Urteil des Bundesgerichts 2C_287/2019 und 2C_288/2019 vom 13. Juli 2020

Amtshilfeersuchen: Auslegung nach Treu und Glauben; Identität des Informationsinhabers (DBA CH-ES)

  • Bearbeitet durch: Susanne Raas
  • Beitragsart: Grundsatzurteil
  • Rechtsgebiete: Internationale Amtshilfe
  • Zitiervorschlag: Susanne Raas, Urteil des Bundesgerichts 2C_287/2019 und 2C_288/2019 vom 13. Juli 2020, ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts vom 13. Juli 2020 i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen A. und B. (2C_287/2019 und 2C_288/2019).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt (Zusammenfassung)
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Amtshilfeersuchen sind nach Treu und Glauben im Lichte des Steuerzwecks, zu dem sie gestellt wurden, auszulegen (E. 2.3.1 und 3.2 f.).
Ergibt sich, dass die Informationen nicht beim im Ersuchen genannten Informationsinhaber, sondern bei einem anderen erhältlich sind, hat die ESTV diese Informationen bei jenem Inhaber zu erheben, wenn der Aufwand verhältnismässig ist. Es handelt sich nicht um spontane Amtshilfe (E. 2.3.1 f.).

Les demandes dassistance doivent être interprétées selon le principe de la bonne foi à la lumière de lobjectif fiscal pour lequel elles ont été déposées (consid. 2.3.1 et 3.2 s.).
Sil savère que les informations ne sont pas disponibles auprès du détenteur de renseignements nommé dans la demande mais auprès dune autre personne, lAFC doit recueillir les informations auprès de ce détenteur si leffort nécessaire est proportionné. Il ne sagit pas dune assistance administrative spontanée (consid. 2.3.1 s.).

2.

Sachverhalt (Zusammenfassung) ^

Am 30. Oktober 2017 reichte die spanische Steuerverwaltung Agencia Tributaria (nachfolgend: AT) gestützt auf das Abkommen vom 26. April 1966 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Spanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (DBA CH-ES; SR 0.672.933.21) bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) ein Amtshilfeersuchen ein. Die AT ersuchte dabei um Informationen betreffend die in Spanien steuerpflichtige A.

Zur Begründung des Amtshilfeersuchens erklärt die AT, A. habe trotz Steuerpflicht in Spanien keine Steuererklärungen eingereicht. Gemäss den verfügbaren Informationen sei A. Inhaberin einer von der C. ausgestellten Kreditkarte. A. bestreite jedoch, Inhaberin dieser Karte oder Inhaberin des mit dieser Karte verbundenen Kontos zu sein. Die spanischen Steuerbehörden würden vor diesem Hintergrund Angaben darüber benötigen, ob A. Inhaberin eines Bankkontos in der Schweiz sei.

Die AT fordert unter anderem die Identifikation des Bankkontos bei der C., welches mit der genannten Kare verbunden sei sowie weiterer Bankkonten von A. bei der C.

Mit Editionsverfügung vom 21. November 2017 verlangte die ESTV von der C. die Herausgabe der entsprechenden Unterlagen und Informationen.

Nachdem die C. der ESTV mitgeteilt hatte, dass die mit der Karte getätigten Einkäufe über ein auf die B. lautendes Konto bei der D. bezahlt worden. seien, erliess die ESTV eine Editionsverfügung gegenüber der D., welche die Informationen herausgab.

Am 9. März 2018 erliess die ESTV gegenüber A. und der B. je eine Schlussverfügung, in welchen sie vorsah, die von der C. und der D. herausgegebenen Informationen zu übermitteln.

A. und die B. führten gegen die sie betreffenden Schlussverfügungen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragten, dass die Schlussverfügungen für nichtig zu erklären oder – eventualiter – aufzuheben seien. Mit Urteilen vom 5. März 2019 stellte das Bundesverwaltungsgericht die Nichtigkeit der angefochtenen Schlussverfügungen fest und trat auf die Beschwerden nicht ein.

Die von der ESTV am 21 März 2019 erhobenen Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten heisst das Bundesgericht gut.

3.

Aus den Erwägungen ^

2.

Die Vorinstanz hielt die Schlussverfügungen für nichtig, weil sie ihr zufolge das Verbot der spontanen Amtshilfe verletzten. Die ESTV ist der Auffassung, dass die Übermittlung der bei der D. AG beschafften Informationen keine spontane Amtshilfe darstelle.

