Die Rechtsetzung gestern, heute und morgen – ein Tagungsbericht

  • Auteur-e: Florian Bergamin
  • Catégories d'articles: Comptes rendus de colloque
  • DOI: 10.38023/3706c488-e7c5-41c1-b5a0-e2db9eada1cc
  • Proposition de citation: Florian Bergamin, Die Rechtsetzung gestern, heute und morgen – ein Tagungsbericht, in : LeGes 33 (2022) 3
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Die Schweizerische Gesellschaft für Gesetzgebung (SGG) nahm ihr 40-jähriges Jubiläum zum Anlass, die Entwicklung verschiedenster Aspekte der Gesetzgebung in den letzten vier Jahrzehnten im Rahmen ihrer Jahrestagung unter die Lupe zu nehmen. Wie haben sich die Methodik, die Gesetzessprache oder die Projektorganisation in dieser Zeit verändert? Was ist heute anders, und weshalb macht man es heute anders? Welche Entwicklungen sind für die Zukunft zu erwarten? Der vorliegende Bericht fasst die Schwerpunkte der Referate und der Paneldiskussion zusammen und zieht ein kurzes Fazit.

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In seiner Begrüssung hielt der SGG-Präsident Carlo Conti nach einem kurzen historischen Abriss der Gründungsgeschichte der SGG fest, dass nach wie vor Herausforderungen in der Rechtsetzung bestehen und die SGG als Plattform des interdisziplinären Gedankenaustauschs daher weiterhin ihre Berechtigung habe. Als zentrales Element betonte er den Bedarf an koordinierter Abstimmung über drei Staatsebenen hinweg, nicht bloss eine Konzentration auf die Bundesebene. Zur Einstimmung wurden zudem Zitate von Gründungsmitgliedern eingeblendet, die sich Gedanken zur Qualität der Gesetzgebung machten und dazu, wie Ratsmitglieder und Parlamentsdienste zu guter Gesetzgebung beitragen können. Diese Reflexionen deuten darauf hin, dass die seit der Gründung der SGG am 11. September 1982 verfolgte Grundidee weiterlebt: Eine gute Gesetzgebung setzt eine vernetzte Gesetzgebungskultur voraus, die in eine einfache und verständliche Gesetzessprache mündet.

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Andreas Kley1 befasste sich in seinem Einführungsreferat mit der Entwicklung der Rechtsetzung und Rechtsetzungslehre in den letzten 40 Jahren. Ausgehend von Peter Nolls Gesetzgebungslehre (1973) zeichnete er zunächst die Entwicklung der Rechtsetzung als Gegenstand von Wissenschaft und Lehre in der Schweiz nach, bevor er mit Hinweisen auf die Ausdehnung des Legalitätsprinzips auf die Leistungsverwaltung (BGE 103 Ia 369), die Rechtschreibreformen, die Beschleunigung der Rechtsetzung, die geschlechtergerechte Formulierung von Gesetzesbestimmungen, die Totalrevision der Bundesverfassung und die Krisensituationen der letzten Jahre einige «legistische Grosswetterlagen» und deren Folgen skizzierte. Dabei rückte der Referent die seit 1982 geübte Gesetzgebungspraxis in den Vordergrund. Er ging auf sprachliche Entwicklungen ein, die sich in der Alltagssprache und damit auch in der Gesetzessprache zeigten. Anhand von Beispielen zur Gleichstellung der Geschlechter oder zur Umsetzung von EU-Recht illustrierte er, wie der Anspruch an Verständlichkeit und Genauigkeit von Erlassen teilweise zu kuriosen Ergebnissen führte (vgl. z.B. Art. 5 der Risikoaktivitätenverordnung vom 30. Januar 2019, SR 935.911). Mit Blick auf die Totalrevision der Bundesverfassung und der folgenden Revisionen offenbare der Begriff der vermeintlichen «Nachführung», dass neue Texte vielfach auch neue Inhalte schaffen. Die Kadenzerhöhung in der Rechtsetzung – etwa in der Pandemie mit einem regelrechten «Vulkan von Verordnungen» – verdeutlichte zudem, dass eine sorgfältige Arbeit mit Sprache eine unverzichtbare Voraussetzung für die Steuerungsfunktion von Normen bilde.

