Liebe Leserinnen und Leser
In dieser Oktober-Ausgabe von Jusletter IT präsentieren wir schwerpunktmäßig die Werke eines Pioniers der Rechtsinformatik, Dr. Lothar Philipps, Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Die Rechtsinformatik im deutschen Sprachraum zeichnet sich auch dadurch aus, dass schon sehr früh – seit den 1960er Jahren – die theoretische Reflektion des Rechts und die Auswirkungen der Informationstechnik auf Staat und Gesellschaft intensiv betrieben wurde und wird.
Lothar Philipps gehört zu den herausragenden Vertretern dieser Richtung. Ich kenne Philipps seit 1991, als ich Teilnehmer seines Rechtsinformatik-Workshops beim IVR-Weltkongress in Göttingen 1991 war. Danach ist der Kontakt nicht mehr abgerissen. Durch Philipps wurde mein Interesse an neuronalen Netzen geweckt und auch die Kontakte zur italienischen Rechtsinformatik hergestellt. Später reiste ich regelmäßig nach München zur Herbsttagung des Fachbereichs Rechtsinformatik der Gesellschaft für Informatik. Beim Robotik-Projekt der Europäischen Akademie für Technikfolgenabschätzung hat mich Philipps als Kommentator unterstützt und wichtige Impulse geliefert.
Seit 1998 kommt Philipps fast regelmäßig zum Internationalen Rechtsinformatik Symposion IRIS und bereichert die Diskussion durch seine rethorisch brillanten und tiefsinnigen Vorträge und Kommentare. Im Rahmen des IRIS wurde im Jahr 1994 ihm zu Ehren ein Kolloquium abgehalten, dessen Ergebnisse in der Festschrift Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps veröffentlicht wurden.
Worin liegt die Bedeutung von Lothar Philipps? Ich habe seinen langjährigen Freund Friedrich Lachmayer gefragt und er hat mir bei den folgenden Zeilen «die Hand geführt». Neben vielfältiger Zusammenarbeit seit vielen Jahren ist Philipps ein regelmäßiger Vortragender bei dessen Seminaren in Innsbruck.
Philipps habilitierte sich an der Universität Saarbrücken mit dem Thema der Ontologien. Dann folgte er dem Ruf an die Universität München, zum Institut von Arthur Kaufmann. Der deutschen Hochschulpraxis entsprechend, war sein Schwerpunkt als Hochschullehrer ein Hauptfach – Strafrecht, aber «daneben» hat er sich intensiv mit Rechtstheorie und Rechtsinformatik beschäftigt. Als Rechtstheoretiker genießt er weltweites Ansehen; hier gehört er zu den «Top10».
Als Rechtsinformatiker war die Formalisierung und die Strukturierung des Rechts sein Anliegen; dies ist mit dem Hintergrund eines Strafrechtslehrers zu sehen. Er hat die Forderung von Herbert Fiedler nach formalem Denken kombiniert mit solider Rechtsdogmatik und juristischer Kompetenz konsequent und wissenschaftlich sehr befruchtend umgesetzt. Als Rechtslogiker hat er sich dann auch von der Rechtstheorie in die Informatik bewegt; zuerst mit logisch-basierten Wissenssystemen, später mit unscharfer Logik (fuzzy logic) und dann mit neuronalen Netzen. Seine Fälle – aus der Praxis eines Strafrechtslehrers und Kenners von Kriminalromanen – sind nicht nur unterhaltsam, sondern geben einen tiefsinnigen Einblick in die theoretischen Fragestellungen des Rechts.
Im Sinne der Gelehrtenrepublik von Arthur Kaufmann wurde München zu einem Zentrum der Rechtstheorie und Rechtsinformatik. In seinem «Donnerstagsseminar» konnte er von weither Gastvortragende gewinnen. Sein intensiver Erfahrungsaustausch mit japanischen Kollegen – angeführt seien nur Hajime Yoshino und Guido Tsuno – ist legendär.
