Urteil des Bundesgerichts 2C_542/2018 vom 10. März 2021

Informationen zum Zwecke der Sanktionierung II (DBA CH-IN)

  • Bearbeitet durch: Susanne Raas
  • Beitragsart: Grundsatzurteil
  • Rechtsgebiete: Internationale Amtshilfe
  • Zitiervorschlag: Susanne Raas, Urteil des Bundesgerichts 2C_542/2018 vom 10. März 2021, ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts vom 10. März 2021 i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen A. Limited (2C_542/2018).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt (Zusammenfassung)
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Internationale Amtshilfe in Steuersachen ist auch einzig für die Auferlegung von Strafzahlungen und Zinsen gestützt auf das DBA CH-IN zu leisten, obwohl Strafzahlungen und Zinsen in Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen werden und der Amtshilfeartikel in diesem Abkommen (im Gegensatz zu anderen Abkommen) auf diesen Artikel verweist (teleologische Auslegung; E. 2.5.1 ff.).

Lassistance administrative internationale en matière fiscale doit également être accordée uniquement pour le prononcé de pénalisations et dintérêts sur la base de la CDI CH-IN, bien que les pénalisations et les intérêts soient exclus du champ dapplication de la convention à lart. 2 al. 3 CDI CH-IN et que larticle sur lassistance administrative de cette convention (contrairement à dautres conventions) renvoie à cet article (interprétation téléologique ; consid. 2.5.1 ss).

2.

Sachverhalt (Zusammenfassung) ^

Mit E-Mail vom 23. Januar 2017 richtete das Ministry of Finance von Indien (nachfolgend: MoF) ein vom 17. Januar 2017 datierendes Amtshilfeersuchen an die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV). Das MoF stützte sich dabei auf das Abkommen vom 2. November 1994 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Indien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern und Einkommen (DBA CH-IN; SR 0.672.942.31).

Mit Schlussverfügung vom 28. März 2017 zeigte die ESTV A. Limited an, dass sie dem MoF im gewünschten Umfang Amtshilfe leisten werde.

Mit Beschwerde vom 27. April 2017 gelangte die A. Limited an das Bundesverwaltungsgericht, in welcher sie unter anderem geltend machte, das fragliche Steuerverfahren in Indien sei abgeschlossen. Nachdem sie zum Einreichen einer Vernehmlassung aufgefordert worden war, setzte sich die ESTV am 9. Juni 2017 nach Rücksprache mit der A. Limited mit dem MoF in Verbindung und fragte, wie es um das in Indien laufende Verfahren stehe. Am 27. Juni 2017 reichte die A. Limited der ESTV eine Bestätigung ihres indischen Vertreters ein, wonach das Verfahren in Indien abgeschlossen sei. Am 28. Juni 2017 teilte das MoF der ESTV mit, dass im Veranlagungsverfahren eine Verfügung erlassen worden und nun das Strafverfahren nach dem indischen Einkommenssteuergesetz («penalty proceedings u/s [recte: under section] 271 (1) (c) and 271AAB of [the] Indian Income-tax Act») eingeleitet worden sei. Die Informationen, um die ersucht werde, seien sowohl im Strafverfahren als auch in anderen Verfahren betreffend das indische Einkommenssteuergesetz von Nutzen. Das Bundesverwaltungsgericht hiess mit Urteil vom 7. Juni 2018 die Beschwerde gut und hob die Schlussverfügung der ESTV auf.

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 22. Juni 2018 beantragt die ESTV dem Bundesgericht, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben und die Schlussverfügung der ESTV vom 28. März 2017 zu bestätigen.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

3.

Aus den Erwägungen ^

2.

[…]

2.1. [Auslegung nach VRK]

2.2. [Das Musterabkommen der OECD (OECD-MA) und der zugehörige Kommentar werden vom Bundesgericht bei der Auslegung berücksichtigt, soweit ein DBA auf diesem Standard beruht.]

2.3. Aus dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN ergibt sich nicht, ob Amtshilfe erteilt werden kann, wenn der ersuchende Staat die übermittelten Informationen auch oder gar ausschliesslich im Hinblick auf Strafzahlungen oder Zinsen verwenden will.