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Adrian Vatter2 beleuchtete die Auslösung von Rechtsetzungsvorhaben aus politikwissenschaftlicher Sicht. In einer Dreiteilung widerlegte er aus empirischer Sicht die Annahme, wonach rechtliche Normen und allgemein verbindliche Anordnungen in erster Linie von der Legislative initiiert und erlassen werden. Im Verlauf der letzten Jahre habe die Bundesversammlung zwar ihre Kompetenzen stärken können, sie ringe aber weiterhin mit dem Bundesrat um den Einfluss auf die Gesetzgebung. In einem zweiten Schritt wurde aufgeschlüsselt, wer im Bundes- bzw. in Kantonsparlamenten mit politischen Vorstössen die Rechtsetzung prägt. Schliesslich wurde die Rollenverteilung zwischen Legislative und Exekutive reflektiert: Das Parlament habe de jure eine starke Position, sei faktisch aber schwach und – trotz zunehmender Aktivität – zerstrittener und erfolgloser (Paradox des Parlaments). Die Exekutive agiere hingegen immer weniger als direkter Hauptinitiator, werde aber durch die zunehmende Internationalisierung indirekt gestärkt (Paradox der Regierung). Ressourcenschwäche, Polarisierung und Internationalisierung wurden als zu bewältigende Herausforderungen in der Auslösung von Rechtsetzungsvorhaben identifiziert. Mit Blick darauf dürften sich Reformen der Institutionen als weniger bedeutsam erweisen. Um die Position des Parlaments zu stärken, schlägt der Referent vor, dass die Legislative ihre eigenen Rechte effektiver nutzt, mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt und die Bereitschaft für mehr Kooperation zwischen der Exekutive und der Legislative wiedergefunden wird.

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Ein weiteres Referat war der Rolle der Sachverständigen in der Gesetzgebung gewidmet. Ausgehend vom Begriff der Sachverständigen skizzierte Andrea Burkhardt3 die unterschiedlichen Konstellationen, in denen Fachexpertinnen und Fachexperten ausserhalb der Verwaltung in den verschiedenen Phasen der Rechtsetzung beigezogen werden. Der Rechtsrahmen ändert sich je nach Form des Einbezugs und Bereich (vgl. z.B. Art. 57 RVOG für die externe Beratung von Bundesrat und Departementen, Art. 18 Abs. 4 RVOG zum Beizug von Sachkundigen bei Sitzungen des Bundesrats oder Art. 45 Abs. 1 Bst. b ParlG zum Beizug von aussenstehenden Sachverständigen in parlamentarischen Kommissionen). Einen besonderen Fokus legte die Referentin auf die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission, die Ethikkommission für Biotechnologie im Ausserhumanbereich, die Kommission für Lufthygiene und die Kommission für Lärmbekämpfung, deren Empfehlungen die Umweltgesetzgebung sowie die Rechtsprechung prägten. Das Referat ging insbesondere auf den Balanceakt ein, Forschende – am Beispiel der Sachverständigen zur Klimathematik – genügend einzubeziehen und zugleich der Politik die Entscheidungshoheit zu belassen.

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Christian Rüefli4 ging in seinem Referat auf die Entwicklung der Gesetzesevaluation ein, die in den 1980er-Jahren ihren Anfang nahm, sich in Strukturen und in der Praxis laufend weiterentwickelt hat und im internationalen Vergleich heute als sehr stark institutionalisiert gilt. Sowohl die vorausschauende Abschätzung der Regulierungsfolgen als auch der Rückblick auf Konzepte, den Vollzug und die Auswirkungen von Erlassen und staatlichen Massnahmen haben sich im Parlament und in der Verwaltung etabliert. Der Referent stellte allerdings fest, dass die Entwicklung der Evaluation nach einer stark vom Bundesamt für Justiz getriebenen Anfangsphase in letzter Zeit stagniere. Rüefli bilanzierte, dass wieder vermehrt evaluativ gedacht werden sollte und zielorientiertes Evaluieren wichtiger sei als die Durchführung von Evaluationen zum blossen Selbstzweck. Die künftige Entwicklung sei dabei in erster Linie von der Auftraggeberseite abhängig.

