1.
PROLOG ^
Treffen sich zehn Professoren um zu beraten, ob im Rahmen einer Ausschreibung die Denomination «Rechtsinformatik» in eine Lehrstuhlbeschreibung aufgenommen werden soll.
Sie debattieren wie folgt.
DIE VORSITZENDE
Wir sind ja nun mit der Anregung des Ministeriums konfrontiert, «Rechtsinformatik» als zusätzliche Bezeichnung neben dem dogmatischen Fach vorzusehen, das wir ursprünglich allein ausschreiben wollten. Das Ministerium hat uns bei dieser Gelegenheit wissen lassen, dass wir als Fakultät der verantwortlichen Begleitung des dominanten Digitalisierungstrends nicht länger ausweichen sollten.
PROFESSOR 2
Ich bin aus prinzipiellen prozeduralen Erwägungen dagegen, dieser Anregung auch nur durch begleitendes Nachdenken zu folgen. Das Ministerium spricht in Sonntagsreden gerne von der Autonomie der Universität, äußert dann aber doch immer wieder in einem imperativen Ton klare Erwartungen. Wir sollten uns solchen Zumutungen nicht unterwerfen.
PROFESSOR 6
Da gibt es zusätzlich von der materiellen Seite her einen gleichfalls prinzipiellen fundamentalen Einwand. Die Politik argumentiert mit dem Hinweis auf einen übermächtigen Digitalisierungstrend. Das mag faktisch richtig sein, beweist aber normativ gar nichts. Wir haben es mit dem klassischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu tun. Um es mit einem legendären Spruch aus dem alten Bonner Ministeriumskarneval zu sagen: Nur weil die Kartoffeln da sind, müssen sie nicht gegessen werden. Schon die römischen Juristen wussten: Der Charakter macht den Juristen aus. Und dieser Charakter hat sich oft genug im Widerstand gegen scheinbar übermächtige Trends zu beweisen.
DIE VORSITZENDE
Wir sollten trotzdem über die Idee des Ministeriums beraten. Denn es lässt sich ja nicht ausschließen, dass das Ministerium einen für unser Handeln relevanten Aspekt benannt hat. Sie wissen schon: Manchmal trifft ja das Sprichwort «Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand» doch zu.
(Heiterkeit in der Runde)
PROFESSOR 2
Ihr Vertrauen in Sprichwörter in alle Ehren, liebe Frau Kollegin. Ich beteilige mich also collegialiter und aus Respekt vor Ihnen an der Debatte, aber nur unter Protest. Im Übrigen bin ich ziemlich sicher, dass sich kaum vernünftige Gründe für die Hinzufügung einer Denomination «Rechtsinformatik» anführen lassen.
PROFESSOR 3
Der Kollege hat recht. Es gibt keine guten Gründe, die dafür streiten, wohl aber gewichtige Gegengründe. Ich will nur zwei nennen. Erstens ist die Rechtsinformatik seit vielen Jahren tot, mausetot würde ich sogar sagen. Das haben mir kompetente auswärtige Kollegen bestätigt. Kürzlich habe ich das auch noch in einer sehr gewichtigen Habilitationsschrift gelesen. Und zweitens: Niemand weiß so genau, was unter «Rechtsinformatik» zu verstehen ist.
PROFESSOR 4
Bei allem schuldigen Respekt: Ihr Statement ist widersprüchlich. Man kann nicht im gleichen Atemzug die Rechtsinformatik für tot erklären und dann hinzufügen, man wisse nicht, was unter «Rechtsinformatik» zu verstehen sei. Zudem darf ich Ihnen versichern: Die Rechtsinformatik ist quicklebendig. Wer das erfahren will, muss nur zur IRIS fahren. Da können Sie übrigens in Gestalt des Kollegen Schweighofer, dem spiritus rector und der guten Seele der IRIS, einen echten Rechtsinformatiker erleben.
PROFESSOR 2
(Zwischenruf)
IRIS?
PROFESSOR 4
Das ist das Internationale Rechtsinformatik Symposion, hat heuer zum 22. Mal getagt, übrigens in Salzburg, also nicht so weit weg von hier.
PROFESSOR 3
Sei’s drum. Aber mir hat noch niemand erklären können, was genau mit «Rechtsinformatik» gemeint ist.