2.4. Die Vorinstanz hat ihr Urteil im Wesentlichen auf den systematischen Zusammenhang zwischen Art. 26 und Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN gestützt.

2.4.1. Soweit die einzelnen Bestimmungen des DBA CH-IN ihren jeweiligen Geltungsbereich nicht eigenständig umschreiben, begrenzen Art. 1 und 2 DBA CH-IN über den persönlichen und sachlichen Geltungsbereich die Reichweite der übrigen Bestimmungen. Das gilt grundsätzlich auch für die Amtshilfeklausel (Art. 26 DBA CH-IN). Die Vertragsstaaten schlossen die begrenzende Wirkung von Art. 1 DBA CH-IN für die Zwecke von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN jedoch analog zur aktuellen Fassung von Art. 26 Abs. 1 OECD-MA ausdrücklich aus. Hingegen verpflichtet Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN – anders als die aktuelle Fassung von Art. 26 Abs. 1 OECD-MA (vgl. dazu Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 2 zu Art. 26 OECD-MA) – die Vertragsstaaten nur «betreffend die unter das Abkommen fallenden Steuern» zur Amtshilfe und schliesst die begrenzende Wirkung von Art. 2 DBA CH-IN – anders als jene von Art. 1 DBA CH-IN – jedenfalls dem Wortlaut nach nicht aus. Das systematische Auslegungselement spricht also tendenziell dafür, dass Art. 2 DBA CH-IN den sachlichen Geltungsbereich von Art. 26 DBA CH-IN begrenzt (vgl. Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 10.1 zu Art. 26 OECD-MA; Andrea Opel, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Amtshilfe, 2020, N. 102 zu § 3).

2.4.2. Aus Art. 2 OECD-MA wird nicht unmittelbar klar, ob akzessorische Abgaben und Zahlungen unter den Begriff der Steuern fallen und vom Abkommen erfasst werden. Die Mehrheit der Staaten verneint dies offenbar (vgl. Kommentar der OECD zum OECD-MA, N. 4 zu Art. 2 OECD-MA). Die Frage ist auch in der Lehre umstritten. Gewissen Autoren zufolge fallen Zinsen und andere steuerliche Nebenleistungen unter den Begriff der Steuern, während Geldstrafen und Geldbussen nicht erfasst sein sollen (vgl. Roland Ismer, in: Vogel/Lehner [Hrsg.], DBA, 6. Aufl. 2015, N. 28 zu Art. 2 OECD-MA). Andere Autoren stellen auf die Enge des Zusammenhangs zwischen der Steuer und der akzessorischen Pflicht ab oder überantworten die Abgrenzung mit Blick auf Art. 3 Abs. 2 OECD-MA dem nationalen Recht (vgl. Martin Businger, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 2 zu Art. 2 OECD-MA; Thomas Dubut, in: Danon und andere [Hrsg.], Modèle de Convention fiscale OCDE concernant le revenu et la fortune, 2014, N. 43 f. zu Art. 2 OECD-MA; Ismer/Blank, in: Reimer/Rust [Hrsg.], Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Bd. 1, 2015, N. 27 zu Art. 2 OECD-MA; Mario Tenore, «Taxes Covered»: The OECD Model (2010) versus EU Directives, Bulletin for International Taxation 66/2012 Nr. 6, Ziff. 2.1 am Ende).

Die Vertragsstaaten des DBA CH-IN haben diese mit Bezug auf das OECD-MA strittige Frage geklärt, indem sie in Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN Strafzahlungen (penalties) und Zinsen (interest), die nach dem Recht eines Vertragsstaats im Zusammenhang mit Steuern erhoben werden, vom Geltungsbereich des Abkommens ausgenommen haben.

2.5. Wie die Vorinstanz grundsätzlich zu Recht erkannt hat, legt der systematische Zusammenhang zwischen Art. 26 und Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN nach dem Gesagten nahe, dass der ersuchte Staat nicht verpflichtet ist, Informationen zu übermitteln, wenn der ersuchende Staat diese Informationen zur Erhebung von Strafzahlungen (penalties) und Zinsen (interest) zu verwenden gedenkt. Der Zusammenhang von Art. 26 DBA CH-IN mit anderen Abkommensbestimmungen ist allerdings nur ein Auslegungselement unter mehreren ([…]). Es ist zweifelhaft, ob die Vorinstanz den anderen Auslegungselementen und insbesondere dem Ziel und Zweck des Abkommens hinreichend Beachtung geschenkt hat.

