Liebe Leserinnen und Leser
Nach einer Erhebung des Bundesamts für Statistik gehörten im Jahr 2012 rund 78.6% der schweizerischen Wohnsitzbevölkerung mit einem Lebensalter ab 15 Jahren einer Religionsgemeinschaft an, 21.4% werden als «konfessionslos» geführt. Zwar hat sich der Anteil der Konfessionslosen seit dem Jahr 2000 um 10.2% vergrössert. Das ändert aber nichts an dem Befund, dass Religionen für die ganz überwiegende Mehrheit der schweizerischen Wohnsitzbevölkerung offensichtlich einen Teil ihrer Lebenswelt ausmachen. Sicherlich nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die wachsende Bedeutung religionsbezogener Themen in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre. Das Minarettverbot, die Kirchensteuerpflicht juristischer Personen, aber auch die Kooperation der Kirchen mit dem Staat wurden und werden kontrovers diskutiert. Diese Schwerpunkt-Ausgabe von Jusletter greift einige Themen dieser Diskussion auf.
Daniel Kosch skizziert in seinem Beitrag Zukunftsperspektiven für das Religionsrecht in der Schweiz und betont mit dem Untertitel seines Aufsatzes, Vor-juristische Überlegungen eines Theologen, die Grundsätzlichkeit seiner Betrachtungen. Dabei geht es freilich nicht um eine Stellungnahme aus römisch-katholischer Sicht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist vielmehr die Wahrnehmung einer Umbruchsituation der schweizerischen Religionslandschaft und ihrer rechtlichen Rahmenstrukturen. Zur Bewältigung dieser Dynamiken plädiert Daniel Kosch dafür, die Religionsfreiheit zum Leitprinzip einer Religionsrechtspolitik zu machen, die bei der hoheitlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften deren Beitrag zur sozialen Kohärenz berücksichtigt und auf dieser Grundlage gerecht ausgestaltete Zugangsmöglichkeiten zur Unterstützung durch den Staat gewährt.
In ähnliche Richtungen deuten auch die Überlegungen von Adrian Loretan in seinem Beitrag über Pluralismus – eine Herausforderung für den Rechtsstaat und die Religionsgemeinschaften. Denn, so wird hier betont, die wachsende Vielfalt der Weltdeutungen und die zunehmende Pluralisierung sozialer Ordnung bedeuten für Staat und Religionsgemeinschaften neue Herausforderungen. Das gilt aus der Sicht von Adrian Loretan nicht nur in der Beziehung zwischen staatlicher Hoheitsmacht und Religion, sondern zeige sich auch und gerade im Binnenbereich von Religionsgemeinschaften. Auch dort nämlich würden in der Diskussion etwa über kommunitaristische oder feministische Sozialentwürfe Themen debattiert, die die Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und ihren Mitgliedern vor Probleme stellen würden. Gerade in solchen Konstellationen müsse sich das Recht als Garant einer Toleranz bewähren, für die vor allem die Grundrechte Gewähr bieten können.
Der Beitrag von Martin Grichting zur Reformbedürftigkeit des Schweizer Staatskirchenrechts könnte ein Stück weit als Konkretisierung dieses Postulates gelesen werden. Denn, so argumentiert Martin Grichting, im Zeichen des fortschreitenden religiösen Pluralismus ist das überkommene Gefüge der staatskirchenrechtlichen Anerkennung insbesondere der römisch-katholischen Kirche mehr und mehr zur Quelle von Kontroversen geworden. Wolle aber der Staat die Religionsfreiheit wirklich ernst nehmen und als normativ verbindliche Verpflichtung zur Toleranz respektieren, dann müsse auch das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften – insbesondere der römisch-katholischen Kirche – ernst genommen werden, wenn es um die Gestaltungen der Beziehungen zwischen Kirche und Staat gehe. Aus der Sicht der römisch-katholischen Ekklesiologie und des durch sie geprägten kanonischen Rechts könne das nur den Fortfall des Anerkennungsmodells bedeuten, das die römisch-katholische Kirche in Strukturen zwinge, die mit ihrer ekklesiologischen Identität nicht kompatibel seien.