2.1. [Zur Nichtigkeit]

2.2.–2.3. [Die Informationen, welche die ESTV übermitteln will, betreffen weder einen Zeitraum, in welchem das Übereinkommen vom 25. Januar 1988 (geändert durch das Protokoll vom 27. Mai 2010) über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen (SR 0.652.1) für die Schweiz gilt, noch einen Steuervorbescheid gemäss Art. 9 der Verordnung vom 23. November 2016 über die internationale Amtshilfe in Steuersachen (Steueramtshilfeverordnung, StAhiV; SR 651.11), weshalb keine spontane Amtshilfe geleistet werden darf].

2.3.1. Ziff. IV Abs. 2 Protokoll DBA CH-ES umschreibt den Inhalt, den ein Amtshilfeersuchen aufweisen muss. Unter anderem muss der ersuchende Staat die in eine Überprüfung oder Untersuchung einbezogene Person identifizieren (lit. a) und den Namen und die Adresse des mutmasslichen Inhabers der verlangten Informationen mitteilen, soweit sie ihm bekannt sind (lit. e). Hieraus folgt, dass der ersuchende Staat den Informationsinhaber im Unterschied zur betroffenen Person nicht zwingend identifizieren muss. Immerhin muss sich aber der Aufwand des ersuchten Staats für die Identifizierung des Informationsinhabers im Rahmen des Zumutbaren halten (Grundsatz der Verhältnismässigkeit; BGE 139 II 404 E. 7.3.2 S. 430). Braucht der ersuchende Staat den Informationsinhaber nicht zu nennen und kann der ersuchte Staat den oder die wahren Informationsinhaber mit zumutbarem Aufwand identifizieren, darf der ersuchte Staat dem ersuchenden Staat nicht vorhalten, dass sein Ersuchen irrtümlicherweise eine andere Person als Informationsinhaber bezeichnet hat. Eine andere Sichtweise lässt sich kaum mit dem völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz vereinbaren, wonach Vertragsstaaten völkerrechtliche Verträge nach Treu und Glauben zu erfüllen haben (pacta sunt servanda, kodifiziert in Art. 26 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]; vgl. BGE 143 II 136 E. 5.2.1 S. 148; 142 II 35 E. 3.2 S. 38, je mit Hinweisen).

2.3.2. Die von der ESTV aufgeworfene Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung (...) ist daher wie folgt zu beantworten: Liegt der ESTV ein Amtshilfeersuchen vor, welches den völkerrechtlichen Anforderungen von Art. 25bis DBA CH-ES und Ziff. IV Abs. 2 Protokoll DBA CH-ES genügt, ist die Schweiz auch dann zur Amtshilfe verpflichtet, wenn sich die ersuchte Information bei einer anderen Person als dem im Ersuchen genannten Informationsinhaber befindet. Weder das DBA CH-ES noch das innerstaatliche Recht (vgl. Art. 8 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 StAhiG) beschränken die Untersuchungen der ESTV auf den im Ersuchen genannten Informationsinhaber. Erfüllt das Ersuchen die Anforderungen von Art. 25bis DBA CH-ES, hat die ESTV die voraussichtlich erheblichen Informationen nötigenfalls bei anderen Informationsinhabern zu beschaffen, wenn sich diese mit zumutbarem Aufwand identifizieren lassen. Soweit die Vorinstanz aus ihrer gegenteiligen Rechtsauffassung den Schluss gezogen hat, die beiden Schlussverfügungen seien nichtig, kann ihr nicht zugestimmt werden.

3.

Zu prüfen bleibt, inwieweit die AT um die Informationen tatsächlich ersucht hat, deren Lieferung die ESTV verfügt hat, und ob diese Informationen für den geltend gemachten Steuerzweck voraussichtlich erheblich im Sinne von Art. 25bis Abs. 1 DBA CH-ES sind. Die Vorinstanz und die ESTV verstehen das Amtshilfeersuchen der AT unterschiedlich: Die Vorinstanz legte den Fokus auf den Abschnitt 5 «Requested Information» des Ersuchens, in welchem die AT die ersuchten Informationen spezifiziert und Informationen über das Bankkonto bei der C. SA verlangt, das mit der Bankkarte verbunden ist und deren Inhaberin (holder), Zeichnungsberechtigte (signatory) oder wirtschaftlich Berechtigte (beneficial owner) die Beschwerdegegnerin 1 ist. Die ESTV interpretiert das Ersuchen der AT unter Berücksichtigung der Begründung des Ersuchens im Abschnitt 4 «Case description» hingegen so, dass die AT an Informationen über das Bankkonto interessiert sei, das die im Ersuchen genannte Bankkarte alimentiere. Folglich seien die Informationen zum Bankkonto zu übermitteln, obschon es bei einem anderen Finanzinstitut unterhalten werde.