2.5.1. Spätestens seit dem Inkrafttreten des neuen Art. 26 DBA CH-IN am 7. Oktober 2011 und der damit verbundenen Übernahme des Standards von Art. 26 OECD-MA bezweckt das DBA CH-IN nicht mehr bloss die Vermeidung der Doppelbesteuerung, sondern auch den wirksamen Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten (vgl. Opel, a.a.O., N. 21 zu § 3). Diesem Zweck liefe es zuwider, die Verpflichtung zur Amtshilfe des ersuchten Staates gestützt auf Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN so eng zu fassen, dass der ersuchende Staat danach keine Informationen übermittelt erhielte, sobald er die ersuchten Informationen auch oder ausschliesslich zur Erhebung von Strafzahlungen oder Zinsen verwenden wollte. Dies gilt umso mehr, als Art. 26 Abs. 2 DBA CH-IN dem ersuchenden Staat ausdrücklich erlaubt, die übermittelten Informationen für die Strafverfolgung hinsichtlich der unter das Abkommen fallenden Steuern – und damit die Erhebung von Strafzahlungen in diesem Zusammenhang – zu verwenden. Diese Erlaubnis wäre über weite Strecken wirkungslos, wenn die Amtshilfe hinsichtlich Strafzahlungen generell ausgeschlossen wäre.

2.5.2. Ins Gewicht fällt weiter, dass den Vertragsstaaten daran gelegen war, den Informationsaustausch nach Art. 26 DBA CH-IN möglichst umfassend auszugestalten. Dies zeigen namentlich die Umstände des Vertragsabschlusses, die hier als ergänzendes Auslegungsmittel nach Art. 32 lit. a VRK beigezogen werden können ([…]). Eine Schilderung der Umstände des Vertragsabschlusses findet sich etwa in der Botschaft des Bundesrats zur Änderung des DBA CH-IN. Dort führt der Bundesrat aus, dass die Schweiz im Nachgang zur internationalen Finanzkrise anlässlich damaliger Wahlkampagnen in Indien gezielt kritisiert worden sei, weil sie indische Steuerpflichtige bei der Steuerhinterziehung unterstützt habe (Botschaft vom 3. Dezember 2010 zur Genehmigung eines Protokolls zur Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Schweiz und Indien [Botschaft Änderung DBA CH-IN], BBl 2010 S. 8829). Überdies habe Indien die Zustimmung zur Revision des DBA CH-IN davon abhängig gemacht, dass die Bestimmung zum Informationsaustausch (Art. 26 DBA CH-IN) dem Wortlaut des OECD-Standards möglichst nahe komme (Botschaft Änderung DBA CH-IN, BBl 2010 S. 8832).

Hieraus erhellt, dass Indien von der Schweiz erwartete, dass sie auch und gerade zur Verfolgung der Steuerhinterziehung Amtshilfe leisten würde. Die Schweiz verschloss sich diesem Anliegen offenkundig nicht (vgl. auch Ziff. 10 lit. d des Protokolls zum DBA CH-IN).

2.5.3. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Mehrheit der Staaten Strafzahlungen und Zinsen auch ohne ausdrückliche Regelung nicht unter den Steuerbegriff der Art. 2 OECD-MA nachgebildeten Abkommensbestimmungen subsumiert (vgl. oben E. 2.4.2). Daraus folgt entgegen der ESTV zwar noch nicht unbedingt, dass dies auch der Haltung der Vertragsstaaten des DBA CH-IN entspricht und Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN daher bloss deklaratorisch klarstellt, was ohnehin gälte. Immerhin verringert sich dadurch aber das Gewicht, das Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN in der Auslegung von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN beigemessen werden darf.