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Jean-Luc Egger5 und Stefan Höfler6 fokussierten sich in ihrem Vortrag auf die Gesetzessprache – oder genauer: auf die Gesetzessprachen. Darin legten sie einige charakteristische Wesenszüge der Gesetzgebung in der Schweiz dar. Diese sei geprägt von einem reziproken Verhältnis zwischen der Rechtsetzung und der Mehrsprachigkeit; ein Verhältnis, das einen guten Austausch zwischen den involvierten Behörden bedinge («une loi bien écrite a son prix»). Anhand drei ausgewählter «Meilensteine» wurde aufgezeigt, dass die Rechtsetzung in der Bundesrechtsetzung bestrebt ist, gesellschaftliche Entwicklungen sprachlich aufzunehmen oder diese umgekehrt mitprägen können. Beispielhaft standen hierfür das Sprachengesetz und die Versuche, hin zu einem geschlechtergerechten Redigieren. Die Gesetzesredaktion wurde überdies durch die Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes (GTR) neu erfasst und steht bei der Umsetzung von EU-Recht in das nationale Recht vor der Herausforderung, stark technisierte und umständlich formulierte Bestimmungen in eine verständlichere Form umzugiessen. Schliesslich wirkte sich der durch das Publikationsgesetz eingeführte Primatwechsel von der gedruckten zur elektronischen Publikation von Erlassen und Erläuterungen auch textlinguistisch aus. Problematisch erscheine hierbei die Vermischung von Texttypen, wie sie namentlich in der Covid-Gesetzgebung vorzufinden war: Empfehlungen sollten unverbindlich bleiben und die Normativität einer Bestimmung sollte sich nicht erst durch seine Erläuterung ergeben. Mit Blick auf eine Tradition von verständlich und bürgerfreundlich formulierten Gesetzen, scheint die heutige Gesetzgebung zunehmend unter Druck zu stehen. Die Referenten schlossen entsprechend mit dem Wunsch, dass die Gesetzessprache auf Genauigkeit, Kohärenz und Verständlichkeit bedacht bleibt.

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Eine bisweilen futuristische Dimension brachte Abraham Bernstein7 mit einem Blick auf die Digitalisierung ein. Er visualisierte das grosse Potenzial von Künstlicher Intelligenz und zeigte verschiedenste Einsatzbereiche auf. Technologien werden in Zukunft auch demokratische Prozesse und letztlich die Gesetzgebung beeinflussen. Mit digitalen Mitteln könnten künftig Erlasse entworfen werden oder die Bevölkerung besser informiert und ihre Positionen in die Rechtsetzung einbezogen werden.

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Felix Schöbi8 brachte die Sicht des Bundesgerichts auf die Gesetzgebung ein. Die Arbeit mit Erlassen beleuchtend, legte er seine Erfahrungen mit der Auslegung dar, bei der Präjudizien eine zentrale Bedeutung einnehmen. Die Wechselwirkung zwischen dem Gericht und dem Gesetzgeber bildete ein weiteres Element des Vortrags. Das vom Gesetzgeber eingeräumte Ermessen, namentlich in Bereichen des Familienrechts, erwies sich nach den Schilderungen des Referenten immer wieder als Herausforderung. Weiter prägen die hohe Technizität von Bestimmungen, eine erhöhte Erlasskadenz und die zunehmenden völkerrechtlichen Einflüsse in der Gesetzgebung die Arbeit des Gerichts. Schliesslich wurde die Frage aufgegriffen, wie das Bundesgericht als Gesetzgeber agiert, oder eben nicht. Gerade am Beispiel des Völkerrechts zeige sich, dass das Bundesgericht die Positionen des Parlaments durchaus kritisch reflektiert und reflektieren dürfe; Referenz bleibe letztlich aber allein das Gesetz.

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Zum Abschluss der Tagung diskutierte ein Panel unter der Moderation von Bernhard Waldmann9 über die Qualität der schweizerischen Gesetzgebung. Zur Einleitung zeigten die Panelteilnehmenden ihren Bezug zur Gesetzgebung auf: Vertreten war die Sichtweise der Parlamentsdienste (Anne Benoit10), der (Rechts-)Wissenschaft (Alexandra Jungo11), der Politik (Beat Rieder12) und der Kantone (Daniel Spadin13). Dabei konnten verschiedene Erkenntnisse bekräftigt werden, die im Verlauf der Tagung zum Ausdruck gekommen waren. Vor allem der hohe Erlass- und Änderungsrhythmus wurden als Herausforderung für eine qualitativ gute Gesetzgebung wahrgenommen. Zur Sprache kam ferner die Rollenverteilung zwischen Parlament und der Verwaltung, welche die politischen Entscheide der Legislative vorzubereiten und umzusetzen hat. Am Beispiel des Kantons Graubünden führte Herr Spadin dazu aus, wie sich eine gute Kooperation zwischen den Behörden und Kontrollmechanismen im Gesetzgebungsprozess positiv auf die Qualität der Gesetzgebung auswirken. Zur Sprache kam ausserdem die Beobachtung, dass sich in der Rechtswissenschaft eher das öffentliche Recht und weniger das Privatrecht mit legistischen Fragen beschäftige. Nebst der verhältnismässig hohen Revisionsresistenz privatrechtlicher Erlasse konnten Unterschiede bei der Funktion der Rechtsgebiete verortet werden: Die Steuerungsfunktion des Privatrechts sei wohl beschränkter als bei öffentlich-rechtlichen Erlassen. In der Schlussrunde deckten sich die Prognosen und Wünsche zur Zukunft der Gesetzgebung. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in der Rechtsetzung sei weniger Schnelllebigkeit, sondern Mut zur Reflexion gefragt. Eine umfassende Sicht benötige zwar mehr Zeit, stärke aber die Qualität der Erlasse.

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Resümierend kann festgehalten werden, dass der Zustand der Gesetzgebung in der Schweiz für grundsätzlich gut befunden wurde. Gleichzeitig konnte die Jahrestagung der SGG verschiedene Herausforderungen aufzeigen, mit denen sich die am Gesetzgebungsprozess Beteiligten konfrontiert sehen. Im Zentrum stehen dabei die zunehmende Komplexität der zu lösenden Probleme sowie der wachsende Zeitdruck, die Schnelllebigkeit von Erlassen, die sprachliche Evolution und das Ringen um eine sachgerechte Rollenverteilung zwischen den involvierten Akteurinnen und Akteuren. Unter dem Druck dieser Herausforderungen drängt sich eine Besinnung auf die Stärken der schweizerischen Rechtsetzungskultur auf. Gute Gesetzgebung benötigt genügend zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen. Letztlich zeichnet sich eine Gesetzgebungskultur auch durch einen regelmässigen und möglichst interdisziplinären Austausch aus. Den rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde im Schlusswort bekräftigt, dass die SGG auch künftig als breites Forum für Fragen der Legistik dienen will. Weitere Informationen zu den Tätigkeiten der SGG und zu dieser Tagung finden sich unter www.sgg-ssl.ch.


Florian Bergamin, MLaw, dipl. Assistent am Institut für Föderalismus der Universität Freiburg.

  1. 1 Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h. c., Universität Zürich, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie.
  2. 2 Prof. Dr., Universität Bern, Institut für Politikwissenschaft.
  3. 3 Lic. rer. pol., Bundesamt für Umwelt, Leiterin Abteilung Klima.
  4. 4 Lic. rer. soc., Geschäftsführer Büro Vatter, Bern.
  5. 5 Ph.D., Bundeskanzlei, Stv. Leiter Sektion Gesetzgebung & Sprachen und Sekretär für die Subkommission der italienischen Sprache in der Redaktionskommission des Parlaments.
  6. 6 PD Dr., Bundeskanzlei, Leiter Zentrale Sprachdienste, Sektion Deutsch.
  7. 7 Prof. Ph.D. (WWF), Universität Zürich, Digital Society Initiative.
  8. 8 PD Dr. iur., Bundesrichter, II. zivilrechtliche Abteilung.
  9. 9 Prof. Dr. iur., Co-Direktor des Instituts für Föderalismus an der Universität Freiburg.
  10. 10 Dr. iur. RA, Sekretärin der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates.
  11. 11 Prof. Dr. iur., Universität Freiburg, Lehrstuhl für Familienrecht.
  12. 12 RA und Notar, Ständerat Kanton Wallis, Mitinhaber eines Advokatur- und Notariatsbüros.
  13. 13 Lic. iur. RA, Kanzleidirektor der Standeskanzlei Graubünden.