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Zur Geburt des Gesetzes aus dem Geist der Quadrille …

  • Autor/Autorin: Josef Souhrada
  • Beitragsart: Legistik
  • Rechtsgebiete: Legistik
  • Sammlung: Festschrift für Friedrich Lachmayer 2023
  • DOI: 10.38023/ac7dc623-85a6-48ad-ae4f-1070f4308d58
  • Zitiervorschlag: Josef Souhrada, Zur Geburt des Gesetzes aus dem Geist der Quadrille …, in: Jusletter IT 29. Juni 2023
Gesetzgebung und die Mitarbeit daran ist keine Angelegenheit eines nine-to-five-Jobs. Wer einmal in der Legistik tätig war, weiß um die Anforderungen, die keine zeitlichen Grenzen kennen. Und rechtsferne Gebiete bis zu Kunst und Magie einschließen. Nicht nur, weil sie in parlamentarische Abläufe eingebettet sind, sondern auch, weil sie soziale Kontakte und damit Privatleben, Vertrauen und Verständnis umfassen. Vor dem Hintergrund einiger Jahrzehnte Berufstätigkeit wird hier versucht, Zusammenhänge zwischen der Publikumsquadrille auf einem Ball, legistischen Aspekte und der Wirkung des Jubilars zu behandeln.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Ein „tanzender Stern“: Juristenball, Nietzsche, Zwölftafelgesetz, Bibel, Philosophie, Wingdings usw.
  • 2. Quadrille
  • 3. Es beginnt mit dem Versuchsprojekt Verfassungsrecht
  • 4. Legistische Richtlinien als Grundlagen
  • 5. Zivilrecht und Gesetzgebungskunde
  • 6. Und wer ist denn wirklich der Gesetzgeber?
  • 7. Schluss

1.

Ein „tanzender Stern“: Juristenball, Nietzsche, Zwölftafelgesetz, Bibel, Philosophie, Wingdings usw. ^

[1]

Friedrich Lachmayer wurde bereits in anderen Zusammenhängen als „Magier“ bezeichnet.1 Dieses Wort bezeichnet landläufig jemanden, der durch seine Handlungen Wirkungen erzielt, die nicht allgemein verständlich und nicht nach allgemein bekannten Kriterien nachvollziehbar sind. Magier handeln auf Grundlage ihres Wissens, aber auch auf Grundlage besonderer Fähigkeiten. Die vorliegende kleine Übung versucht, sich diesen Grundlagen des Wirkens Friedrich Lachmayers anhand von Erfahrungen des Verfassers zu nähern. Schwerpunkt soll die Entstehung von Gesetzen und damit jene Materie sein, mit der sich Rechtsinformatik beschäftigt. Der Hintergrund ist Folgender:

[2]

Friedrich Lachmayer und seine Familie zählen seit Jahrzehnten zu den Besuchern des Juristenballes in Wien. Dieser Ball ist ein Fixpunkt des Wiener Faschings, er ist stets am Faschingssamstag2 in der Wiener Hofburg angesetzt und war 2010 mit ein Anlass, dem Thema „Wiener Bälle“ den Rang eines Weltkulturerbes zuzuerkennen.3 Der Verfasser und seine Gattin, Fr. Dr. Eva Souhrada-Kirchmayer (die ihrerseits aus ihrer Zeit im Bundeskanzleramt eine langjährige Berufskollegin Friedrich Lachmayers ist), hatten über Jahre die Ehre, beim Juristenball einen der Tische in der Antekammer der Wiener Hofburg mit Familie Lachmayer zu teilen.

[3]

Dort wurde dann hin und wieder nicht nur reines Ballgeplauder geführt. Gemeinsam mit den Gästen an Nachbartischen und anderen Besuchern, die nicht immer nur auf einen Gruß vorbeikamen, wurden dort schon Grundlagen zukünftiger Gesetze erörtert. Hin und wieder fand etwas davon, danach freilich auch in anderen Umgebungen erörtert, seinen Weg in die Gesetzgebung unseres Landes.

[4]

Die Überschrift4 dieses Textes entstand, noch fern dem Anlass der vorliegenden Publikation, irgendwann in der Nacht des Juristenballes am 19./20. Februar 2023. Der Gedanke war ein Scherz, er wurde gefolgt von dem Satz, man müsse noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.5 Damit war ein erster philosophischer Zusammenhang mit dem vorliegenden Thema fixiert: Nietzsche gilt manchen als Begründer einer philosophischen Schule, der Lebensphilosophie. Zu einem umgreifenden Leben gehören danach nicht-rationale, kreative und dynamische Elemente,6 also die eingangs angedeuteten Eigenschaften eines Magiers.

[5]

Aber es möge dabei bleiben, hier entsteht kein philosophischer Exkurs: Gesetze entstehen heute nicht mehr aus einem Stern, die Zeiten, in denen Gebote von einem Zehnmännerkollegium, der Stimme Gottes aus dem Feuer, aus Wolken und Dunkel, unter lautem Donner7 oder anderen ehrenhaften Umständen und Urhebern diktiert und (von wem immer) auf Tafeln dokumentiert wurden, sind lange her. Wohl aber ist Gesetzgebung hin und wieder mit Chaos verknüpft – entweder als Anlass, beim Beschluss oder in den Auswirkungen. Das alles noch abgesehen davon, dass zumindest bei den Zwölftafelgesetzen Roms davon ausgegangen wird, dass deren Tafeln als solche, als Datenträger des Regelwerks, nur kurze Zeit (wenn überhaupt) existiert haben. Und nicht genau bekannt sein soll, was darauf wirklich stand.8

[6]

Für die Zehn Gebote der Bibel ist die Entwicklung seit Jahrtausenden publiziert: Die erste Fassung wurde im Zorn über die Ungläubigkeit des Volkes (der Tanz um das Goldene Kalb ist bekannt) von Moses selbst zerschmettert.9 Danach wurde, wenn man Traditionen über den Inhalt der Bundeslade folgt, der Text mit Hilfe des Urhebers neu festgehalten, er wurde in der Bundeslade aufbewahrt.10 Es existierten also sehr rasch zwei Fassungen auf verschiedenen Datenträgern und deren Inhalte sind mehrfach dokumentiert. Aber bereits in der Bibel mit unterschiedlichem Wortlaut …11

[7]

Bereits jetzt sind somit wichtige Themen gestreift. Dass es z.B.

  • für Gesetze einen Unterschied zwischen ihrem Inhalt (der ge-setz-ten Norm) und der Materie, welche diesen Inhalt dokumentiert (dem Datenträger), gibt,
  • dass Gesetze auf sehr verschiedenen Wegen entstehen können und Chaos nicht auszuschließen ist,
  • dass mit mehreren Fassungen eines Gesetzestextes gerechnet werden muss (und sei es nur, weil der ursprüngliche Datenträger vernichtet und der Text neu niedergeschrieben wurde) und
  • dass nicht immer davon ausgegangen werden kann, die Stammfassung eines Textes sei bekannt oder nur einigermaßen sicher rekonstruierbar, somit
  • dass am Ende der Entstehung eines Regelwerks nicht immer nur Ordnung steht.
[8]

Schon damit, vor Jahrtausenden, begann die Ära von Legistik und Rechtsdokumentation, zu denen der Jubilar nun in seiner Zeit einen maßgebenden Beitrag leistet. Ihn darauf einzuschränken, wäre vermessen, der vorliegende Text kann sich nur auf wenige Aspekte dieses Themas beschränken.

[9]

Ein Zusammentreffen, es wird am Beginn der 1990er-Jahre gewesen sein, blieb dem Verfasser in dauernder Erinnerung: Im Arbeitszimmer Friedrich Lachmayers im Gebäude des Bundeskanzleramtes befand sich am Schreibtisch ein Computerbildschirm in der damals noch respektablen Größe einer Kathodenstrahlröhre. Auffallend war – der Bildschirm war verdeckt von einem Blatt Papier, auf dem sich kein Text, sondern viele grafische Zeichen befanden. Dennoch handelte es sich um Schrift, es war bloß vorher die Tastatur des PC auf eine „Schriftart“ umgeschaltet worden,

.12

[10]

Es war damit kein Verschlüsselungsthema gemeint. Wie sich rasch aus dem Kommentar ergab, war es der Hinweis darauf, wie sich Texte als Bild zeigen, wie sich Regelwerke in Bildern einerseits abbilden, andererseits aus diesen zurückgewinnen lassen. Diese kleine Szene rief sich bei den Bildern der Quadrille am Juristenball in Erinnerung.

[11]

Friedrich Lachmayer hat oft in Bildern gedacht. Und argumentiert. Das ist bei Gesetzen möglich: Ein Gesetz besteht nicht nur aus der jeweils grammatikalisch richtigen Folge von Wörtern einer Sprache. Mindestens ebenso wesentlicher Bestandteil des Gesetzes ist dessen Struktur. Erst sie macht es möglich, den Gesetzestext so aufzubereiten, dass er (mit Wortwahl, Gliederungen, Überschriften, Paragrafennummern etc.) als Gesamtheit den Willen seines Urhebers ausdrückt. Das ist grafisch möglich, auch dann, wenn klare Gliederungen auf unklare (auslegungsbedürftige) Textstellen treffen. Das hat das Thema mit der Quadrille gemeinsam: Bei der Quadrille des Balles folgt auf einen formalisierten Beginn für den Außenstehenden relativ rasch angebliche Unordnung, die aber kein formalisiertes Ende hat, sondern in den weiteren Ablauf des Balles übergeht. Es soll sogar Gesetze geben, nach deren Inkrafttreten die Unordnung in einem Bereich nicht geringer wurde als sie vorher war.

2.

Quadrille ^

[12]

Damit sind wir bei der Quadrille: Es handelt sich dabei um eine Art Tanz (Quadrille français), die bei Wiener Bällen als Publikumsquadrille durchgeführt wird. Die einzelnen Schritte werden angesagt. Dazu stellen sich die teilnehmenden Tanzpaare in mehreren Reihen (jeweils in zwei Reihen einander gegenüber) auf und folgen den Ansagen des Leiters (dieser ist üblicherweise der Repräsentant einer großen Tanzschule, deren Schüler den Ablauf vorher etwas üben können). Sie folgen einem Regelwerk, das als allgemein bekannt gilt. Die Quadrille besteht aus einfachen Übungen (Wechsel zum gegenüber aufgestellten Paar, Drehungen etc.). Diese Übungen ergeben aber, vielleicht dem lockeren Rahmen des Balles, vielleicht der späten Stunde zuzuschreiben, meist sehr rasch ein buntes Durcheinander; speziell in den Reihen „weiter hinten“, wo die Ansagen des Leiters akustisch in der Musik und anderen Geräuschen untergehen. Eine lege artis vom Anfang bis zum Ende durchgeführte (Publikums-)Quadrille kommt auf einem großen Ball praktisch nie vor. Der Tanz endet meist in einem von Gelächter und Applaus der Umstehenden begleiteten wilden Gemenge aus Tanzenden, die die letzten Teile noch ausführen (es gehört teilweise eine Polka, also ein lebhafter Rundtanz dazu) und jenen, die sich in anderen Tanzfiguren bewegen. Ein formelles Ende gibt es nicht, der Tanz geht im Rahmen des Balles weiter.

Bild 1: Quadrille am Wiener Juristenball im Festsaal der Hofburg. Die Aufstellung folgt einem Regelwerk.

[13]

Es geht bei der Quadrille wie beim Gesetz darum, die grundlegenden Strukturen zu sehen – und nicht darum, aus zufälligem Nebeneinander von Sachverhalten und dem Verhalten einzelner (Tanzpaare) Muster abzuleiten, weil damit die Gefahr entstünde, wichtige Themen zu übersehen, weil sie von „Chaos im Alltag“ überlagert würden. Die Grundlage vom Alltagschaos zu unterscheiden, das eine zu erkennen und das andere beiseitezulassen, ist die Herausforderung. Die gemeinsame Basis, das tertium comparationis von Quadrille und Recht ist die Anforderung, Strukturen, Verhaltens- und Verständnisebenen zu erfassen und zu verstehen, damit umzugehen. Sich nicht von Chaos ablenken zu lassen. Und es offen zu lassen, wie es nach einem theoretischen Ende weitergeht, weil Rechtsvorschriften auch dann, wenn sie formell aufgehoben sind (ihr Bedingungszeitraum geendet hat) noch Wirkungen entfalten (Rechtsfolgenzeitraum, Wirkungszeitraum). In diesem Feld hat Friedrich Lachmayer wesentliche Gesichtspunkte beigetragen.13 Er weiß aber, was in Ruhe zu lassen ist: Keine Probleme aufzuzeigen, ist sehr oft mehr wert als viel Arbeit.

Bild 2: Im weiteren Verlauf Auflösung und Entstehung von Neuem.

3.

Es beginnt mit dem Versuchsprojekt Verfassungsrecht ^

[14]

Lachmayer war im österreichischen Bundeskanzleramt Beamter im Verfassungsdienst und bereits am Beginn der 1970er-Jahre an Arbeiten zum Versuchsprojekt Verfassungsrecht beteiligt. In diesem Projekt des Bundeskanzleramtes wurde gemeinsam mit dem Unternehmen IBM versucht, Rechtstexte in technisch verwendbarer, „maschinenlesbarer“ Form aufzuzeichnen und für Zwecke der Juristen verfügbar zu machen. Vor den heutigen technischen Standards würde man die Vorgangsweise als „Steinzeitmethoden“ beschreiben (wer weiß noch, wie eine Magnetbandschreibmaschine aussieht, und wer kann noch mit Lochkarten Eingaben- und Programmschritte bestimmen?), aber sie war grundlegend und wichtig. Die Ergebnisse wurden eingehend mit einer Reihe von Beiträgen in einem Buch dokumentiert.14 Auch die Zusammenarbeit mit der Verbindungsstelle der österreichischen Bundesländer wurde grundlegend, nahezu jedes Land hatte seine eigenen Regeln für die Erstellung seiner Rechtsvorschriften. Die legistische Struktur von Rechtsvorschriften blieb weiter Thema, Leo Reisinger, Christoph Kleisner, Roland Traunmüller, Karl Irresberger und viele andere waren die Wegbegleiter, ebenso die langjährige Leiterin des RIS, Helga Stöger. Weitere Projekte brachten Arbeiten an Texten des Strafrechts im Justizministerium. Sie brachten wesentliche Grundlagen zum Aufbau der Rechtsdokumentation des Sozialrechts, der SozDok, durch den Verfasser und Beate Glück im Hauptverband und im Sozialministerium (dort zuständig Hellmut Teschner und Erika Zinner), für die Dokumentation des Finanzrechts in der Findok (eng verbunden mit dem Namen Angela Stöger-Frank) und zur Gründung des Rechtsinformationssystems der Republik Österreich, dem RIS. Lachmayer war von ca. 1990 bis ins 21. Jahrhundert dafür mit seiner Abteilung im Verfassungsdienst zuständig.

[15]

Ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeit Friedrich Lachmayers wird mit den Worten umschrieben „… ein heiliger Severin, dem die Hunnen einfach egal waren, …“.15

[16]

Es war nicht zuletzt diese ruhige „magische“ Art Friedrich Lachmayers, Entwicklungen so zu beeinflussen, dass nicht eine Menge technisch inkompatibler Insellösungen entstand, sondern die persönlich engagierte Zusammenarbeit der einschlägigen Abteilungen zu einem gemeinsamen Ergebnis führte. Eine Frucht dieser Entwicklung war zumindest indirekt u.a. die Rechtsdatenbank der österreichischen juristischen Verlage RDB, an der in den Anfangszeiten viele Verlage gemeinsam arbeiteten. Es war die Zusammenarbeit, die den Erfolg brachte. Der Verfasser hat diese Entwicklung als Berufsanfänger ab 1979 im damaligen Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger miterlebt. Der Betrieb der SozDok, die Umstellung dieser Dokumentation von Großrechnerlösungen auf Internet-Technik und darauf beruhend die amtliche elektronische Kundmachung von Rechtsvorschriften16 sowie die Rechtsbereinigung bei den Durchführungsvorschriften der Sozialversicherung17 wurde technisch vom Hauptverband geführt18 und hatte eine gesetzliche Grundlage erhalten,19 auf deren Basis in der Rechtsabteilung des Verbandes gearbeitet wurde.

[17]

Soweit die technische Seite – die Grundlagen schafft für etwas, was in der Gesetzgebung manchmal zu kurz zu kommen scheint: Vertrauen.20 Und zwar darauf, dass ein Gesetz (einmal unabhängig von politischen Streitigkeiten) sinnvoll und zu akzeptieren ist, dass es „gilt“. Außerhalb demokratischer Abläufe wird dies meist durch die Ausübung von Macht erreicht. Ist dieses grundlegende Vertrauen in einer demokratischen Rechtsform, in der Gesetze nicht durch Gewalt durchgesetzt werden können, nicht mehr gegeben oder schlägt es gar in Misstrauen um, dann geraten die Staatsfunktionen in Gefahr, ignoriert zu werden. Das kann am Ende zu jenem „bellum omnium contra omnes“21 führen, das gerade durch das Regelwerk (die Gesetze) vermieden werden soll. Sich darauf zu verlassen, dass sich nicht Hobbes, sondern Aristoteles mit seinem „zoon politikon“22 durchsetzt, ist leider angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner beiden Weltkriege zweifelhaft geworden.

[18]

Dieses notwendige Vertrauen wird zunächst durch einen transparenten Entstehungsprozess unterstützt, weiters später durch leichte Erreichbarkeit und gute Verständlichkeit. Es sind hier die vielen kleinen Schritte, die das Ergebnis fördern. Für den transparenten Entstehungsprozess hat die Parlamentsdirektion mit dem parlamentarischen Informationssystem und das E-Recht-Team in den letzten Jahrzehnten Großes geleistet, zu nennen sind hier jedenfalls Wolfgang Engeljehringer, Günther Schefbeck, der Leiter der EDV-Abteilung Hans Hopf, Manfred Jakober und Gabriele Reichelt. Die beiden letzteren Bereiche betreffend Erreichbarkeit und Verständlichkeit gehörten zu den wichtigen Tätigkeitsbereichen Friedrich Lachmayers „auf der anderen Seite des Gesetzgebungsverfahrens“ im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes, unter dessen Ägide im Regelfall die Regierungsvorlagen für den parlamentarischen Ablauf von den Fachministerien erstellt werden.

[19]

Nach außen hin gilt die Gesetzestechnik/Legistik als weniger geschätzter Arbeitsbereich, bei dem es angeblich „nur“ darum geht, „einer Norm ein schönes Gewand zu geben“ – aber gerade diese einheitliche, nach klaren Regeln anzuwendende Form transportiert den Inhalt. Diese Form wird in Österreich in den sogenannten „Legistischen Richtlinien“ definiert.23

4.

