Urteil des Bundesgerichts 2C_648/2017 vom 17. Juli 2018

«Gestohlene» Daten

  • 26. November 2018
  • Bearbeitet durch: Susanne Raas
  • Beitragsart: Grundsatzurteil
  • Rechtsgebiete: Internationale Amtshilfe
  • Zitiervorschlag: Susanne Raas, Urteil des Bundesgerichts 2C_648/2017 vom 17. Juli 2018 , ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts 2C_648/2017 vom 17. Juli 2018 i.S. A., B. C. Ltd. und D. Ltd. gegen Eidgenössische Steuerverwaltung.

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt (Zusammenfassung)
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Ob ein Amtshilfeersuchen, das sich auf «gestohlene» Daten stützt, gegen Treu und Glauben verstösst, ist im Einzelfall zu beurteilen (E. 2.3.3 f. und 3.3).
Die Verwendung auch passiv erlangter, ursprünglich illegal erworbener Daten widerspricht jedenfalls dann Treu und Glauben, wenn sich der ersuchende Staat zuvor ausdrücklich verpflichtet hat, solche Daten nicht zu verwenden. Der Kauf illegal erworbener Daten und ein anschliessend darauf abgestütztes Amtshilfeersuchen stellen ebenfalls einen Verstoss gegen Treu und Glauben dar (E. 2.3.4).
Das Bundesgericht lässt zunächst offen, ob auch dann immer ein Verstoss gegen Treu und Glauben vorliegt, wenn die illegal erworbenen Daten im Rahmen der Amtshilfe an weitere Staaten weitergereicht werden und diese Staaten anschliessend ein Amtshilfeersuchen stellen (E. 2.3.5), scheint dies dann aber zu verneinen (E. 3.3). Ohnehin kann eine Verletzung von Art. 7 Bst. c StAhiG einem ersuchenden Staat nur dann entgegengehalten werden, wenn er diesen Vorbehalt akzeptiert hat oder wenn feststeht, dass er den völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben verletzt hat (E. 3.3). Massgebend ist demnach in erster Linie das anwendbare DBA (vgl. E. 3.4.1).
La question de savoir si une demande dassistance administrative qui se fonde sur des données « volées » viole le principe de la bonne foi dépend dune appréciation du cas concret (consid. 2.3.3 s. et 3.3).
Lutilisation de données reçues passivement et initialement acquises de manière illicite contrevient en tous les cas au principe de la bonne foi lorsque lEtat requérant sétait préalablement engagé à ne pas faire usage de telles données. Lachat de données acquises illicitement et le dépôt dune demande dassistance administrative sur leur base emporte également violation du principe de la bonne foi (consid. 2.3.4).
Le Tribunal fédéral laisse dabord ouverte la question de savoir si le principe de la bonne foi est toujours violé lorsque les données acquises illicitement sont remises à des Etats tiers dans le cadre de lassistance administrative et que ces derniers déposent ensuite une demande dassistance administrative sur cette base (consid. 2.3.5). Le Tribunal fédéral semble ensuite répondre par la négative à la question (consid. 3.3). Quoi quil en soit, une violation de lart. 7 let. c LAAF ne peut être opposée à un Etat requérant que sil a accepté cette réserve ou sil est établi quil a violé le principe de droit international de la bonne foi (consid. 3.3). Est avant tout déterminante la CDI applicable (consid. 3.4.1).

2.

Sachverhalt (Zusammenfassung) ^

Am 27. März 2015 richtete das indische Ministry of Finance (nachfolgend: MoF) ein Amtshilfeersuchen betreffend A. und B. an die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), wobei es sich auf das Abkommen vom 2. November 1994 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Indien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern und Einkommen (DBA CH-IN; SR 0.672.942.31) stützte. Das MoF verlangt darin verschiedene Informationen zu bei der Bank H. gehaltenen Konten.
Nachdem die Bank die Informationen ediert und die ESTV A., B., die D. Ltd. und die C. Ltd. über die zu übermittelnden Unterlagen in Kenntnis gesetzt hatte, vertraten diese den Standpunkt, dass keine Amtshilfe zu leisten sei, weil das Ersuchen vom 27. März 2015 auf bei der Bank H. gestohlenen Daten beruhe.
Am 3. Januar 2017 erliess die ESTV eine Schlussverfügung gegenüber den vier genannten Personen. Sie ordnete darin die Leistung von Amtshilfe an. Dagegen erhoben die vier Personen am 2. Februar 2017 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Unter anderem brachten sie vor, das Amtshilfeersuchen beruhe auf den von Falciani bei der Bank H. in U. gestohlenen Daten. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit Urteil vom 5. Juli 2017 ab.
Mit Eingabe vom 17. Juli 2017 erheben A., B., die D. Ltd. und die C. Ltd. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragen in der Hauptsache, das angefochtene Urteil sowie die Schlussverfügung der ESTV vom 3. Januar 2017 seien aufzuheben und auf das Amtshilfeersuchen der Republik Indien sei nicht einzutreten bzw. die von der Republik Indien ersuchte Amtshilfe sei zu verweigern.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

3.

Aus den Erwägungen ^

[…]
2.3.1. Der fragliche Entscheid [BGE 143 II 224; betreffend ein Amtshilfeersuchen aus Frankreich] hielt in E. 6.4 fest, dass im Zusammenhang mit der Amtshilfe in Steuersachen ein Staat, der schweizerische Bankdaten kauft, um sie danach für Amtshilfegesuche zu verwenden, ein Verhalten an den Tag legt, das nicht mit dem Grundsatz von Treu und Glauben vereinbar ist. Ansonsten ist die Frage, ob ein Staat den Grundsatz von Treu und Glauben bei von Art. 7 lit. c StAhiG erfassten Konstellationen verletzt hat, nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.
2.3.2. Auf der Basis dieser Rechtsprechung kann einerseits, entgegen der Ansicht der ESTV, nicht geschlossen werden, dass die alleinige Verwendung von illegal erworbenen Daten per se den Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletze. Zwar wurde mit der Revision von Art. 7 lit. c StAhiG (BBl 2016 5151 ff.) vorgeschlagen, dass auf ein Ersuchen eingetreten werden soll, «wenn der ersuchende Staat sein Ersuchen auf Informationen stützt, die zwar ursprünglich durch nach schweizerischem Recht strafbare Handlungen erlangt worden sind, in deren Besitz er aber auf dem Weg der Amtshilfe und nicht durch ein aktives Verhalten gelangt ist» (vgl. Botschaft vom 10. Juni 2016 zu einer Änderung des Steueramtshilfegesetzes, BBl 2016 5137 ff.). Die vorgeschlagene Änderung von Art. 7 lit. c StAhiG ist aber (noch) nicht in Kraft getreten. Die Revision des Steueramtshilfegesetzes ist mit Beschluss der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates vom 26. Oktober 2016 sistiert worden (vgl. Datenbank Curia Vista Nr. 16.050).
2.3.3. Andererseits stellt, entgegen der Ansicht zahlreicher Autoren, das blosse Verwenden illegal erworbener Daten durch den ersuchenden Staat noch kein treuwidriges Verhalten dar (z.B. Andrea Opel, Wider die Amtshilfe bei Datenklau: Gestohlene Daten sind gestohlene Daten, Jusletter vom 23. November 2015, N. 44; Robert Weyeneth, Der nationale und internationale ordre public im Rahmen der grenzüberschreitenden Amtshilfe in Steuersachen, S. 208 f.; Daniel Holenstein, in: Kommentar zum schweizerischen Steuerrecht, Internationales Steuerrecht, 2015, N. 304 zu Art. 26 OECD MA). Für solch verallgemeinernde Beurteilungen besteht kein Raum; vielmehr ist der Beizug sämtlicher konkreter Umstände des Einzelfalls geboten, um einen allfälligen Verstoss gegen Treu und Glauben beurteilen zu können, ausser der ersuchende Staat hätte die illegal erworbenen Daten gekauft. Davon ist jedoch nicht auszugehen, weil im strafrechtlichen Urteil gegen Falciani ein Verkauf der entwendeten Daten an Frankreich nicht nachgewiesen werden konnte (vgl. rechtskräftiges Urteil des Bundesstrafgerichts vom 27. November 2016, TPF 2016 28). Es ist deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Ausführungen der Vorinstanz darauf konzentrieren, ob das Verhalten Indiens im vorliegenden (Einzel)fall mit Treu und Glauben vereinbar ist.
2.3.4. In BGE 143 II 224 beruhte das Amtshilfeersuchen nicht nur auf illegal erworbenen Daten; Frankreich hatte der Schweiz darüber hinaus eine ausdrückliche Zusicherung gegeben, die Daten, welche Falciani entwendet hatte, nicht zu verwenden. Die spätere Abstützung des Amtshilfeersuchens auf die fraglichen Daten stellte deshalb in diesem konkreten Fall ein Treu und Glauben widersprechendes Verhalten Frankreichs dar. Dasselbe würde auch dann gelten, wenn sich der ersuchende Staat verpflichtet hat, passiv erlangte gestohlene Daten nicht für Amtshilfeersuchen zu verwenden und sich nicht an diese Vereinbarung hält. Aus BGE 143 II 224 folgt hingegen nicht, dass nur bei der Missachtung vorheriger ausdrücklicher Zusicherungen ein treuwidriges Handeln vorliegen kann. Das Prinzip von Treu und Glauben hätte keine nennenswerte Bedeutung mehr, wenn zuerst eine explizite Vereinbarung geschlossen werden muss, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, damit genau dieses später als treuwidrig gelten kann. Dementsprechend stellt zumindest der Kauf illegal erworbener Daten und ein anschliessend darauf abgestütztes Amtshilfeersuchen auch dann einen Verstoss gegen Treu und Glauben dar, wenn der ersuchende Staat nicht vorab ausdrücklich versichert hat, ein solches Verhalten zu unterlassen.
2.3.5. Fraglich ist, ob auch per se ein Verstoss gegen Treu und Glauben vorliegt, wenn die illegal erworbenen Daten im Rahmen der (spontanen) Amtshilfe an weitere (befreundete) Staaten weitergereicht werden und diese dann ein Amtshilfeersuchen stellen. Diese Meinung wird in der Lehre verschiedentlich vertreten (Holenstein, a.a.O., N. 304 zu Art. 26 OECD MA; Opel, a.a.O., N. 45). Da jedoch nicht belegt werden konnte, dass bereits Frankreich die Daten von Falciani gekauft hat, sind die Ausführungen der Vorinstanz grundsätzlich nicht zu beanstanden. Es kann vorliegend offen bleiben, ob Indien die in Frage stehenden entwendeten Daten im Rahmen spontaner Amtshilfe Frankreichs erhalten hat oder nicht.
2.3.6 - 3.2 […]
3.3. [Es darf] grundsätzlich auch auf Ersuchen eingetreten werden, die sich auf Daten deliktischen Ursprungs stützen, solange sie der ersuchende Staat nicht gekauft hat, um sie danach für ein Amtshilfeersuchen zu verwenden. Die Frage, ob ein Staat den Grundsatz von Treu und Glauben bei von Art. 7 lit. c StAhiG erfassten Konstellationen verletzt hat, ist dann nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Art. 7 lit. c StAHiG konkretisiert das Prinzip von Treu und Glauben im internationalen Recht in Zusammenhang mit Informationen, die durch nach schweizerischem Recht strafbare Handlungen erlangt worden sind. Es kommt ihm nur insofern eine eigenständige Bedeutung zu, als die Schweiz dadurch verpflichtet ist, auf Amtshilfeersuchen, die in Widerspruch zu Treu und Glauben gestellt worden sind, nicht einzutreten, während im internationalen Recht bloss die Möglichkeit zum Nichteintreten vorbehalten ist (BGE 143 II 224 E. 6.2 S. 229; Urteil 2C_1042/2016 vom 12. Juni 2018 E. 5.3.1). Dem ersuchenden Staat kann die unilaterale Ausformulierung der Anwendung des Vertrauensprinzips nur entgegengehalten werden, wenn a. ein entsprechender Verweis in das bilaterale Abkommen (oder Protokolle dazu) aufgenommen wurde, d.h. der Vertragsstaat diesen Vorbehalt akzeptiert hat oder b. feststeht, dass der Vertragsstaat den Grundsatz von Treu und Glauben verletzt hat. Ob eine solche Verletzung vorliegt, beurteilt sich dabei nach dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111; vgl. BGE 143 II 224 E. 6.2 S. 229).
3.4.
3.4.1. Art. 7 lit. c StAhiG ist vorliegend dementsprechend nur von beschränkter Tragweite; massgebend ist primär das DBA CH-IN als völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Schweiz und der Republik Indien. Dessen Ziff. 10 Bst. b des Protokolls zum DBA CH-IN verlangt vom ersuchenden Staat keine Angaben zur Herkunft der Grundlage des Ersuchens bildenden Daten. Zwar weist die Schweiz seit Frühjahr 2010 im Rahmen der DBA-Verhandlungen darauf hin, dass sie keinen Informationsaustausch gewährt bei Gesuchen, die auf illegal erworbenen Daten beruhen (vgl. Stellungnahme des Bundesrates zur Interpellation vom 16. März 2012: Verwendung von gestohlenen Bankdaten in Steuerverfahren, Antwort zur 3. Frage [Datenbank curia vista, 12.3302]; Opel, a.a.O., N. 4 Fn. 13 sowie N. 23 Fn. 64). Im Protokoll zum DBA CH-IN hat dies allerdings (noch) keinen ersichtlichen Niederschlag gefunden.
3.4.2. Ebensowenig findet sich im DBA CH-IN eine Verpflichtung, wonach der ersuchende Staat eine Zusicherung abgeben muss, sein Ersuchen nicht auf Informationen abzustützen, die durch nach schweizerischem Recht strafbare Handlungen erlangt worden sind. Der gute Glaube eines Staates ist in internationalen Beziehungen vorausgesetzt. In Zusammenhang mit der Amtshilfe in Steuersachen bedeutet dies, dass grundsätzlich kein Anlass besteht, an der Richtigkeit und Einhaltung der Sachverhaltsdarstellung und an Erklärungen anderer Staaten zu zweifeln (BGE 143 II 224 E. 6.3 S. 229 f.; 202 E. 8.7.1 S. 221; 142 II 161 E. 2.1.3 S. 167 f.; 128 II 407 E. 3.2, 4.3.1 und 4.3.3). Bei ernsthaften Zweifeln steht das Prinzip von Treu und Glauben einer Nachfrage beim ersuchenden Staat zur Klärung der Situation nicht im Wege (BGE 143 II 202 E. 8.7.1 S. 221 f.). Dementsprechend hielt auch die Vorinstanz in ihrer E. 6.4 fest, dass es Sache der ESTV sei, bei Zweifeln über die legale Herkunft der in einem Amtshilfeersuchen enthaltenen Informationen vom ersuchenden Staat eine ausdrückliche Zusicherung zu verlangen, wonach die Informationen, auf welchen das Ersuchen beruht, nicht durch nach schweizerischem Recht strafbare Handlungen erlangt wurden. Eine solche Rückfrage diene zur Beantwortung der Frage, wann von einem Ersuchen auszugehen ist, das sich auf Informationen aus nach schweizerischem Recht strafbaren Handlungen stützt. Insbesondere ist es gemäss Vorinstanz für sich genommen nicht als Treuwidrigkeit des ersuchenden Staates zu werten, wenn er trotz Aufforderung der ESTV keine solche ausdrückliche Zusicherung abgibt. Diese Ansicht ist zutreffend, zumal sich Indien im DBA CH-IN nicht zur Abgabe einer solchen Zusicherung verpflichtet hat.
[…]