1.
Einleitung ^
Unternehmen haben sich an immer mehr Pflichten des Verwaltungsrechts zu halten. Zur Durchsetzung dieser Pflichten gibt es Verwaltungssanktionen, die von Verwaltungsbehörden ausgesprochen werden können. Im Zentrum von Diskussionen stehen aufgrund ihrer hohen Geldbeträge die pekuniären Sanktionen im Kartellrecht (KG).1 Gemäss Statistiken der Wettbewerbskommission (WEKO) wurden seit der Einführung der verschärften Sanktionsmöglichkeiten im Jahre 2004 insgesamt gegen rund 130 Unternehmen Verfahren geführt und Sanktionen in der Höhe von ca. einer Milliarde CHF gesprochen.2 Der vorliegende Beitrag bietet einen ausgewählten Einblick zum Verhältnis zwischen diesen Verwaltungssanktionen und den strafprozessualen Verfahrensgarantien. Anstoss gab das 29. Forum für Rechtsetzung3 vom Februar 2017, das vorwiegend diesem Thema gewidmet war. Die spannenden Beiträge von Maya Beeler-Sigron (Bundesamt für Justiz, Fachbereich Internationaler Menschenrechtsschutz), Marc Frédéric Schäfer (Wettbewerbskommission, Dienst Infrastruktur) und Klaus Schneider (Bundesamt für Justiz, Fachbereich Straf- und Strafprozessrecht) sowie die anschliessende Diskussion zeigten, dass das Verhältnis zwischen Strafrecht und pekuniären Verwaltungssanktionen grundsätzliche Fragen aufwirft, insbesondere dass die Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten im ständigen Spannungsverhältnis zu den strafrechtlichen Verfahrensgarantien steht.4
2.
Verwaltungssanktionen im Kartellrecht ^
3.
Exkurs: Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 StGB ^
Die Unternehmensstrafbarkeit ist keine Kausal- oder Gefährdungshaftung,5 sondern verlangt ein spezifisches, dem Unternehmen zugerechnetes Verschulden der Organe, das in einer mangelhaften Organisation besteht. Mit dem Organisationsverschulden soll gemäss den Ausführungen in der Botschaft ein «zeitgemäss umgedeutetes Schuldprinzip» gewahrt werden können (BBl 1999 II 1979, Ziff. 217.3). Dieses Organisationsverschulden tritt zur tatbestandsmässig und rechtswidrig verübten Anlasstat hinzu. Sofern die Anlasstat nicht in den Katalog von Abs. 2 fällt, ist nach Abs. 1 das Unternehmen nur subsidiär strafbar, dafür aber allgemein bei Verbrechen und Vergehen. Das Unternehmen wird diesfalls nur dann bestraft, wenn keine natürliche Person als Täterschaft ermittelt werden kann. In BGE 142 IV 333, 337, führt das Bundesgericht aus, dass bei beiden Varianten von Art. 102 StGB eine Anlasstat inkl. der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale nachgewiesen werden muss. Im Entscheid offen gelassen werden konnte die Frage, wie die Anlasstat – und hier insbesondere die subjektiven Elemente – bewiesen werden können, wenn die Täterschaft nicht auffindbar ist (siehe dazu Vasella 2018, 55, und die dogmatischen Ausführungen zur «generellen Anlasstäterschaft» und zur «additiv verwirklichten Anlasstat» in Niggli/Gfeller 2013, Art. 102 N 57 ff.). Art. 102 StGB stellt die rechtsanwendenden Behörden und sämtliche am Sachverhalt beteiligten Personen auch diesbezüglich vor praktische Schwierigkeiten.
4.
Zur Anwendung der Verfahrensgarantien auf pekuniäre Verwaltungssanktionen ^
Verwaltungssanktionen können die Betroffenen in ihren Rechten stark berühren. Die allgemeinen Verfahrensgarantien, wie das Verhältnismässigkeitsprinzip, das Legalitätsprinzip, das Rechtsgleichheitsgebot, das Willkürverbot, das Diskriminierungsverbot, die Verfahrensgarantien nach Bundesverfassung (BV) und die einschlägigen Verfahrensrechte der EMRK gelten für sämtliche Arten von Verwaltungssanktionen (weiterführend Locher 2013, 236 ff. m.w.H.). Der vorliegende Aufsatz befasst sich wie erwähnt mit den anwendbaren strafprozessualen Garantien. Im Unterschied zu den allgemeinen Verfahrensgarantien reichen die Garantien im Strafverfahren weiter. Diese konstituieren einen wichtigen Rahmen, innerhalb dessen sich Verwaltungssanktionen mit Strafcharakter bewegen müssen.