Legistische Richtlinien als Grundlagen ^

[20]

Friedrich Lachmayer hat dazu einen Text veröffentlicht,24 der die Legistischen Richtlinien als Metanormen des Rechtes behandelt. Das scheint vorerst ein Thema für Insider zu sein, weil diese Richtlinien als solche nicht nach außen in Erscheinung treten und für die Normadressaten nicht relevant sein sollen, sie begründen keine Rechte und Pflichten. Lachmayer schildert ihre Rolle u.a. mit „… Einkleidung der schöpferischen, staatstranszendenten Kraft in das Gewand des Rechts …“.25 Dass diese Richtlinien bei der (ebenfalls Originalwortlaut) „mythischen Hochzeit“ (hier wieder ein Anklang an die eingangs erwähnte Rolle Lachmayers als „Magier“) des politischen Willens mit dem allgemeinen Bewusstsein nur eine untergeordnete Rolle spielen sollen, dürfte aber untertrieben sein: die heutige Gesetzes-Entstehungs-Technik ist bereits im System E-Recht dermaßen „elektronifiziert“, dass es ohne detaillierte Einhaltung der einschlägigen technischen Vorgaben nur mehr sehr schwierig wird, Gesetzestexte auf den Weg der Gesetzgebung zu bringen. Das ist jedoch nicht als Hemmnis zu sehen: die Einhaltung von Rechtschreibung und Grammatik der deutschen Sprache sowie die Handhabung von Schreibgeräten sind zwingende Voraussetzungen zur Gesetzesentstehung, ohne dass man sie als Einschränkung der Gesetzgebung sehen dürfte. Auf dieser Ebene der Selbstverständlichkeit und Trivialität befinden sich auch die Legistischen Richtlinien und andere Regeln der Gesetzestechnik, ohne dass sie deswegen geringgeschätzt werden dürfen. Sie gehören zu den Grundlagen geltenden Rechts.26 Dass sich nur eine geringe Zahl von Personen damit befasst, ist keine Aussage über fehlende Bedeutung, sondern begründet für diese Grundlagenarbeit eine im Vergleich zur sonstigen juristischen Alltagsarbeit in Justiz, Verwaltung und Wirtschaft erhöhte Verantwortung.27

[21]

Diese Arbeiten sind auch aus einem anderen Grund nicht trivial: Unter dem Schlagwort „Digitalisierung des Rechts“ werden u.a. Überlegungen angestellt,28 wie das Thema „automatisierungstaugliche Gesetze“ zu behandeln wäre: Vom Gesetzgebungsverfahren im E-Recht über die elektronische Kundmachung bis zur Rechtsdokumentation im RIS, SozDok, Findok29 usw. ist danach zu trachten, möglichst eindeutige Regelungen zu schaffen. Uneinheitliche Rechtsbegriffe, unnötige Ermessensbereiche, unklare technische Vorgaben für Abläufe und Dokumentdateien oder einfach fehlendes Wissen um bereits vorhandene Informationsquellen sind derzeit massive Hindernisse.

[22]

Das immer wieder, manchmal offenbar als Ausrede und Begründung für Nichtstun erkennbar, zitierte Datenschutzrecht ist jedenfalls kein solches Hindernis: Die in Art. 5 DSGVO enthaltenen Grundsätze für die Verwendung von Daten30 wären leicht einzuhalten, wenn bereits bei der Formulierung einer Regelung daran gedacht würde. Und nicht zu vergessen Art. 6 DSGVO: Nach dessen Abs. 1 lit. c dürfen Daten rechtmäßig verarbeitet werden, wenn die Verarbeitung zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, die man als Verantwortlicher hat. Art. 6 Abs. 1 lit. e DSGVO legitimiert eine Datenverarbeitung, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Nach Abs. 3 leg. cit. wird die Rechtsgrundlage für solche Verarbeitungen festgelegt durch das Unionsrecht oder das österreichische Recht. Womit wir wieder beim Gesetzgeber sind.

[23]

In diesem Zusammenhang wird von Parycek31 auf die sieben Prinzipien zur Digitaltauglichkeit von Verwaltungsgesetzen verwiesen, die 2018 in Dänemark beschlossen wurden und nach denen Gesetzentwürfe und Novellierungen auszugestalten sind:

  • einfache Verständlichkeit
  • digitale Kommunikationsmöglichkeiten sind sicherzustellen
  • automatisierte Verfahren sind zu ermöglichen
  • Datenschutz und Diskriminierungsrisiken sind von Beginn an mitzudenken
  • Kohärenz von Konzepten und Datenbeständen ist sicherzustellen
  • Sicherheit der Verarbeitungen
  • Rahmenbedingungen für den technischen Betrieb, zu dem das Vorbeugen von Fehlern gehört.
[24]

Dass nicht nur hier der Teufel im Detail sitzt und mit bloßen Worten nichts getan ist, liegt auf der Hand. Digitalisierungstauglichkeit verlangt klare und verbindliche (mit konkret rasch durchsetzbaren Sanktionen versehene) Vorgaben in sehr detaillierter Art. Das wiederum setzt Informationen über die bereits vorhandenen Arbeitsmittel voraus – daran hapert es oft. Siehe als Beispiel das Gesundheitswesen, wo anfangs rasch mit elektronischen Signaturen, bereichsspezifischen Personenkennzeichen (bPK)32 und bereits zu Beginn mit der Bürgerkartenfunktion zu arbeiten war (e-card-System).33 Jahre später blieb jedoch im Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitsakte vergleichsweise langfristig immer noch die Verwendung von Telefax zulässig.34

[25]

Das Thema kann nicht abgeschlossen werden, weil z.B. folgende Einwände entstehen: Maschinenlesbare Gesetze „unterwerfen das Recht dem Computer“, weil Computer keine Unklarheiten vertragen. Gewollte Unklarheiten wie Interpretationsspielräume, mit denen ein Gesetzgeber Entscheidungen im Detail an die Gerichte oder Behörden delegiert, wären dann eingeschränkt, wenn nicht überhaupt unmöglich. Dazu kommt die Gefahr, zu sehr am Wortlaut kleben zu bleiben und ein wichtiges anderes Auslegungsmittel, den Willen des Gesetzgebers, zu unterdrücken. Das darf nicht Ergebnis einer Digitalisierung von Recht werden, und natürlich schon gar nicht das Ergebnis des Einsatzes sogenannter künstlicher Intelligenz (bei der man nach aktuellem Stand 2023 noch nicht einmal wissen kann, woher diese „Intelligenz“ ihre Weisheiten hat, von wem also sie gesteuert/programmiert wird). Wer Computer einsetzt, muss nicht nur in der Rechtsinformatik die Frage beantworten können, von wem und unter welchem Einfluss deren Programme geschrieben wurden. Und wer die Daten auf welche Weise eingibt.

[26]

Eine weitere, in den letzten Jahren ständig größer werdende Gefahr allzu starker Berücksichtigung des Wortlautes eines Gesetzes besteht weiters darin, Übersetzungsfehlern aufzusitzen. Nicht wenige unmittelbar (oder im Wege eines Anwendungsvorranges) anzuwendende Gesetze sind als Verordnungen der EU ursprünglich in anderen Sprachen diskutiert und beschlossen worden. Das Thema ist älter als die heutigen Regeln der EU.35 Zur Feststellung, was tatsächlich mit dem Wortlaut eines von der EU oder sonst auf vergleichbarer Ebene beschlossenen Textes gemeint ist, empfiehlt es sich, andere Sprachversionen parat zu haben. Lobenswerterweise wird das bereits bei Druckausgaben von Gesetzen berücksichtigt, in denen mehrere Sprachversionen angeboten werden.36

5.