2.5.4. Auch der Zusammenhang, in welchem der Ausschluss von Strafzahlungen und Zinsen gemäss Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN ursprünglich zu den übrigen Abkommensbestimmungen stand, lässt Zweifel an seiner Bedeutung für die Auslegung von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN aufkommen. Als das DBA CH-IN – und mit ihm Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN in der noch heute gültigen Form – Mitte der 1990er-Jahre abgeschlossen wurde, waren die Vertragsstaaten nur insoweit bereit Amtshilfe zu leisten, als dies für die Durchführung des Abkommens mit Bezug auf die Gegenstand des Abkommens bildenden Steuern notwendig war (vgl. Art. 24 Abs. 1 aDBA CH-IN [i.d.F. vom 2. November 1994]). Diese ursprüngliche Amtshilfeklausel des DBA CH-IN war so eng gefasst, dass sie vom Ausschluss von Strafzahlungen und Zinsen in Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN von vornherein faktisch unberührt blieb. Soweit dieser Ausschluss überhaupt eine eigenständige Bedeutung entfaltete (vgl. oben E. 2.5.3), betraf diese nicht die Amtshilfeklausel, sondern die übrigen Bestimmungen des Abkommens, namentlich seine Zuteilungsnormen. Für diese bedeutet der Ausschluss von Strafzahlungen und Zinsen, dass die Vertragsstaaten frei bleiben, solche Geldbeträge zu erheben, selbst wenn das DBA CH-IN ihnen kein Besteuerungsrecht zuweist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese historische Bedeutung des Ausschlusses von Strafzahlungen anlässlich der Anpassung von Art. 26 DBA CH-IN an den OECD-Standard ausgedehnt werden und er inskünftig die Verpflichtung zur Erteilung der Amtshilfe – entgegen dem OECD-Standard – beschränken sollte. Im Gegenteil war es zumindest einem der beiden Vertragsstaaten ein grosses Anliegen, möglichst nahe am OECD-Standard zu bleiben (vgl. oben E. 2.5.2).

2.6. Das teleologische Auslegungselement – untermauert durch die Umstände der Umsetzung des OECD-Standards in Art. 26 DBA CH-IN – spricht also dafür, die Amtshilfe im Hinblick auf die Erhebung von Strafzahlungen im Zusammenhang mit Steuern, die unter das Abkommen fallen, nicht gestützt auf Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN auszuschliessen. Unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte überwiegen die teleologischen Gesichtspunkte das systematische Auslegungsargument. Entgegen der Vorinstanz ist daher davon auszugehen, dass der Ausschluss von Strafzahlungen nach Art. 2 Abs. 3 DBA CH-IN den sachlichen Geltungsbereich der Amtshilfeklausel von Art. 26 DBA CH-IN nicht begrenzt.

3.

Sodann stellt sich die Frage, ob im vorliegenden Fall keine Amtshilfe geleistet werden darf, weil die Steuerforderung verjährt ist und das MoF die übermittelten Informationen demnach ausschliesslich im Steuerstrafverfahren («penalty proceedings u/s [recte: under section] 271 (1) (c) and 271AAB of Indian Income Tax Act») verwenden werden können wird.

3.1. Das Bundesgericht hat sich kürzlich in Bezug auf Art. 26 Abs. 1 des Abkommens vom 26. Februar 2010 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (DBA CH-NL; SR 0.672.963.61) mit der Frage auseinandergesetzt, ob Informationen «für die Anwendung oder Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts betreffend [die von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-NL erfassten] Steuern» voraussichtlich erheblich sind, wenn der ersuchende Staat sie ausschliesslich für die steuerrechtliche Sanktionierung zu verwenden gedenkt. Es hat dies für das DBA CH-NL bejaht (Urteil 2C_780/2018 vom 1. Februar 2021 E. 3.7.2).

3.2. Diese Rechtsprechung zum DBA CH-NL kann für Art. 26 DBA CH-IN übernommen werden, zumal die beiden Abkommen in den hier relevanten Punkten übereinstimmen. Die vom indischen MoF ersuchten Informationen sind daher zu übermitteln, soweit sie für das Steuerstrafverfahren betreffend die von Art. 26 Abs. 1 DBA CH-IN erfassten Steuern voraussichtlich erheblich sind und sich die Verwendung im Rahmen von Art. 26 Abs. 2 DBA CH-IN halten wird.

4. [voraussichtliche Erheblichkeit und Spezialitätsprinzip]