Art. 6 EMRK ist die Vorschrift mit der grössten praktischen Bedeutung (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 1). Zudem sind auch Art. 7 EMRK und die Art. 2 und 4 des Zusatzprotokolls (ZP) Nr. 7 zur EMRK relevant.
4.1.
Art. 6 EMRK und die Engel-Kriterien ^
Die Rechte gemäss Art. 6 EMRK gelten für sämtliche juristischen und natürlichen Personen in gerichtlichen Verfahren, in Strafsachen einschliesslich der Voruntersuchung. Besondere Statusverhältnisse, etwa die öffentlich-rechtliche Anstellung, können jedoch die Anwendbarkeit relativieren (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 4 ff. m.w.H.). Der EGMR legt die Begriffe der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen sowie der strafrechtlichen Anklage autonom aus (Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 5).
- Die Zuordnung der Tat nach nationalem Recht: Falls diese nach nationalem Recht in den Bereich des Strafrechts fällt, ist Art. 6 EMRK grundsätzlich anwendbar (Engel gegen Niederlande, a.a.O., Ziff. 81).
- Die Natur des Vergehens: Eine strafrechtliche Natur ist anzunehmen, wenn die Vorschrift abschreckende und strafende Zwecke verfolgt und sich nicht an einen besonderen Personenkreis richtet, sondern für jedermann, d.h. generell-abstrakt, verpflichtend ist (vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 25; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27). Weitere Indikatoren hierfür sind die Schuld als Urteilsvoraussetzung sowie die Verfahrensherrschaft einer öffentlichen Instanz auf gesetzlicher Grundlage (vgl. Meyer, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 25).
- Die Art und die Schwere der Sanktion: Massgeblich ist die gesetzliche Strafandrohung (Höchststrafe). Zudem spricht die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in eine Freiheitsstrafe für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK (EGMR-Urteil, Weber gegen Schweiz vom 22. Mai 1990, Nr. 11034/84, Serie A177, Ziff. 34; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27).
4.2.
Weitere strafrechtliche Verfahrensgarantien der EMRK ^
5.
Ausgewählte Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts zum Kartellrecht ^
6.
Konsequenzen ^
Die begriffliche Kategorisierung gemäss Schweizer Kartellrecht und in anderen Erlassen (siehe Fussnote 1) in Verwaltungssanktionen und Strafsanktionen ist nicht ausschliessliches Kriterium für die Anwendung der strafprozessualen Verfahrensgarantien. Aufgrund der Qualifikation der kartellrechtlichen Sanktionen als strafrechtlich bzw. strafrechtsähnlich sind strafprozessualen und materiellen Verfahrensgarantien gemäss EMRK resp. BV zu beachten. Dazu gehört auch das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, wonach die Betroffenen ihr Verhalten nach dem Gesetz richten und die Folgen ihres Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können müssen (BGE 119 IV 242 E. 1c S. 244; BGE 125 IV 35 E. 8 S. 48; kritisch zum Bestimmtheitsgebot im Kartellrecht statt vieler Niggli/Riedo 2013, Rz. 30 ff. m.w.H.). Eine Relativierung ist wie erwähnt möglich, da es sich nicht um Kernstrafrecht handelt (vgl. EGMR Urteil Jussila gegen Finnland, a.a.O., Ziff. 43; Niggli/Riedo 2013, Rz. 112 ff. m.w.H.). Um den Unternehmen im Kartellrecht Rechtssicherheit zu gewährleisten, haben sie die Möglichkeit, eine möglicherweise unzulässige Verhaltensweise vor ihrem Vollzug der WEKO zu melden (BBl 2002 2022, 2023).
7.