Zivilrecht und Gesetzgebungskunde ^

[27]

Das Interesse des Verfassers an Themen von Gesetzgebung und Rechtsdokumentation hatte zunächst noch nichts mit Friedrich Lachmayer zu tun, sondern hatte einen anderen Anlass: die Vorlesungen von Franz Bydlinski an der Universität Wien. Dieser hatte im Rahmen seiner Stellung als Vorstand im Institut für Zivilrecht weit über den üblichen Tellerrand von ABGB und EheG hinausgeblickt und schließlich mit seinem Band zur Juristischen Methodenlehre (Erstauflage 1982) ein Grundlagenwerk veröffentlicht, dessen Inhalte bereits während der Studienzeit des Verfassers in den späteren 1970er-Jahren seine Schatten vorauswarfen. Zu diesen Inhalten gehörten eingehende Überlegungen zur Gesetzgebung. Bydlinski hatte in Konkretisierung des Hauptprinzips der leichten Erkennbarkeit des Rechts weitere Prinzipien aufgestellt:

  • das ökonomische Prinzip, wonach Regeln knapp und wenig kasuistisch sein sollten
  • das Prinzip von Adäquanz, Verständlichkeit und Präzision des Ausdrucks, somit der Bereich der Gesetzessprache
  • das Prinzip der systematischen Ordnung des Rechtsstoffes nach einheitlichen Einteilungskriterien und
  • das Prinzip der (adäquaten) Kundmachung.37
[28]

Dass diese Prinzipien nicht immer beachtet, geschweige denn eingehalten wurden, wurde schon vor Jahrzehnten kritisiert und zeigt die langfristige Relevanz dieses Bereichs.38 Einschlägige Beispiele waren immer wieder Gegenstand der Vorlesungen an der Universität Wien. Nicht nur Franz Bydlinski, auch Fritz Schönherr39 war ein kraftvoller Vertreter besserer Gesetzessprache. Dass es diese zwei Professoren des damaligen zivilrechtlich ausgerichteten 2. Studienabschnittes waren, die sich dem Thema der Gesetzgebungskunde widmeten, mag seine Gründe gehabt haben, wirft ein gewisses Licht auf die (zumindest damalige, auch heutige?) Juristenausbildung, ist aber hier nicht zu behandeln. Dass sich Zivilisten um sprachliche Themen kümmerten, hatte jedenfalls einen Grund darin, dass wesentlicher Teil ihrer Arbeit die Ausarbeitung bzw. Beurteilung von (Gesellschafts-)Verträgen war und dort exakte Sprache vonnöten ist. Einschlägige Vorlesungen, speziell die langjährigen Legistikseminare Schönherrs, weckten das Interesse mancher Hörer, so des Verfassers dieser Zeilen.

6.

Und wer ist denn wirklich der Gesetzgeber? ^

[29]

In diesen Vorlesungen wurden Fragen gestellt, wie „Wer ist denn der Gesetzgeber?“ Immerhin sieht § 6 ABGB wesentliche Regeln zur Auslegung von Gesetzen vor, er lautet:

„Einem Gesetze darf in der Anwendung kein anderer Verstand beygelegt werden, als welcher aus der eigenthümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet.“
[30]

Für die Studenten begann das Thema mit dem Jahr 1811, mit dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch ABGB und dessen Kundmachung. Von wem ist dieses Gesetz, wer ist sein an prominenter Stelle gleich am Anfang zitierter „Gesetzgeber“? Das Gesetz verbindet die „eigenthümliche Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange“ durch das Wort und mit der klaren Absicht des Gesetzgebers, stellt daher die Bedeutung und die Absicht als gleichrangig dar. Das ist schon deswegen wichtig, weil es deutlich macht, dass ein „Kleben am Wortlaut eines Gesetzes“ in juristischen Fragen keinesfalls alleiniges Mittel der Wahl ist.40 Bei Verträgen ist man gewohnt, dass Vertragstexte nach dem Willen der Vertragspartner auszulegen sind.41 Ähnliches gilt für Gesetze (nicht zuletzt, weil Gesetzgeber nicht unfehlbar sind, sich irren oder schlecht ausdrücken können42).

[31]

Deswegen ist es unrichtig, einen Gesetzeswortlaut (oder eine Theorie reiner Rechtslehre) für sich allein als Auslöser irgendwelcher Fehlentwicklungen bis hin zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu sehen.43 Die immer wieder zu hörende Aussage, wonach der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze für Auslegung bilde, hilft ebenfalls nicht weiter, weil je nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit, Lebenserfahrung und Motivation sehr unterschiedliche Ansichten vertreten werden können, was „äußerst möglich“ sein soll.

[32]

Der Fehler, stets und überall am Gesetzeswortlaut zu kleben, ohne dessen Hintergründe vor Augen zu haben, ist weit verbreitet und führt in unklaren Fällen recht rasch zu gravierenden Fehlschlüssen. Schlicht deswegen, weil ein Gesetzgeber nicht unfehlbar ist und die Aussage „das steht so im Gesetz“ stets zu hinterfragen ist. Hin und wieder handelt es sich bei diesem Satz nämlich nicht um eine Rechtsauskunft, sondern um etwas, das als Drohung verstanden werden kann, bei der sich der Antwortende vorbehalten hat, was er akzeptiert oder nicht.

[33]

Nicht selten ist es so, dass Entscheidungen, die in irgendeiner Weise sonderbar klingen, auf eine fragwürdige Anwendung geltenden Rechts zurückgeführt werden können. Dafür kann aber die Rechtsordnung nichts.

[34]

Friedrich Lachmayers Spezialität ist es, Dinge zu verbildlichen. Er ist ein Jurist, dessen Bilder juristisch ansprechen. Seine Visualisierung ist ein Instrument des Umgangs mit Gesetzen, weil Visualisierung oft jene Grenzen überwindet, welche die Textgestaltung mit sich bringt.