PROFESSOR 5
Das ist so schwer nun nicht zu begreifen: Die Rechtsinformatik wendet Methoden der Informatik auf juristische Gegenstände an mit dem Ziel, Rechtswissenschaft und Rechtspraxis mit eben diesen Methoden zu unterstützen.
PROFESSOR 6
Also handelt es sich um ein Informatik-Fach?
PROFESSOR 4 und PROFESSOR 5
(unisono)
Ja.
PROFESSOR 6
Da haben wir es ja und Ende der Debatte: Ein Informatik-Fach gehört nicht in eine rechtswissenschaftliche Fakultät, weil Informatik-Fächer eben schlicht und einfach nicht Teil der Rechtswissenschaft sind.
PROFESSOR 7
(Mit ironischem Unterton)
Wenn das richtig wäre, sollten wir konsequenterweise Fächer wie Rechtssoziologie, Rechtspsychologie oder ökonomische Analyse des Rechts aus unserem Fächerkanon entfernen.
PROFESSOR 3
(Ironiefrei)
Hätte ich nichts dagegen.
DIE VORSITZENDE
Ich glaube nicht, dass wir mit dieser Art der Kontroverse weiterkommen. Deswegen schlage ich vor, dass wir weitere Gründe und Gegengründe sammeln, diese dann gegeneinander abwägen und erst danach abschließend entscheiden.
PROFESSOR 8
Ich hätte da einen pragmatischen Vorschlag, der es erlaubt, dem Ministerium zu folgen und trotzdem unser rechtswissenschaftliches Proprium zu wahren. Ich habe gesehen, dass man in Deutschland «Rechtsinformatik» weitgehend mit «Informationsrecht» identifiziert. Also schreiben wir «Rechtsinformatik» auf das Etikett und verstehen darunter «Informationsrecht». So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir demonstrieren Modernität nach außen und belassen nach innen alles beim Alten. Übrigens fahren zahlreiche deutsche Fakultäten und Institute mit dieser Strategie gar nicht schlecht.
PROFESSOR 10
Ich dachte, wir wollten über ein Alleinstellungsmerkmal reden.
PROFESSOR 4
Mit «Rechtsinformatik» im Sinne eines Informatik-Faches hätten wir ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
PROFESSOR 7
Ist die Strategie «Wo «Rechtsinformatik» draufsteht ist «Informationsrecht» drin» nicht eine Art von subtilem Etikettenschwindel? Irgendwann wird das doch auffallen.
PROFESSOR 8
Zunächst verwehre ich mich in aller Schärfe gegen diese Unterstellung. Und dann: In der Definition unserer Begriffe sind wir ja wohl immer noch frei. Das verstehe ich unter Wissenschaftsfreiheit. In Anbetracht des unerträglichen Stils des Angriffs auf mich werde ich mich derartigen Zumutungen jetzt nicht mehr weiter aussetzen.
(Verlässt den Saal, murmelt gut vernehmlich «Mir reicht’s.»)
PROFESSOR 6
Ein Vorschlag zur Güte: Warum sagen wir nicht statt «Rechtsinformatik» einfach «Recht der Informatik»? Dann sind wir alle Probleme los und haben die Thematik gewissermaßen juristisch eingehegt. Ich darf hinzufügen, dass diese Strategie mit allen heutigen modernistischen Buzzwords perfekt funktioniert: ejustice-Recht, LegalTech-Recht, Recht der Künstlichen Intelligenz, Recht der Digitalisierung – and so on and so forth. Wir sollten von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch machen. Auf diese Weise bleiben wir Juristen Herr der Dinge und werden in dieser Rolle übrigens von anderen Fächern gerne konsultiert. Wir sollten nichts tun, diese unsere Autorität zu untergraben, indem wir auch nur entfernt anklingen lassen, auf die Informatik angewiesen zu sein. Ein besonderer Charme meines Lösungsvorschlags liegt schließlich noch darin, dass «Recht der Informatik» so ähnlich klingt wie «Rechtsinformatik» und das Ministerium deswegen erfreuen dürfte.
(Gedämpfte Heiterkeit in der Runde)
PROFESSOR 9
Bevor jetzt jemand diese so überzeugend entwickelte Position zurückweist, möchte ich daran erinnern, dass nur sie dem geltenden Recht entspricht, und darauf sollte es uns ja wohl entscheidend ankommen. Ich darf bei der Gelegenheit einmal § 5a Absatz 2 des Deutschen Richtergesetzes in voller Länge rezitieren, der folgendes – für uns verbindlich – bestimmt:
«Gegenstand des Studiums sind Pflichtfächer und Schwerpunktbereiche mit Wahlmöglichkeiten. Außerdem ist der erfolgreiche Besuch einer fremdsprachigen rechtswissenschaftlichen Veranstaltung oder eines rechtswissenschaftlich ausgerichteten Sprachkurses nachzuweisen; das Landesrecht kann bestimmen, dass die Fremdsprachenkompetenz auch anderweitig nachgewiesen werden kann. Pflichtfächer sind die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich der europarechtlichen Bezüge, der rechtswissenschaftlichen Methoden und der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen. Die Schwerpunktbereiche dienen der Ergänzung des Studiums, der Vertiefung der mit ihnen zusammenhängenden Pflichtfächer sowie der Vermittlung interdisziplinärer und internationaler Bezüge des Rechts.»
Von Rechtsinformatik lese ich da nichts. Und so sehr ich aus taktischen Gründen den Vorschlag zu würdigen weiß, «Rechtsinformatik» zu sagen und «Informationsrecht» zu meinen: Das wäre schon vom Wortlaut her mit dem Deutschen Richtergesetz nicht vereinbar. Summa summarum: Wenn man etwas Anderes von uns will, soll man das Gesetz ändern. Bis dahin bleibt es bei unserer streng rechtswissenschaftlichen Orientierung an Gesetz und Recht.
DIE VORSITZENDE
Ich könnte mir schon vorstellen, dass sich das Ministerium Gedanken über die Auslegung des Deutschen Richtergesetzes gemacht hat, bevor es an uns herangetreten ist.
PROFESSOR 10
Ich sehe das Ganze etwas weniger aufgeregt als die bisherigen Diskutanten. Nachdem nun aber die Auslegung des Deutschen Richtergesetzes debattiert wird, sehe ich eine unserer juristischen Kernkompetenzen gefragt, die Auslegung nämlich. Und da kann es nicht angehen, dass man einen Paragraphen zitiert und lapidar feststellt, da stünde das Wort «Rechtsinformatik» nicht drin. Daneben ist ja schließlich noch das System des Gesetzes zu betrachten. Sehr aussagekräftig ist in dieser Hinsicht die Regelung zu den Prüfungen in § 5d Absatz 1 DRiG, der lautet:
«Staatliche und universitäre Prüfungen berücksichtigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen nach § 5a Abs. 3 Satz 1.»
Nun wird sich nicht bestreiten lassen, dass die rechtsprechende, die verwaltende und die rechtsberatende Praxis massiv durch die Digitalisierung beeinflusst und geprägt sind. All das wird hier zum notwendigen Prüfungsgegenstand erklärt. Und da gelehrt werden muss, was geprüft wird, ist die Digitalisierung – und mithin auch die Rechtsinformatik – ein legitimer Lehrgegenstand. Übrigens macht der Zusatz «einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen» ergänzend deutlich, dass das im vorherigen Satz Gemeinte über die Schlüsselqualifikationen hinausgeht, weswegen der Aufzählung der Schlüsselqualifikationen alles Limitierende abgeht. Der Gesetzgeber will zum Weiterdenken inspirieren. Damit haben wir in Gestalt des Gesetzes schließlich auch das – zu Beginn unseres Gesprächs zu recht eingeforderte – Brückenprinzip vom «Sein» der Digitalisierung hin zum «Sollen» in der Ausgestaltung unseres Lehr- und Forschungsprogramms gefunden.
PROFESSOR 6
(In leicht gereiztem Ton)
Wollen Sie jetzt etwa eine Vorlesung zum beA?
PROFESSOR 2
Bea?
PROFESSOR 10
Besonderes elektronisches Anwaltspostfach. Siehe dazu § 130a Absatz 2 Nummer 4 ZPO. Im Übrigen fühle ich mich missverstanden.
PROFESSOR 2
Dann sprechen wir aber definitiv über ein Anwaltsthema, das frühestens ins Referendariat gehört, nicht jedoch in die grundständige Juristenausbildung.
PROFESSOR 10
Da wäre ich vorsichtig. Immerhin verlangt § 5 Absatz 2 DRiG:
«Studium und Vorbereitungsdienst sind inhaltlich aufeinander abzustimmen.»
Also dürfen wir das Studium nicht ohne Blick auf den Vorbereitungsdienst konzipieren.
