Urteil des Bundesgerichts 2C_455/2021 vom 31. Mai 2022

Voraussichtliche Erheblichkeit von Steuerveranlagungen

  • Trattato da: Dina Merkli
  • Categoria di articoli: Sentenza di principio
  • Campo del diritto: Assistenza amministrativa internazionale
  • Citazione: Dina Merkli, Urteil des Bundesgerichts 2C_455/2021 vom 31. Mai 2022, ASA Online: Sentenza di principio
Urteil des Bundesgerichts 2C_455/2021 vom 31. Mai 2022 i.S. A.________ NV, B.________ NV, C.________ NV, D.________ AG gegen Eidgenössische Steuerverwaltung. Amtshilfe DBA (AIA-Abkommen) (Gegenstand).
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung I, vom 7. Mai 2021 (A-5034/2020).

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt (Zusammenfassung)
  • 3. Aus den Erwägungen

1.

Regeste ^

Bei einer Gruppenstruktur, in der die schweizerische Gesellschaft innerhalb der Gruppe für den zentralisierten Einkauf zuständig ist und den anderen belgischen Gesellschaften konzernintern eine Kommission als Entschädigung für die erbrachten Dienstleistungen in Rechnung stellt, finden diese Verrechnungspreise über den handelsrechtlichen Gewinn Eingang in die Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft. Der erforderliche Zusammenhang zwischen dem im Amtshilfeersuchen dargestellten Sachverhalt und den ersuchten Informationen (Steuerveranlagungen) ist folglich gegeben. Die Steuerveranlagungen erweisen sich – unabhängig von einer Spezialbestimmung zur Beweislast – als voraussichtlich erheblich (E. 4.3.2).

Dans un groupe à lintérieur duquel la société suisse est compétente pour lachat centralisé et facture à l’interne aux autres sociétés belges une commission pour les services rendus, ces prix de transfert se retrouvent à travers le bénéfice commercial dans les décisions de taxation («avis d’imposition») de la société suisse. Lexigence du lien entre létat de fait exposé dans la demande d’assistance administrative et les informations requises (décisions de taxation) est alors réalisée. Les décisions de taxation se révèlent – indépendamment d’une disposition spéciale sur le fardeau de la preuve – vraisemblablement pertinentes (consid. 4.3.2).

2.

Sachverhalt (Zusammenfassung) ^

A.

Am 6. September 2019 richtete der Service Public Fédéral Finances des Königreichs Belgien ein Amtshilfeersuchen an die Eidgenössische Steuerverwaltung. Die ersuchende Behörde führte als vom Ersuchen betroffene Personen die belgischen Gesellschaften A.________ NV, B.________ NV, C.________ NV auf.

A.a. Im Zusammenhang mit der Überprüfung der Steuersituation der belgischen Gesellschaften in Belgien für die Jahre 2017 und 2018 führte die Behörde in ihrem Ersuchen aus, dass sie Informationen der schweizerischen Gesellschaft D.________ AG mit Sitz in U.________ benötige. Die Behörde ersuchte namentlich um die Jahresrechnungen und Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft für die Jahre 2017 und 2018 (« ... les comptes annuels ... et les avis d’imposition ... »).

A.b. Die ESTV erliess am 11. Oktober 2019 je eine Editionsverfügung gegenüber der schweizerischen Gesellschaft und gegenüber der Steuerverwaltung des Kantons Zug.

B.

Mit Verfügung vom 8. September 2020 gegenüber den drei belgischen Gesellschaften und der schweizerischen Gesellschaft gelangte die ESTV zum Schluss, der ersuchenden Behörde sei die Amtshilfe zu gewähren.

Gegen diese Schlussverfügung erhoben die A.________ NV, die B.________ NV, die C.________ NV und die D.________ AG Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 7. Mai 2021 ab.

C.

Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 31. Mai 2021 gelangen die A.________ NV, die B.________ NV, die C.________ NV und die D.________ AG an das Bundesgericht. Sie beantragen die Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Mai 2021.

(...)

3.

Aus den Erwägungen ^

(...)

4.

Die Beschwerdeführerinnen beanstanden zunächst, dass die Vorinstanz die von der ersuchenden Behörde verlangten Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft als voraussichtlich erheblich beurteilt hat.

(...)

4.2. Gemäss Art. 5 Abs. 1 AIA-Abkommen tauschen die zuständige Behörde der Schweiz und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten auf Ersuchen die Informationen aus, die zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Verwaltung oder Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts über Steuern jeder Art und Bezeichnung, die für Rechnung der Schweiz und der Mitgliedstaaten oder ihrer politischen Unterabteilungen oder ihrer lokalen Körperschaften erhoben werden, voraussichtlich erheblich sind, soweit die diesem Recht entsprechende Besteuerung nicht einem geltenden Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und dem betreffenden Mitgliedstaat widerspricht.

(...)

4.2.2. Die voraussichtliche Erheblichkeit von geforderten Unterlagen oder Auskünften muss sich bereits aus dem Amtshilfeersuchen ergeben. Nach der Edition der verlangten Unterlagen hat die Steuerbehörde des ersuchten Staats zu prüfen, ob die betreffenden Informationen für die Erhebung der Steuer voraussichtlich erheblich sind. Dem «voraussichtlich» kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Der ersuchende Staat muss die Erheblichkeit voraussehen und deshalb im Amtshilfeersuchen geltend machen und der ersuchte Staat muss nur solche Unterlagen übermitteln, die voraussichtlich erheblich sind. Die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit ist erfüllt, wenn im Zeitpunkt der Gesuchstellung eine vernünftige Möglichkeit besteht, dass sich die angefragten Angaben als erheblich erweisen werden. Hingegen spielt es im Grundsatz keine Rolle, wenn sich – einmal beschafft – herausstellt, dass die Informationen nicht relevant sind. Es liegt nicht am ersuchten Staat, ein Ersuchen oder die Übermittlung von Auskünften zu verweigern, weil er der Ansicht ist, es fehle an der Erheblichkeit der Anfrage oder der dieser zugrunde liegenden Überprüfung. Die ersuchte Behörde hat somit nicht zu entscheiden, ob der im Amtshilfeersuchen dargestellte Sachverhalt gänzlich der Realität entspricht, sondern muss nur überprüfen, ob die ersuchten Informationen einen Bezug zu diesem Sachverhalt haben (vgl. BGE 144 II 206 E. 4.3; 143 II 185 E. 3.3.2; 142 II 161 E. 2.1.1). Der ersuchte Staat kann Auskünfte daher nur verweigern, wenn ein Zusammenhang zwischen den verlangten Angaben und der Untersuchung wenig wahrscheinlich erscheint (vgl. auch Art. 7 StAhiG). Kommt die Steuerbehörde des ersuchten Staats zum Schluss, ein Zusammenhang sei steuerlich nicht relevant, muss sie gemäss Art. 17 Abs. 2 StAhiG diese Informationen aussondern oder unkenntlich machen (vgl. BGE 143 II 185 E. 3.3.2; 141 II 436 E. 4.4.3). Folglich beschränkt sich die Rolle der Steuerbehörden des ersuchten Staats im Wesentlichen auf die Prüfung der Plausibilität des Ersuchens (vgl. BGE 142 II 161 E. 2.1.1; vgl. auch Urteil 2C_241/2016 vom 7. April 2017 E. 5.4).

(...)

4.3. Mit Amtshilfeersuchen vom 6. September 2019 ersuchte die ersuchende Behörde unter anderem um Übermittlung der Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft der Jahre 2017 und 2018, um die Angemessenheit und wirtschaftliche Begründetheit der von den belgischen Gesellschaften (konzernintern) an die schweizerische Gesellschaft bezahlten Kommissionen zu überprüfen.

4.3.1. Das Bundesgericht hat mit Bezug auf Verrechnungspreisfälle bereits festgehalten, dass die Amtshilfe nebst der Durchführung des Abkommens den Zweck hat, die Durchführung des innerstaatlichen Steuerrechts der Vertragsstaaten zu ermöglichen (vgl. Art. 5 Abs. 1 AIA-Abkommen). Hierzu können grundsätzlich sämtliche Informationen, die ein Vertragsstaat für die Steuerveranlagung seiner Steuerpflichtigen benötigt, wesentlich sein. Ein Amtshilfeersuchen kann von einem Vertragsstaat auch gestellt werden, um von Drittpersonen Auskünfte über Vertragsbeziehungen zu einer bestimmten Person zu verlangen. So können zur Durchführung des innerstaatlichen Steuerrechts etwa Informationen wesentlich sein, die zur Überprüfung des zwischen Konzerngesellschaften vereinbarten Verrechnungspreises notwendig sind (vgl. BGE 143 II 185 E. 3.3.3; Urteil 2C_690/2015 vom 15. März 2016 E. 3.3; vgl. auch BGE 144 II 29 E. 4.2.4; Urteil 2C_616/2018 vom 9. Juli 2019 E. 4.4 i.f.).

Das Bundesgericht anerkannte im Zusammenhang mit einem Amtshilfeersuchen zur Überprüfung der wirtschaftlichen Realität einer schweizerischen Gesellschaft, dass Informationen über den Betrieb, die Anzahl Angestellten und die Räumlichkeiten der Gesellschaft als voraussichtlich erheblich anzusehen seien (vgl. BGE 142 II 69 E. 3.2; vgl. auch BGE 143 II 185 E. 3.3.3). In einem anderen Fall gelangte es hinsichtlich Namen und Adressen der Angestellten eines schweizerischen Unternehmens sowie der Namen der Klienten zum selben Ergebnis, da sich diese Angaben auf die Verrechnungspreise bezögen und damit die Kontrolle der Leistungen zwischen der schweizerischen und der französischen Gesellschaft ermöglichten (vgl. Urteil 2C_690/2015 vom 15. März 2016 E. 3.5 und E. 4.4).

4.3.2. Ausschlaggebend für die Beurteilung des Erfordernisses der voraussichtlichen Erheblichkeit ist auch bei Verrechnungspreisfällen lediglich der Umstand, dass der im Amtshilfeersuchen dargestellte Sachverhalt und die ersuchten Informationen einen Konnex aufweisen und eine vernünftige Möglichkeit besteht, dass sich die angefragten Angaben als erheblich erweisen werden. Nur wenn ein Zusammenhang zwischen den verlangten Angaben und der Untersuchung wenig wahrscheinlich erscheint, darf die voraussichtliche Erheblichkeit verneint werden (vgl. E. 4.2.2 hiervor).

Die Verrechnungspreise schlagen sich im handelsrechtlichen Gewinn der schweizerischen Gesellschaft nieder. Dieser Gewinn ist aufgrund des Massgeblichkeitsprinzips auch Grundlage des in der Steuererklärung der schweizerischen Gesellschaft zu deklarierenden Gewinns sowie des durch die Steuerbehörden zu veranlagenden Gewinns (zum Grundsatz der Massgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz vgl. Art. 58 Abs. 1 lit. a DBG [SR 642.11]; Art. 24 Abs. 1 StHG [SR 642.14]; BGE 141 II 83 E. 3.1; Urteil 2C_857/2020 vom 11. Februar 2021 E. 4.1). Bei der vorliegend relevanten Gruppenstruktur, in der die schweizerische Gesellschaft innerhalb der Gruppe für den zentralisierten Einkauf zuständig ist und den anderen belgischen Gesellschaften konzernintern eine Kommission als Entschädigung für die erbrachten Dienstleistungen in Rechnung stellt, finden diese Verrechnungspreise über den handelsrechtlichen Gewinn Eingang in die Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft. Die Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft enthalten somit Informationen mit Bezug auf die Verrechnungspreise. Der nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erforderliche Zusammenhang zwischen dem im Amtshilfeersuchen dargestellten Sachverhalt (Prüfung der Angemessenheit und wirtschaftlichen Begründetheit der Kommissionen) und den ersuchten Informationen (Steuerveranlagungen) ist folglich gegeben. Die Steuerveranlagungen sind in der vorliegenden Angelegenheit – unabhängig von einer Spezialbestimmung zur Beweislast (vgl. E. 1.2.2 f. hiervor) – für die Überprüfung der Verrechnungspreise und der Gewinnverteilung zwischen den (Konzern-) Gesellschaften folglich geeignet und erweisen sich als voraussichtlich erheblich.

4.3.3. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen hatte die Vorinstanz vorliegend indes nicht zu prüfen, was mit den Steuerveranlagungen bewiesen werden sollte und aus welchen Angaben in den Steuerveranlagungen Rückschlüsse auf die konzerninterne Verrechnungspreisstrategie gezogen werden könnten. Die Vorinstanz hatte lediglich zu überprüfen, ob die ESTV im Rahmen der Plausibilitätskontrolle (vgl. E. 4.2.2 i.f. hiervor) zu Recht davon ausging, dass zwischen dem im Amtshilfeersuchen dargestellten Sachverhalt (Prüfung der Angemessenheit und wirtschaftlichen Begründetheit der Kommissionen) und den ersuchten Informationen (Steuerveranlagungen) ein hinreichender Zusammenhang besteht. Deshalb verletzte die Vorinstanz, wie von den Beschwerdeführerinnen gerügt, nicht ihren Begründungsanspruch.

(...)

4.5. Im Lichte des Gesagten sind die Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft zur Kontrolle der Angemessenheit und wirtschaftlichen Begründetheit der den belgischen Gesellschaften fakturierten Kommissionen (Verrechnungspreise) voraussichtlich erheblich. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die Übermittlung der Steuerveranlagungen der schweizerischen Gesellschaft für die Jahre 2017 und 2018 gestützt auf das Amtshilfeersuchen vom 6. September 2019 bestätigte.

6.

Im Ergebnis ist die Beschwerde unbegründet, weshalb sie abzuweisen ist.

(...)