[35]

Vor diesem Hintergrund bot der Arbeitsbeginn des Verfassers in der Dachorganisation der Sozialversicherung reiches Betätigungsfeld: Das Sozialversicherungsrecht war und ist44 durch seine „überwuchernde Kasuistik“,45 den Zeitdruck, unter dem viele Texte entstehen müssen, und zumindest vor Jahren durch (zumindest auf Ebene der Durchführungsregeln) einen gewissen nonchalanten Umgang mit dem Thema der Kundmachungen bekannt. Nicht völlig unberechtigt charakterisiert F. Bydlinski die Art solcher Gesetzgebung mit den Worten „primitive rechtspolitische Tendenz“ und „unzureichende Sachkenntnis“.46

[36]

Zumindest die Kundmachungsprobleme konnten durch die Schaffung der Rechtsdokumentation SozDok und die elektronische Kundmachung bzw. Wiederverlautbarung inkl. des Durchführungsrechts47 bereinigt werden, wenn es auch nicht gelang, Absurditäten, wie das mehrfache Kundmachen eines sonst gleichen Textes in verschiedenen Gesetzen anstelle von Verweisungen (Parallelgesetzgebung, Ameisennovellen),48 abzuschaffen. Eine wesentliche Unterstützung bei einschlägigen Versuchen waren die einschlägigen Publikationen von Friedrich Lachmayer und Franz Bydlinski und das Verständnis der legistischen Dienste bei der Aufsichtsbehörde im Sozialministerium mit Martin Zach, weil sie deutlich die Notwendigkeit einschlägiger Maßnahmen belegten und damit wenigstens viel Argumentationsaufwand vermeiden halfen.

[37]

Doch zurück zur Frage nach dem Gesetzgeber: Das Rechtsinformationssystem des Bundes in Österreich (RIS) gibt dazu keine Auskunft. Es nennt einen „Typ“, bei dem mit BG ein Bundesgesetz gemeint ist. Ist es tatsächlich uninteressant, zu erfahren, wer dahintersteckt?

[38]

Natürlich gibt die (von der Nationalbibliothek elektronisch erfasste) Fundstelle JGS 946/1811 aus der Justiz-Gesetzessammlung bzw. das Deckblatt der Druckausgabe49 nähere Auskunft – hinter dem Bundesgesetz lt. RIS verbirgt sich die damals regierende Majestät des Kaisers Franz II. Allen, die in Österreich Jus studiert haben, wird dies klar sein. Es ist aber, wie die Praxis zeigt, damit zu rechnen, dass Rechtsdokumentationssysteme nicht nur von JuristInnen, sondern von Menschen verwendet werden, die nur am Rande mit Rechtsthemen zu tun haben. Man mag einwenden, dass diese sich eben Rat von JuristInnen zu holen hätten, aber so einfach ist das Leben nicht. Auch Nichtjuristen haben mit Gesetzestexten zu tun. Wenn schon, wie oben, die leichte Erkennbarkeit des Rechts ein Hauptprinzip sein soll, dann sollte das doch ebenso für die Quellen gelten, nach denen ein Gesetz auszulegen wäre?

[39]

Ist es tatsächlich einige Jahrzehnte nach Beginn elektronischer Rechtsdokumentation immer noch nicht notwendig, im Zusammenhang mit Rechtstexten (Gesetzen, Verordnungen, Kundmachungen usw.) Information darüber anzubieten, wem diese Texte zuzurechnen sind, wer also „Urheber“ eines Rechtstextes bzw. „Gesetzgeber“ ist? Die mehrfachen Rechtsüberleitungen und deren Auswirkungen vom Kaiser zur ersten Republik Österreich über das Deutsche Reich zur zweiten aktuellen Republik Österreich bzw. deren Organisationsformen wären ebenfalls ein Thema, sich der Frage „wer ist der Gesetzgeber“ intensiver zu widmen. Und damit jenen, die sich nicht laufend mit Auslegungsthemen zu befassen haben, zumindest Anhaltspunkte darüber anzubieten, wem diese Texte bei ihrer Entstehung zuzurechnen waren.

[40]

Einen Ansatz liefert die bereits oben erwähnte Dokumentation des österreichischen Sozialversicherungsrechts SozDok, www.sozdok.at. Dort wird als Urheber bei Bundesgesetzen der „Bund“ angegeben, was bei Bedarf weiter ausbaufähig wäre. Wer dieser „Bund“ in seiner Rolle als Gesetzgeber ist, wird gerade jetzt50 im Gesundheitswesen dann fragwürdig, wenn es darum geht, Durchführungsgesetze zu Vereinbarungen nach Art. 15a B-VG zu beurteilen. Solche Gesetze führen Verträge aus, die zwischen dem Bund und den Ländern über Angelegenheiten ihres jeweiligen Wirkungsbereiches abgeschlossen werden. Wer ist der Gesetzgeber dieser Regelungen? Gehören dazu nicht die Vertragspartner der jeweiligen Vereinbarungen, also eine Personenmehrheit?

[41]

Und wenn nicht, welche Rolle spielen die sonst am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten (Abgeordnete, Interessenvertretungen etc.)? All diesen einen Teil der Rolle „Gesetzgeber“ zuzurechnen, geht zu weit, aber: Gedanken solcher Stellen fließen in die Erstellung von Gesetzestexten ein, es ist daher wichtig, diese Gedanken im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens nachvollziehbar zu machen. Es kann freilich nicht dazu führen, dieser Personengruppe irgendeine rechtliche Stellung einzuräumen.51 Dazu leistet das parlamentarische Informationssystem bereits jetzt einen wesentlichen und äußerst lobenswerten Beitrag durch Publikation der Gesetzesmaterialien und Entwürfe im System des E-Rechts. Eine weitere Verknüpfung mit der Darstellung des Gesetzestextes im Rechtsinformationssystem (anstelle der bloßen Angabe eines „Typs“) wäre als nächster Schritt zu begrüßen. Zur Frage, ob und welche Personenmehrheiten, Verbände, Interessengruppen usw. am Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden sollten, hat man sich in Deutschland bereits beschäftigt, dort wurde 1975 eine verstärkte Institutionalisierung der Verbandsbeteiligung diskutiert,52 was auch für Österreich ein Thema beim Ausbau bzw. einer Neuorganisation des Begutachtungsverfahrens von Gesetzen werden könnte.

7.

Schluss ^

[42]

Und wenn schon aus dem Bücherkasten des Verfassers einiges zitiert wird, darf auf eines der berühmtesten Zitate zum Thema nicht vergessen werden:

Es erben sich Gesetz‘ und Rechte
wie eine ew‘ge Krankheit fort;
sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage:
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
von dem ist leider nie die Frage.53

[43]

Dass sich die Gesetzestechnik weiterentwickelt, ist nicht nur Arbeit, sondern benötigt zusätzlich eine gewisse Art der Friedrich Lachmayer zugeschriebenen „Magie“ – dadurch wird es in vielen Zusammenhängen zumindest leichter, sich dem Kern der Sache, den gewollten Ergebnissen diverser Regelwerke, zu nähern, ohne sich durch aus der Reihe tanzende Teilnehmer und deren manchmal recht abstruse Ideen allzu sehr verwirren zu lassen. Womit sich der Kreis schließt und dieser Text sich wieder der anfangs erwähnten Quadrille genähert hätte.