DIE VORSITZENDE
(Mit einer Mischung aus Erheiterung und Ironie)
In Anbetracht der bisherigen Diskussion lag ich mit meiner Annahme, das Ministerium habe sich möglicherweise gehaltvolle Gedanken über das Verständnis des Deutschen Richtergesetzes gemacht, wohl doch nicht so ganz daneben.
PROFESSOR 4
Ich möchte den Hinweis auf das Deutsche Richtergesetz doch noch einmal aufgreifen und weiterführen. Sie werden staunen. Wenn man diesen Standpunkt konsequent weiterdenkt, landet man trotzdem wieder bei der Rechtsinformatik als notwendigem Bestandteil der juristischen Ausbildung. Denn die Behandlung von Rechtsfragen mit Informatik-Bezug setzt ein kompetentes Verständnis der in Bezug genommenen Informatik-Infrastruktur voraus.
PROFESSOR 3
(Steht auf und plädiert stehend.)
Erstens ist das ein billiger Argumentationstrick. Und zweitens lässt sich das über Lehraufträge für Informatiker ohne weiteres erledigen. Die sollen dann meinetwegen unseren Studierenden das nötige Informatik-Grundwissen beibringen. Es ist nicht gerechtfertigt, einen rechtswissenschaftlichen Lehrstuhl mit der Vermittlung von derartigem niederen, ganz unwissenschaftlichem Praxis-Knowhow zu befrachten, ja zu überfrachten. Am Ende käme dann noch jemand auf den Gedanken, eine Denomination wie «Microsoft Office» in Erwägung zu ziehen.
(Heiterkeit)
In aller Deutlichkeit: Der Rechtsinformatik fehlt die wissenschaftliche Dignität.
(Zustimmendes Murmeln)
Ich jedenfalls werde mich mit derartigen Dingen nicht befassen. Dafür ist mir mein Lehrdeputat zu schade. Wir haben ja kaum Zeit für die Vermittlung der rechtsdogmatischen Kernthemen, deren Vermittlung wir schulden.
Howgh, ich habe gesprochen.
(Setzt sich wieder.)
PROFESSOR 5
Ich hätte nach diesem beeindruckenden Plädoyer bei allem schuldigen Respekt doch noch eine Frage an den großen Häuptling. Wenn Sie in einer ZPO-Vorlesung erklären wollen, was in § 130c unter «strukturierter maschinenlesbarer Form» zu verstehen ist: Sprechen Sie dann aus rechtswissenschaftlicher Kompetenz oder aus Informatik-Kompetenz?
PROFESSOR 3
Aus beidem.
PROFESSOR 5
Und woher kommt die Informatik-Kompetenz? Nehmen Sie da immer einen Fachinformatiker mit in die Vorlesung?
PROFESSOR 3
Ihr Ton missfällt mir. Außerdem lasse ich mich nicht auf einen von Ihnen, werter Herr Kollege, aus durchsichtigen Gründen inszenierten Kompetenzstreit ein.
PROFESSOR 10
(Zwischenruf)
Bin auf seine Behandlung der eIDAS-Verordnung in der Vorlesung gespannt.
PROFESSOR 3
Das kommt bei mir nicht vor, weil es nicht in eine kernjuristische Vorlesung gehört.
DIE VORSITZENDE
(Entschieden)
Order, order, order.
(Pause)
Vorhin wurden die römischen Juristen angesprochen. Es war auch ausführlich von «Rechtswissenschaft» die Rede. Vielleicht sollten wir uns mit Blick darauf die Frage vorlegen, ob wir nicht eigentlich in Gestalt der «juris-prudentia» eine praxisorientierte Klugheitslehre zu vertreten haben. Und da die heutige Praxis durch Informatik geprägt ist, wären darauf bezogene Klugheitskonzepte mit juristischem Gehalt unter Berücksichtigung leitender Gerechtigkeitsprinzipien zu entwickeln.
Ich blicke auf meine Uhr. Die Zeit, die wir uns für unsere Beratung gegeben hatten, ist abgelaufen. Wir können also der zuletzt angesprochenen Frage nicht mehr nachgehen. Vielleicht aber bei der nächsten IRIS?
2.
EPILOG ^
In diesem Augenblick wache ich auf und stelle fest, dass ich das alles nur geträumt habe. So werden wir nicht mehr erfahren, ob der Lehrstuhl mit der Denomination «Rechtsinformatik» versehen wurde, und wenn ja, in welchem Sinne.