Von seiner nach wie vor ungebrochenen abstrakten kreativen Schaffenskraft zeugen die hier erstmals veröffentlichen Beiträge. Frühere Beiträge von Philipps zeigen, dass die Fragestellungen der Rechtsinformatik zwar durch die Informationstechnik intensiv motiviert sind, aber im Kern eine sehr lange Tradition ausweisen. Philipps bezieht sich immer wieder auf formale Denker in früherer Zeit, auf Denker der Aufklärung, insbes. auf Leibniz, aber er geht auch auf die Antike – hier auf Aristoteles – ein. Es geht um formale Strukturen in der Sache, um universalia in re.
Die Werke von Philipps sind nach Themen geordnet. Vier Beiträge setzen sich mit Rechtslogik auseinander: Anschauliche Normlogik. Zugleich eine Erinnerung an Bindings Normentheorie, Anschauliche Rechtssatzlogik – Rechtssätze mit Ausnahmen (erschienen im Tagungsband IRIS2011, Jusletter IT vom 24. Februar 2011), Dialogische Logik und juristische Beweislastverteilung und Rechtliche Regelung und formale Logik.
Danach folgen 11 Beiträge, die unter Strukturanalyse des Rechts eingeordnet werden können: Der Kampf um markierte und unmarkierte Ausdrücke in Sprache und Recht, Von deontischen Quadraten – Kuben – Hyperkuben, Absolute und relative Rechte und verwandte Phänomene, Verhaltensvarianten – ihre kombinatorische Erfassung, Von Puppen aus Russland und einer Rechtslehre aus Wien. Der Rekursionsgedanke im Recht, Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen, Jean-Jacques Rousseau, ein Memetiker avant la lettre, Das Abstimmungsparadoxon im juristischen Alltag (erschienen im Tagungsband IRIS2010, Jusletter IT vom 1. September 2010), Auf die Entsprechung kommt es an! Die Logik der je/desto-Sätze im Recht, Judge Rosenbergs Werte – Wie ein niederrangiger Wert einen höherrangigen übertreffen kann und Das Netz des Gesetzgebers. Eine aufgelockerte Verknüpfung von Tatbestandmerkmalen, um typische Fälle zu erfassen und Gesetzesumgehungen zu verhindern.
Sechs Beiträge zur Rechtstheorie schließen die Sammlung ab: Tû-Tû 2. Von Rechtsbegriffen und neuronalen Netzen, Die Vereinigung konkurrierender Prinzipien der Gerechtigkeit, Agatha Christie und Jehoshua Bar Hillel. Informationstheorie und Gerechtigkeit, Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie (erschienen in der Sammlung Q-Justice 2011, Jusletter IT vom 29. Juni 2011), Moralische Doppelwirkungen – die Wiederkehr einer naturrechtlichen Denkfigur aus dem Internet und Strafrechtsprobleme in der Ästhetik des Kriminalromans.
Die Beiträge von Heide Ebert – Können moderne Radaktionssysteme die legistische Arbeit unterstützen? – und Antje Dietrich – ITIL: Entscheidende Kennzahlen zur Optimierung von Geschäftsprozessen innerhalb der öffentlichen Verwaltung – ergänzen die Tagungsdokumentation des IRIS2011.
Orlan Lee hat sich eines sehr wichtigen Themas angenommen: den Ausbau des Rechtsschutzes gegen die extensive Sammlung und Weitergabe von oft sehr persönlichen Informationen durch Kreditauskunfteien in den USA – Human Resources Assessment and Digging Up Dirt: Getting Around the Libel Laws.
Günther Sammer und Maximilian Schubert plädieren für ein «Tertium» zwischen Öffentlichkeit und Privat im Urheberrecht, um «üblichen Internetnutzungen» ausreichend Raum zu geben: Das «Tertium» als ersten Schritt zum internetfitten Urheberrecht.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe!