42. Forum für Rechtsetzung vom 19. Oktober 2023

Das Europarecht und dessen Auswirkung auf die Schweizer Rechtsetzung

  • Auteur-e-s: Romane Loviat / Lena Portmann / Karl-Marc Wyss
  • Catégories d'articles: Comptes rendus de colloque
  • DOI: 10.38023/0a73766b-e165-44c7-a0ab-1bbc2b5c77ab
  • Proposition de citation: Romane Loviat / Lena Portmann / Karl-Marc Wyss, 42. Forum für Rechtsetzung vom 19. Oktober 2023, in : LeGes 34 (2023) 3
Compte-rendu du 42ème Forum de législation du 19 octobre 2023. Le programme a tourné autour du droit européen et de son impact sur la législation suisse, avec des interventions relatives à des exemples d'application dans le domaine des accords de Schengen-Dublin, du droit des transports et du droit alimentaire, ainsi que de la référence au droit de l'Union européenne.
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Im ersten Referat erläuterte Reto Gruber (wissenschaftlicher Mitarbeiter, Rechtsetzungsbegleitung I, Bundesamt für Justiz) entsprechend dem Titel Verweisung auf das EU-Recht, worin die Besonderheiten solcher Verweisungen liegen und worauf die Gesetzgebung achten sollte. Verweist die Schweiz auf EU-Recht, so verzichtet sie auf eine eigene Regelung und bezieht sich stattdessen auf eine EU-Norm. Gemäss Inkorporationstheorie wird die EU-Norm (Verweisobjekt) zum Bestandteil der landesrechtlichen Verweisnorm. Letztere wäre ohne Verweisobjekt unvollständig. Das Verweisobjekt übernimmt deren Normstufe und Geltungskraft (siehe dazu und zu den möglichen Ausprägungen der Verweisungen Gesetzgebungsleitfaden, Rz. 739 ff.). Gruber wies hierzu vorerst auf zwei grundsätzliche Besonderheiten hin:

  • Erstens, das Verweisobjekt: Beim EU-Recht – Rechtsordnung sui generisstellen sich besondere Fragen hinsichtlich: (i.) der Rechtsformen und Bindungswirkung des Sekundär- und Tertiärrechts: Richtlinie, Verordnung, Beschluss, Empfehlung, Durchführungs- und delegierte Rechtsakte – mit Verfügungs- oder Rechtssatzcharakter; (ii.) der Vielsprachigkeit: 24 Sprachen; (iii.) der Normarchitektur und -sprache: Redundanzen, Längen, Legaldefinitionen mit materiellen Anweisungen; (iv.) der Publizität (ABl.): chronologische Publikation, jedoch keine systematische Rechtssammlung; (v.) der teilweise sehr hohen Weiterentwicklungsdynamik (vgl. zur Illustration die Ausführungen im vierten Referat).
  • Zweitens erfolgt jede Übernahme von EU-Recht in einem konkreten integrationspolitischen Kontext (vgl. Grafik nach Gruber, Folie 6 des Referats):

 