3.1. Nach Art. 25bis Abs. 1 DBA CH-ES tauschen die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten Informationen aus, die zur Durchführung des Abkommens oder zur Anwendung oder Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts über Steuern jeder Art und Bezeichnung, die für Rechnung der Vertragsstaaten, ihrer politischen Unterabteilungen oder lokalen Körperschaften erhoben werden, voraussichtlich erheblich sind, soweit diese Besteuerung nicht dem Abkommen widerspricht. Das Erfordernis der voraussichtlichen Erheblichkeit bezweckt, einen möglichst umfassenden Informationstausch zu gewährleisten, ohne den Vertragsstaaten zu erlauben, Informationen aufs Geratewohl oder Auskünfte zu verlangen, von denen wenig wahrscheinlich ist, dass sie Licht in die Steuerangelegenheiten einer bestimmten steuerpflichtigen Person bringen würden (vgl. Ziff. IV Abs. 3 Protokoll DBA CH-ES; vgl. auch BGE 143 II 185 E. 3.3.1 S. 193; 142 II 161 E. 2.1.1 S. 165; 141 II 436 E. 4.4.3 S. 445; Kommentar der OECD, N. 5 zu Art. 26; vgl. auch Daniel Holenstein, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 93 zu Art. 26 OECD-MA; Xavier Oberson, in: Danon und andere [Hrsg.], Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, Commentaire, 2014, N. 35 zu Art. 26 OECD-MA). Die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit bildet dementsprechend eine nicht sehr hohe Hürde für ein Amtshilfeersuchen (BGE 143 II 185 E. 3.3.2 S. 195; 142 II 161 E. 2.1.1 S. 166 mit Hinweisen).

3.2. Die Vertragsstaaten des DBA CH-ES haben den Vertrag nach Treu und Glauben zu erfüllen und demnach die Erklärungen ihres Vertragspartners nach Treu und Glauben zu interpretieren (Art. 26 VRK; vgl. oben E. 2.3.1). Diesem Grundsatz wird das Verständnis der ESTV besser gerecht als die eher formal geprägte Lesart der Vorinstanz. Denn im Lichte der Schilderung des Steuerzwecks in Abschnitt 4 beruht die Formulierung der AT in Abschnitt 5 des Ersuchens aller Wahrscheinlichkeit nach auf der irrigen Annahme, dass die Kartenausstellerin mit dem Finanzinstitut identisch sei, bei welchem das für den Kartengebrauch belastete Bankkonto unterhalten wird. Es gibt jedoch keinen Grund zur Annahme, dass es für den im Ersuchen beschriebenen Steuerzweck von Bedeutung sein könnte, bei welchem Schweizer Finanzinstitut das fragliche Bankkonto unterhalten wird. Nach Treu und Glauben ist das Ersuchen der AT demnach so zu verstehen, dass sie Informationen zum Bankkonto verlangt, das mit der fraglichen Bankkarte verbunden war und deren Inhaberin, Zeichnungsberechtigte oder wirtschaftlich Berechtigte die Beschwerdegegnerin 1 war.

3.3. Es ist also nicht zu beanstanden, dass sich die ESTV im vorliegenden Fall an die kontoführende Bank wendete, nachdem sich die im Ersuchen erwähnte Bank als blosse Kartenausstellerin entpuppt hatte. Laut dem Amtshilfeersuchen konnte die Beschwerdegegnerin 1 die Kreditkarte einsetzen und so das Bankkonto belasten. Das begründet eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Mittel und Erträge auf diesem Bankkonto ihr ganz oder teilweise steuerlich zuzurechnen sind, sodass die ersuchten Informationen für den angegebenen Steuerzweck (Besteuerung des Einkommens der Beschwerdegegnerin 1) grundsätzlich voraussichtlich erheblich sind (vgl. aber unten E. 5).

4. […]

5. [vorzunehmende Schwärzungen in den zu übermittelnden Unterlagen]