[44]

Ein nennenswerter Beitrag dazu, dass die Gesetzgebung und ihre Verfahren nicht immer noch auf dem Stand der Entstehung der soeben zit. Textpassage aus dem „Faust“, also um das Jahr 1800 stehen, stammt von dem, dem dieser Beitrag gewidmet ist: Friedrich Lachmayer.

  1. 1 Z.B. Erich Schweighofer, Vorwort und Würdigung, in: Zeichen und Zauber des Rechts: Festschrift für Friedrich Lachmayer, Bern 2014, VII.
  2. 2 In Deutschland auch als Nelkensamstag, Schmalziger Samstag bekannt.
  3. 3 Wobei die Streichung aus der einschlägigen Liste 2012 in keiner Weise am Juristenball, seinen Veranstaltern oder seinen Besuchern lag, sondern ganz andere Gründe hatte.
  4. 4 Die Ähnlichkeit mit dem 1872 herausgegebenen Werk des damals 27-jährigen Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ist Zufall, einen konkreten Anlass gab es nicht.
  5. 5 Auch von Nietzsche, aus: „Also sprach Zarathustra“ (wo Z. in der Vorrede, Punkt 5, zum Volk über den letzten Menschen spricht).
  6. 6 Meint zumindest Wikipedia in den Artikeln „Friedrich Nietzsche“ und „Lebensphilosophie“, abgerufen am 21. April 2023.
  7. 7 5. Buch Mose (Deuteronomium, Dtn 5,22).
  8. 8 Marie Theres Fögen am Beispiel der Zwölftafelgesetze, IX 1: PRIVILEGIA NE INROGANTO, wo sie Belege dafür anführt, dass dieser Satz von Cicero in dessen Rede Pro domo sua „schlicht erfunden“ worden sein könnte und somit nicht zum Inhalt dieses Gesetzeswerkes gehört: Das Lied vom Gesetz (erweiterte Fassung eines Vortrags am 14. März 2006). In der Reihe: THEMEN – Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Band 87, München 2007, 51-73, hier: 61.
  9. 9 2. Buch Mose (Exodus, Ex 32,19).
  10. 10 2. Buch Mose (Exodus, Ex 25, 21).
  11. 11 2. Buch Mose (Exodus, Ex 20,2–17) und 5. Buch Mose (Deuteronomium, Dtn 5,6–21).
  12. 12 Es wird eine Variante der damaligen Wingdings-Schriftfamilie gewesen sein, die hier verwendeten Zeichen sollen nur die Situation zeigen. Der dahinterliegende Text lautet: „… sodass zwar durch Zurückschalten der ursprüngliche Text leicht erkennbar wurde, auf den ersten Blick jedoch nur unverständliche Grafik erschien.“
  13. 13 Eine Frucht dieser Arbeiten war die Publikation Friedrich Lachmayers mit Leo Reisinger: Legistische Analyse der Struktur von Gesetzen. Wien 1976 (auf Grundlage eines Forschungsauftrages von IBM zu diesem Thema).
  14. 14 Friedrich Lang, Friedrich Bock, Wiener Beiträge zur elektronischen Erschließung der Information im Recht, Wien 1973, Verleger IBM Österreich.
  15. 15 Thomas Giesen (im Rahmen eines Seminars zu Datenschutzthemen in Riga), in: „Datenschutz leicht gemacht“, FS Lachmayer, 548.
  16. 16 Josef Souhrada, www.avsv.at: Amtliche Verlautbarungen der Sozialversicherung im Internet. Die Sozialversicherung begann mit elektronischer verbindlicher Kundmachung (und Auflassung der Kundmachungen auf Papier 2002, siehe SozSi 2002, 6-18), der Bund folgte mit dem KundmachungsreformG 2004, BGBl. I Nr. 100/2003.
  17. 17 § 593 Abs. 3 ASVG.
  18. 18 Zur Entwicklung und den einschlägigen Publikationen siehe in der Fachzeitschrift Soziale Sicherheit – SozSi 2012, 510-515.
  19. 19 § 31 Abs. 4 Z 4 und Abs. 10 (früher: Abs. 8) ASVG in diversen Fassungen bis Ende 2019, beginnend mit der 32. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 704/1976.
  20. 20 Tiefergehend dazu Claudio Franzius, Vertrauen in der Gesetzgebung, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Gesetzgebung als wissenschaftliche Herausforderung, Gedächtnisschrift für Thilo Brandner, Baden-Baden 2011, 123-135.
  21. 21 Lat., jeder gegen jeden: Thomas Hobbes, Leviathan.
  22. 22 Altgriech., ζῷον πολιτικόν, ein Mensch als soziales und politisches Lebewesen.
  23. 23 Zugänglich auf der Homepage des Bundeskanzleramtes: Verfassungsdienst, Legistik, E-Recht und Legistische Richtlinien.
  24. 24 Friedrich Lachmayer, Legistische Richtlinien als Metanormen des Rechtes, in: Günther Winkler, Bernd Schilcher (Gesamtred.), Gesetzgebung: Kritische Überlegungen zur Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik, in der Reihe: Forschungen aus Staat und Recht, Band 50, Wien-New York 1981, 213-222.
  25. 25 Lachmayer, Metanormen, 214.
  26. 26 Dazu siehe für die Jahre, in denen die hier behandelte Entwicklung ihren Lauf nahm: Johann Mokre, Ota Weinberger (Gesamtred.), Rechtsphilosophie und Gesetzgebung: Überlegungen zu den Grundlagen der modernen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung, in der Reihe: Forschungen aus Staat und Recht, Band 36, Wien-New York 1976.
  27. 27 Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien-New York 1991, 619.
  28. 28 Michael Mayrhofer, Peter Parycek, Digitalisierung des Rechts: Herausforderungen und Voraussetzungen, Gutachten für den 21. Österr. Juristentag, Band IV/1, Wien 2022.
  29. 29 Finanzdokumentation: die umfassende, aktuelle und kostenfreie Informationsquelle für Rechtsfragen zu Steuern und Zoll. Sie enthält Auslegungsbehelfe des Finanzministeriums, des Bundesfinanzgerichtes und dessen Vorläufers, des Unabhängigen Finanzsenats (UFS), zum Steuer- und Zollrecht.
  30. 30 Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz, Zweckbindung, Datenminimierung, Richtigkeit, Integrität und Vertraulichkeit, Speicherbegrenzung, Rechenschaftspflicht.
