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Rechtsinformation, Rechtsdatenbanken & ChatGPT: Eine erste Einordnung

  • Autor/Autorin: Anton Geist
  • Beitragsart: Rechtsinformatik
  • Rechtsgebiete: Rechtsinformatik
  • DOI: 10.38023/c79523f6-219e-4749-8dbb-5005b7e20740
  • Zitiervorschlag: Anton Geist, Rechtsinformation, Rechtsdatenbanken & ChatGPT: Eine erste Einordnung, in: Jusletter IT 29. Juni 2023
Rechtsdatenbanken haben sich als unabdingbare Hilfswerkzeuge der juristischen Wissenschaft und Praxis etabliert. ChatGPT zeigt eindrucksvoll Entwicklungslinien für Rechtsdatenbanken auf und hat darüber hinaus auch eigene Anwendungsbereiche im Bereich der Rechtsinformation. Der Beitrag liefert eine erste Einordnung für einen sinnvollen, aber kritischen Umgang mit der Technologie.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Rechtsinformation, juristische Recherche & Rechtsdatenbanken
  • 2. ChatGPT
  • 3. Eine erste Einordnung
  • 4. Handlungsempfehlungen
  • 5. Danksagung
  • 6. Literatur

1.

Rechtsinformation, juristische Recherche & Rechtsdatenbanken ^

[1]

Bei sämtlichen Berufen der juristischen Wissenschaft und Praxis handelt es sich um klassische Wissensberufe, die sich durch eine enorme Informationsintensität auszeichnen. Schweighofers Befund gilt nach wie vor: „Juristisches Handeln ist primär durch Rechtsinformation bestimmt.“1 Juristische Recherche ist somit ein unverzichtbarer Bestandteil der Rechtspraxis und ein Kernaspekt für die Arbeit von Jurist:innen.

[2]

Am Beginn der juristischen Recherche steht typischerweise die Suche nach den für den aktuellen Sachverhalt relevanten Gesetzesbestimmungen. Schon dieser Schritt kann bei ausgefallenen Rechtsbereichen sowie verstreut geregelten Materien aufwändig sein. Aber auch die Suche nach einschlägiger Judikatur sowie juristischer Fachliteratur ist in nahezu allen juristischen Tätigkeitsbereichen unverzichtbar.

[3]

Rechtsdatenbanken bieten inzwischen seit Jahrzehnten – verglichen mit historischer Rechtsdokumentation in rein gedruckter Form – eine vielfach größere und fortlaufend weiter steigende Datenmenge, auf die unmittelbar elektronisch zugegriffen werden kann. Es stehen Suchmethoden zur Verfügung, welche über die Möglichkeiten klassischer Register bei Weitem hinausgehen. Staudegger hält im Ergebnis bereits 2016 fest, dass eine Rechtsdatenbank inzwischen „ein universelles und unabdingbares Hilfswerkzeug“2 darstellt.

2.

ChatGPT ^

[4]

Bei ChatGPT (Generative Pretrained Transformer) handelt es sich um ein Sprachmodell, also um einen Algorithmus des maschinellen Lernens (und somit eine „Künstliche Intelligenz“), der auf die Verarbeitung von Texten spezialisiert ist. ChatGPT ist in der Lage, menschenähnliche Antworten auch auf komplexe Fragen zu liefern und bietet damit neue Perspektiven für sämtliche Lebensbereiche. Anders als bei herkömmlichen Suchmaschinen wie Google wird auf ein artikuliertes Informationsbedürfnis nicht eine Liste an Suchergebnissen generiert, sondern vielmehr ein vollständiger Antworttext verfasst, der in einer weiteren Konversation noch verfeinert werden kann.

[5]

ChatGPT wurde am 30.11.2022 vom Unternehmen OpenAI öffentlich gemacht und ist seitdem in einer Basisversion frei zugänglich und kostenlos verfügbar. Dem Tool kommt auch deswegen besondere Bedeutung zu, da Microsoft sich an OpenAI beteiligt hat und ChatGPT in seine Office Produkte integrieren wird. Damit entsteht ein Zusammenschluss aus KI und IT-Industrie, der historischen Umfang hat. Die genannte Veröffentlichung von ChatGPT hat auch einen wesentlichen Beitrag zur breiten Anwendung künstlicher Intelligenz geleistet. Ganz allgemein kann die Qualität der von ChatGPT generierten Texte als erstaunlich gut bezeichnet werden, dementsprechend erleben wir eine weite und rasante Verbreitung der Anwendung.

3.

Eine erste Einordnung ^

[6]

Der Vollständigkeit halber sei einer ersten Einordnung vorangestellt, dass es in verschiedenen Rechtsbereichen eine Fülle an juristischen Fragen rund um den Einsatz von ChatGPT zu lösen geben wird. Diese Fragen sind nicht Teil dieses Beitrages, es sei nur festgehalten, dass das Potential des Tools gekoppelt mit der Reichweite von Microsoft-Produkten befürchten lässt, dass juristische Fragestellungen gegenüber faktischen Entwicklungen ins Hintertreffen geraten könnten.

[7]

Rechtsdatenbanken bieten eine hervorragende Möglichkeit, schnell und gezielt auf eine Vielzahl von Informationen zuzugreifen, die für die juristische Arbeit erforderlich sind. Technisch gesehen handelt es sich bei Rechtsdatenbanken um Information Retrieval-Systeme. Diese haben das Ziel, „wenig oder gänzlich unstrukturierte Informationen in einer Weise aufzubereiten, dass sie bei einem aktuellen Informationsbedürfnis mit entsprechenden Suchstrategien und -techniken möglichst präzise und vollständig wiederaufgefunden werden können”3.

[8]

Bereits vor zehn Jahren hat der Autor4 im Rahmen einer früheren Festschrift für den Jubilar festgestellt, dass das exponentielle Anwachsen an Rechtsdatenbank-Inhalten einerseits sowie eine niedrigere Einstiegsschwelle bei Suchanfragen andererseits Anbieter:innen von Rechtsdatenbanken unter Druck gesetzt haben, ihre Such- und Retrieval-Technologie stetig weiterzuentwickeln.

[9]

Rechtsdatenbankanbieter:innen kommen diesem Auftrag nach und entwickeln ihre Plattformen technologisch laufend weiter. Sie können jedoch – auch angesichts allgemeiner Entwicklungen im Rechtswesen sowie der allgemeinen Arbeitsverdichtung – einen Eindruck nicht vollkommen verhindern, den Schweighofer schon 1999 treffsicher beschrieben hat: „Dem wesentlich verbesserten Zugang zu den Rechtsmaterialien durch heutige Rechtsinformationssysteme steht eine ungenügende Reduktion der Materialfülle entgegen.“5

[10]

An dieser Stelle wird bereits deutlich, warum die Anbieter:innen von Rechtsdatenbanken gut beraten sind, sich intensiv mit ChatGPT und den dahinter stehenden Sprachmodellen zu beschäftigen. Dass ChatGPT keine Trefferlisten retourniert, sondern vielmehr vollständige Antworttexte, welche in Konversationen auch noch weiterentwickelt werden können, wird vor dem beschriebenen Bedarf an Reduktion von Rechtsinformations-Materialfülle auf großes Interesse stoßen und Erwartungshaltungen an Rechtsdatenbanken weiter befeuern.

[11]

Was den Einsatz von ChatGPT zur Textgenerierung im Bereich der Rechtsinformation betrifft, so müssen zwei elementare Einschränkungen in der Funktionsweise von ChatGPT unbedingt erwähnt werden.

[12]

Erstens liefert ChatGPT keinerlei Referenzen für seine Aussagen. Das Zitieren und Belegen als elementares Grundprinzip des Verfassens juristischer Texte ist nicht Teil der Funktionsweise von ChatGPT – jedenfalls nicht der aktuellen Version. Zweitens tritt bei ChatGPT ein Phänomen von Sprachmodellen auf, welches als „Halluzinieren“ bezeichnet wird. Das bedeutet nichts Geringeres, als dass sie manchmal falsche Aussagen generieren. Sie lernen aus Texten, können aber nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden. Dadurch entstehen Aussagen, die logisch erscheinen, aber falsch oder erfunden sind.

[13]

Es bedarf keiner weiteren Erklärung, dass beide Einschränkungen von ChatGPT seinen Einsatz in Zusammenhang mit Rechtsinformation extrem kritisch erscheinen lassen müssen.

[14]

Trotzdem empfiehlt der Autor die intensive Beschäftigung mit ChatGPT und der Funktionsweise von Sprachmodellen für die Weiterentwicklung von Rechtsdatenbanken. Er sieht darüber hinaus auch einen breiten Anwendungsbereich im Umgang mit Rechtsinformation.

[15]

Bydlinski hält fest: „Das Grundmodell der juristischen Arbeit ist jedenfalls die methodisch geordnete Zusammenfügung der für das Sachproblem möglicherweise relevanten Teile des Rechts mit dem problematischen Teil des Sachverhalts zum Zweck der Gewinnung (Ableitung) der problemlösenden Regel.“6

[16]

Und etwas davor: „[Die Arbeit am Recht] beruht vor allem auf der unvermeidlichen Distanz zwischen konkretem Fall (oder Falltyp) einerseits und generellabstrakten Normen andererseits, die durch vernünftige und sachlich korrekte Argumentation möglichst überbrückt werden muss.“7

[17]

Dies verdeutlicht, dass die Arbeit mit Rechtsinformation typischerweise auch Argumentation mitumfasst. Zur Unterstützung von Argumentationen, sei es in Form von nicht-juristischen Hintergrundinformationen, Empfehlungen für Gliederungsstrukturen oder roten Fäden sowie stilistischen oder sprachlichen Verbesserungsvorschlägen, kann ChatGPT hervorragende Arbeit leisten. Die sachverhaltsbezogenen Abwägungen und Schlussfolgerungen müssen aber – zumindest derzeit noch – von Jurist:innen vorgenommen werden.

4.

Handlungsempfehlungen ^

[18]

Ähnlich wie zu Beginn der fundamentalen Umwälzungen im Bereich der Websuche vor 20 Jahren mag es für Expert:innen im Bereich der Rechtsinformation – gerade vor dem Hintergrund des fehlenden Zitierens sowie „Halluzinierens“ von ChatGPT – verführerisch sein, auf ChatGPT so zu reagieren, dass man zunächst gar nicht reagiert.

[19]

Die kurze erste Einordnung hat jedoch gezeigt, dass schon allein aufgrund seiner Verbreitung und erwiesenen Nützlichkeit ChatGPT in einem zunehmenden Ausmaß Anwendung im Sinne eines unterstützenden Werkzeuges im Bereich der Rechtsinformation finden wird (müssen).

[20]

Es wird an den einzelnen beteiligten Institutionen und Personen liegen, klare Richtlinien für die Anwendung von ChatGPT im Bereich der Rechtsinformation zu definieren und vor allem auch unterstützend für die Benutzer:innen tätig zu werden. Es bestehen viele Herausforderungen, aber gerade in wissensintensiven Bereichen sollte KI aus Sicht des Autors ganz besonders thematisiert und ihre Nutzung unterrichtet werden.

[21]

Sieht man Programme wie ChatGPT als Chance und nicht in erster Linie als Risiko, fällt auch eine erste Einordnung für einen sinnvollen, aber kritischen Umgang mit der Technologie leichter.

5.

Danksagung ^

[22]

Seit 20 Jahren begleitet der Jubilar die wissenschaftliche und praktische Beschäftigung des Autors mit Rechtsinformation. Unvergessen werden seine gewinnbringenden und selbstlosen „Coaching Sessions“ rund um die herausfordernde Erstellung der Dissertation des Autors zur Relevanzsortierung bei Rechtsdatenbanken sein. Wissenschaftliche Kolleg:innen so fördern zu können und das dann auch zu leben wie Friedrich Lachmayer, sollte ein Vorbild für alle wissenschaftlich Tätigen sein. Auf viele weitere Jahre!

6.

Literatur ^

Bydlinski, Franz und Peter Bydlinski. Grundzüge der juristischen Methodenlehre. 3. Auflage. facultas: Wien, 2018. ISBN: 9783825249755

Geist, Anton. „Herausforderungen für Rechtsdatenbanken im Bereich der Volltextsuche“. In: Zeichen und Zauber des Rechts: Festschrift für Friedrich Lachmayer, herausgegeben von Erich Schweighofer et al., 361–366. Bern: Editions Weblaw, 2014. ISBN: 9783906029894

Nohr, Holger. Grundlagen der automatischen Indexierung: ein Lehrbuch. 3., überarb. Auflage. Logos-Verlag: Berlin, 2005. ISBN: 3832501215

Schweighofer, Erich. Rechtsinformatik und Wissensrepräsentation: automatische Textanalyse im Völkerrecht und Europarecht. Springer: Wien [u.a.], 1999. ISBN: 3211832165, 9783704660190.

Staudegger, Elisabeth. Recht online gratis – RIS/EUR-Lex: unentgeltliche juristische Datenbanken im Internet. 3. Auflage. Verlag Österreich: Wien, 2016. ISBN: 9783704667274

  1. 1 Schweighofer 1999, 12.
  2. 2 Staudegger 2016, 8.
  3. 3 Nohr 2005, 20-21.
  4. 4 Geist 2014.
  5. 5 Schweighofer 1999, 199.
  6. 6 Bydlinski 2018, 18.
  7. 7 Ebd.