Positiver sieht dagegen Christoph Winzeler das Instrument der Anerkennung. In seinem Beitrag über Elemente und Perspektiven des schweizerischen Religionsverfassungsrechts plädiert er allerdings sehr nachdrücklich dafür, sich im Umgang mit der Anerkennung von ihren historischen Traditionen zu befreien und deswegen die Verbindlichkeit der Religionsfreiheit zu respektieren. Das bedeute insbesondere, allen anerkannten Grundrechtsgemeinschaften unabhängig von ihrer Zuordnung zum öffentlichen Recht oder zum Privatrecht die Berufung auf Art. 15 BV zuzugestehen. Hoheitlich verfasste Organisationen kirchlichen Wirkens wie die kantonalen Landeskirchen müssten im Blick auf die Religionsfreiheit im Zweifel aber auch ihr Handeln von ihrem Zweck her begrenzen. Als Hilfsorgane der römisch-katholischen Weltkirche könnte deswegen die kantonale Landeskirche nicht selbst als Kirche handeln. Eine in dieser Weise gehandhabte Anerkennung, die auch offen ist gegenüber neuen Typenbildungen etwa in Form der Anerkennung von Vereinen als Organisationsform von Religionsgemeinschaften, könne, so argumentiert Christoph Winzeler, ein geeignetes Instrument sein, um auch Religionen jenseits des jüdisch-christlichen Spektrums angemessen und gerecht zu begegnen.
In erster Linie auf die Situation der anerkannten christlichen Religionsgemeinschaften bezogen ist der Beitrag von Andreas Thier über Gegenwartsprobleme des schweizerischen Kirchen- und Staatskirchenrechts. Hier nämlich geht es darum, wie es im Untertitel heisst, Beobachtungen und Überlegungen zum Rechtsschutz in Kirchensachen und zur Verfassungsrevision des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes zu formulieren. In einem ersten Schritt rückt dabei die Koordination zwischen der staatlichen Justizhoheit und dem Selbstbestimmungsrecht insbesondere der römisch-katholischen Kirche ins Blickfeld. Mit dem Entwurf für eine «Verfassung der Evangelischen Kirche in der Schweiz» wird im zweiten Teil ein Vorhaben angesprochen, das derzeit Gegenstand intensiver Diskussionen in den schweizerischen evangelisch-reformierten Kirchen ist. Im Beitrag werden einige kirchenrechtliche und vereinsrechtliche Fragen aufgeworfen, die sich aus der derzeitigen Gestaltung des Entwurfs ergeben.
Es ist vielleicht deutlich geworden, dass die Beiträge dieser Schwerpunkt-Ausgabe ein breites Spektrum von Themen und Positionen zum Religions-, Kirchen- und Staatskirchenrecht bieten. Nicht zuletzt hierin bilden sie die Vielfalt von Thesen und auch Problemfeldern ab, die kennzeichnend ist für die aktuellen Debatten über Religion und Recht. Die Beiträge dieser Schwerpunkt-Ausgabe verstehen sich als Anregungen zu diesen Diskussionen. Vielleicht ist es dabei geglückt, das eine oder andere Argument stärker zu machen oder auch neue Begründungsansätze einzuführen. Vor allem bleibt zu hoffen, dass deutlich wird, welche Bedeutung Recht und Rechtswissen gerade im Beziehungsgeflecht von Religion und Staatlichkeit zukommt. Sollte dies gelungen sein, dann hätte diese Schwerpunkt-Ausgabe ihren wichtigsten Zweck erreicht.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre!
Prof. Dr. Andreas Thier M.A.
Universität Zürich, Redaktor Jusletter
Kirchenrecht, Staatskirchenrecht