Fazit ^
Die begriffliche Kategorisierung ist im Sinne der Rechtssicherheit sinnvoll. Die Geltung der strafprozessualen Verfahrensgarantien bemisst sich jedoch nach den vom EGMR entwickelten Kriterien. Auch wenn Sanktionen nach Schweizer Recht als Verwaltungsrecht qualifiziert werden, können sie Strafrecht im Sinne der EMRK darstellen, womit strafrechtliche Garantien eingehalten werden müssen. Sofern die Sanktionen nicht in den Bereich des Kernstrafrechts fallen, sondern etwa dem Kartellrecht zugeordnet werden, liegt nach der EGMR-Rechtsprechung jedoch ein Spielraum vor, der eine gewisse Relativierung bei den Verfahrensgarantien erlaubt. Im Kartellrecht ist es beispielsweise zulässig, dass die Sanktionen zunächst durch eine Verwaltungsbehörde (mit Kompetenzbündelung von Untersuchung, Anklageentscheidung und Sanktionierung) verhängt und erst danach durch ein Gericht mit voller Kognition überprüft werden (EGMR-Urteil, Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien, a.a.O., Nr. 43509/08, Ziff. 62).
Janina Aufrichtig, BJ
8.
Literaturverzeichnis ^
- Karpenstein, Ulrich/Mayer, Franz (Hrsg.), 2015, EMRK Kommentar, 2. Auflage, München (zit. Autor, EMRK Kommentar 2015, Art.).
- Locher, Alexander, 2013, Verwaltungsrechtliche Sanktionen – Rechtliche Ausgestaltung, Abgrenzung und Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien, Zürich/Basel/Genf.
- Meyer-Ladewig, Jens/Nettesheim, Martin/von Raumer, Stefan (Hrsg.), 2017, EMRK Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Auflage, Basel (zit. Autor, EMRK Handkommentar 2017, Art.).
- Niggli, Marcel Alexander/Gfeller, Diego R., 2013, Kommentar zu Art. 102 StGB, in: Niggli, Marcel Alexander/Wiprächtiger, Hans (Hrsg.), Basler Kommentar Strafrecht I, 3. Auflage, Basel.
- Niggli, Marcel Alexander/Riedo, Christian, 2013, Kartellstrafrecht, in: Ackermann, Jürg-Beat/Heine, Günter (Hrsg.), Bern, 633-676.
- Niggli, Marcel Alexander/Riedo, Christian, 2010, Kommentar vor Art. 49a-53 KG, in: Amstutz, Marc/Reinert, Mani (Hrsg.), Basler Kommentar Kartellgesetz, Basel.
- Riedo, Christian/Niggli, Marcel Alexander, 2010, Kommentar zu Art. 54 KG, in: Amstutz, Marc / Reinert, Mani (Hrsg.), Basler Kommentar Kartellgesetz, Basel.
- Roth, Robert/Heine, Günter, 2011, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen / Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision, Bern, Genf (zit. Autor, Rechtsgutachten zur Sanktionierung natürlicher Personen/Unternehmen im Zuge der Schweizer Kartellrechtsrevision 2011).
- Vasella, Juana, 2018, Die originäre Verantwortlichkeit des Unternehmens nach Art. 102 Abs. 2 StGB, in: forumpoenale 1/2018, S. 54-58.
- 1 Nicht nur im Kartellrecht, sondern auch in anderen Rechtsgebieten drohen Unternehmen pekuniäre Verwaltungssanktionen. Solche Sanktionen sind namentlich in Art. 90 des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) und in Art. 60 des Fernmeldegesetzes (FMG) vorgesehen. Es ist auffällig, dass der Gesetzgeber pekuniäre Verwaltungssanktionen begrifflich vom Strafrecht abgrenzt, indem er anstelle der typisch strafrechtlichen Begriffe wie «Bussen zu verhängen» alternative Begriffe wie «mit einem Betrag zu belasten» verwendet.
- 2 Davon rechtskräftig CHF 16’878’640, aufgehoben CHF 330’000’000 und hängig CHF 608’171’935. Rund 70 Verfahren wurden mittels einvernehmlicher Regelungen abgeschlossen.
- 3 www.bj.admin.ch > Staat & Bürger > Forum für Rechtsetzung
- 4 Diverse Informationen des vorliegenden Beitrags entstammen von den genannten Präsentationen. Die Autorin bedankt sich bei Maya Beeler-Sigron, Luzian Odermatt und Klaus Schneider für die kritische Durchsicht des Beitrags.
- 5 Keine sog. «strict corporate liability», vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, BBl 1999, 2137. Dazu auch instruktiv BGE 142 IV 333, der bislang einzige höchstrichterliche Entscheid zu materiellen Fragen betreffend Art. 102 StGB.