  31. 31 Peter Parycek, Automatisierungstaugliche Gesetze, in: Juristentagsgutachten 2022, 123.
  32. 32 Worum es sich dabei handelt, siehe die E-Government-Bereichsabgrenzungsverordnung - E-Gov-BerAbgrV, BGBl. II Nr. 289/2004 idF BGBl. II Nr. 213/2013 auf Grundlage der §§ 9, 10 und 13 E-GovG.
  33. 33 § 30c Abs. 1 Z 1 ASVG, § 460d Abs. 2 ASVG. Ausstattung der e-card als Trägerin der Bürgerkartenfunktion des E-Government, § 31a Abs. 2 ASVG.
  34. 34 § 27 Abs. 12 GesundheitstelematikG, wenn auch nur als komplizierte Übergangslösung. Für das Meldewesen der Sozialversicherung steht aber Telefax heute noch ausdrücklich im Gesetz, anstatt die technischen Möglichkeiten offenzulassen, solange sie nur sichere Datenübermittlungen gewährleisten: § 41 Abs. 5 ASVG.
  35. 35 Am bekanntesten ist der Unterschied in Art. 6 Abs. 3 EMRK zwischen mindestens (englischer Text) und insbesondere (französischer Text).
  36. 36 So zur DSGVO im KODEX Datenschutz aus dem Linde-Verlag.
  37. 37 F. Bydlinski, Methodenlehre, 625-626.
  38. 38 Vgl. statt vieler nur Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg 1969.
  39. 39 Fritz Schönherr, Sprache und Recht: Aufsätze und Vorträge, Wien 1985; Theo Öhlinger, Recht und Sprache: Fritz Schönherr-Gedächtnissymposium 1985, Wien 1986.
  40. 40 Siehe Georg Lienbacher, Hat der Wortlaut wirklich Vorrang? Zeitschrift für Verwaltung ZfV 2015/29, 194-201 (Festheft zum 80. Geburtstag von Heinz Peter Rill).
  41. 41 Vgl. nur die Erwähnung der „Absicht“ in § 871 Abs. 1 ABGB und das Thema „Konsensualvertrag“ generell.
  42. 42 Dazu auch den Beitrag des Verfassers: Nicht alles was gilt, ist auch so kundgemacht, in Beate Glück, Konsolidierung von Rechtsvorschriften: Über den buchstäblichen und den lesbaren Text von Gesetzen, Wien 2015, 148. Auf die nicht immer klaren Grenzen zwischen Interpretation, ergänzender Auslegung und Rechtsfortbildung ist hier nicht einzugehen.
  43. 43 Zur Anwendung im totalitären Regime vgl. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 92, FN 205 m.w.H. Die Auffassung, eine positivistische Auffassung des „Gesetzes“ habe dem Regime des III. Deutschen Reiches den Weg geebnet, ist 2023 noch nicht ausgestorben. Es ist aber nie der Gesetzeswortlaut für sich allein, der Übles anrichtet, sondern immer noch dessen (gewollt oder durch Ignoranz falsch verstandene) Anwendung. Dass es ein überlegter Gesetzgeber erst gar nicht so weit kommen lassen dürfte, dass seine Gesetze falsch verstanden werden, ist ein anderes Thema. Eine gewisse Lockerung der Auffassungen ist nun durch die Einrichtung des Anwendungsvorranges europäischer Normen vor (etwaig, angeblich) entgegenstehendem innerstaatlichen Recht möglich geworden. Ebenso ist der österreichische Verfassungsgerichtshof zu würdigen, wenn er Verfassungsgesetze als verfassungswidrig aufhebt bzw. ignoriert (VfSlg. 12310 betr. Taxikonzessionen und VfSlg. 16.327 betr. Vergaberecht).
  44. 44 Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz hatte bei Redaktionsschluss die Zahl von 384 Novellen erreicht. Die Novellenlisten und die Zitate der Fundstellen samt Materialien finden sich in der SozDok am Schluss der Überschriftendarstellung des ASVG, Übersicht - ASVG und weitere SV-Gesetze.
  45. 45 Theodor Tomandl, Rechtsstaat Österreich: Illusion oder Realität?, Wien 1997, 82.
  46. 46 F. Bydlinski, Methodenlehre, 627.
  47. 47 Siehe die Wiederverlautbarungskundmachungen für die Rechtsakte des damaligen Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger avsv im RIS 193/2005 und 46/2006.
  48. 48 Im BGBl. erscheint dann der gleiche Text unter der Überschrift verschiedener Gesetze (z. B. § 446 ASVG, § 218 GSVG, § 206 BSVG, § 152 B-KUVG und § 78 NotarVG in BGBl. I Nr. 162/2015), vgl. dazu Beate Glück, Josef Souhrada, Martin Zach, Mehr Effizienz durch weniger Parallelgesetzgebung in den Sozialversicherungsgesetzen, SozSi 2017, 464-472. Bei kleineren Novellen wird das noch deutlicher: BGBl. I Nr. 11/2023. Eine konsequente Verfolgung legistischer Sparsamkeit könnte den Text der Sozialversicherungsgesetze wohl auf die Hälfte bis ein Drittel verringern, ohne dass irgendein Rechtsanspruch angetastet würde (465). Vgl. den Beitrag zur Gesetzestechnik im Sozialrecht in der FS Lachmayer 2014, 286 ff.
  49. 49 https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=jgs&datum=1012&page=1&size=45.
  50. 50 Der Verfassungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis über die Gesundheits-Zielsteuerung vom 30. 6. 2022, G 334/2021 u.a, V 265/2021 (G 334-341/2021-29, V 265/2021-29) eingehend damit auseinandergesetzt, konnte die hier behandelte Frage nach dem „Gesetzgeber“ aber beiseitelassen.
  51. 51 Zum juristischen Personenbegriff vgl. Gerhard Luf, Rechtsethische Probleme des Personenbegriffs, in: Christian Kanzian, Josef Quitterer, Edmund Runggaldier (Hrsg.), Personen. Ein interdisziplinärer Dialog, Akten des 25. Internationalen Wittgenstein-Symposiums 2002 in Kirchberg am Wechsel, Wien 2003.
  52. 52 Josef Heinrich Schröder, Gesetzgebung und Verbände: Ein Beitrag zur Institutionalisierung der Verbandsbeteiligung an der Gesetzgebung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 58, Berlin 1976.
  53. 53 Johann Wolfgang Goethe, Faust 1, Studierzimmer (Mephistopheles zum Schüler).