Wäre die Vorinstanz erst in diesem Jahr (2022) zu einem Urteil gelangt, hätte der vorinstanzlichen Ansicht nach zudem die voraussichtliche Erheblichkeit der Informationen mit Bezug zur Steuerperiode 2015 verneint werden müssen. Die Auffassung, wonach die Beurteilung des Erfordernisses der voraussichtlichen Erheblichkeit bloss noch vom Gang des schweizerischen Amtshilfe- und Rechtsmittelverfahrens abhänge, ist zu verwerfen. Mit Blick auf das Erfordernis der voraussichtlichen Erheblichkeit kann die Frage der ausländischen Verjährung somit auch nicht erneut im Rechtsmittelverfahren aufgegriffen werden.
5.6. Bezugnehmend auf die von der ESTV unterbreitete Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist nach dem Dargelegten die Übermittlung von ersuchten Informationen in Anwendung von Art. 27 DBA CH-SE sowie gestützt auf das völkerrechtliche Vertrauensprinzip zulässig, solange im Zeitpunkt der Einreichung der Amtshilfeersuchen nicht offenkundig erscheint, dass für einen ersuchten Zeitraum, die ausländische Verjährung bereits eingetreten ist. Dies gilt auch, wenn die ersuchende Behörde – wie vorliegend – von sich aus auf den allenfalls künftigen Eintritt der Verjährung hinweist, sich zugleich aber aus dem Ersuchen ergibt, dass die verlangten Informationen weiterhin von Nutzen sind. Demnach ist nicht zu beanstanden, dass die ESTV in ihren Schlussverfügungen vom 11. Februar 2020 für den gesamten ersuchten Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2017 der Amtshilfe Folge leistete. Demgegenüber verletzte die Vorinstanz Art. 27 DBA CH-SE sowie das völkerrechtliche Vertrauensprinzip.