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Möchte der Gesetzgeber bei einer Entwicklung des EU-Rechts nachziehen, so hat er grundsätzlich zwei Methoden zu Hand: Er kann die EU-rechtliche Norm inkorporieren oder darauf verweisen. Inkorporation meint dabei die textliche Übernahme einer EU-Rechtsnorm in eine landesrechtliche Norm, sei es über eine Neuformulierung oder durch Abschreiben (Copy paste). Ausgehend vom Leitmotiv, dass landesrechtliche Bestimmungen für den Adressanten klar und verständlich sein sollen, gilt es im konkreten Einzelfall die Vor- und Nachteile abzuwägen: Eine Verweisung reduziert den eigenen Gestaltungsspielraum (falls ein solcher besteht). Dafür lässt sich der Erlasstext mithilfe einer Verweisung – im Gegensatz zur Neuformulierung – u.U. erheblich verkürzen, was den Rechtsetzungsprozess zu beschleunigen hilft. Zugleich erhöht die Verweisung aber die Komplexität der landesrechtlichen Regelung für den Normadressaten. Die Norm ist nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich. Vielmehr müssen Rechtssuchende das einschlägige EU-Recht konsultieren, um den landesrechtlichen Norminhalt zu verstehen. Der Gesetzgeber muss daher prüfen, ob sich das EU-Recht (Verweisobjekt) zur Einbettung in die landesrechtliche Verweisnorm eignet und hinreichend bestimmt ist. Dabei kann er sich namentlich an folgenden Gesichtspunkten und Fragen orientieren: (i.) Ist die EU-Norm direkt anwendbar (Richtlinie)? – massgebend dafür sind die Kriterien des Bundesgerichts (z.B. BGE 136 I 297 E. 8.1) und nicht jene des Europäischen Gerichtshofs; (ii.) Ist sie verständlich formuliert (unterschiedliche Normsprache)?; (iii.) Hat sie Rechtsatzcharakter oder handelt es sich um einen Rechtsanwendungsakt?; (iv.) Welche Teile des EU-Rechtsakts sind relevant (genaue Verweisung)?; (v.) Verweist die Norm auf weitere EU-Rechtsnormen – Stichwort «Kettenverweisung» – und sind diese relevant?

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Antworten darauf, wie rechtsetzungstechnisch zu verweisen ist, finden sich in den Gesetzestechnischen Richtlinien des Bundes (GTR; siehe für die Verweisung auf EU-Recht Rz. 124–151). Die dort beschriebene Art der Referenzierung ist jedoch für EU-Rechtsakte, die nach dem 1. Oktober 2023 im ABl. publiziert worden sind, nicht mehr aktuell. Neu gibt man keine Seitenzahlen mehr an, sondern referenziert nach dem folgenden Muster: ABl. L [Jahreszahl/Rechtsaktnummer] vom [Datum]. Die Bundeskanzlei ist entsprechend sensibilisiert; eine Anpassung der GTR folgt. Probleme bei der statischen Verweistechnik bietet die Dynamik des EU-Rechts und der damit verbundene Anpassungsbedarf. Diese lassen sich einerseits mittels Subdelegation (interne Verfahrensbeschleunigung) und andererseits mittels Verweisung auf die in einem Staatsvertrag festgelegte Fassung (Minimierung des künftigen Anpassungsbedarfs) jedenfalls teilweise relativieren (vgl. GTR Rz. 145). Ausnahmsweise sind auch dynamische Verweisungen möglich. Voraussetzung ist das kumulative Vorliegen folgender vier Bedingungen: (i.) Das Verweisobjekt enthält keine wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen; (ii.) die Delegationsnorm ist in einem formellen Gesetz enthalten; (iii.) die Regelungsmaterie ist bestimmt und eng umgrenzt sowie (iv.) von geringer politischer Relevanz. Als Beispiel eines solchen Verweises nannte Gruber Artikel 82 Absatz 2 Heilmittelgesetz (HMG; SR 812.21 [Delegationsnorm]) in Verbindung mit Artikel 17 Absatz 4 und Anhang 4 Medizinprodukteverordnung (MepV; SR 812.213), welcher dynamisch auf das entsprechende EU-Recht verweist. Bei Kettenverweisungen kann die Bestimmung der Reichweite des Verweisobjekts Mühe bereiten, insbesondere dann, wenn sich im Verweisobjekt eine dynamische Weiterverweisung versteckt. Im Umgang mit einer solchen Situation sind theoretisch verschiedene Ansätze denkbar: Man könnte die Weiterverweisung als unbeachtlich betrachten und die «Lücke» autonom schliessen oder man könnte die Weiterverweisung als statisch auffassen. Ein dritter Weg besteht darin, die Reichweite der Weiterverweisung im jeweiligen Erlass explizit festzulegen, wie dies z.B. der Anhang 3 der MepV tut. Abschliessend illustrierte Gruber die sich stellenden Fragen im Umgang mit Kettenverweisungen, die in einem Abkommen mit der EU enthalten sind, anhand der Notenaustausche betreffend die Übernahme der Dublin III-Verordnung (SR 0.142.392.680.01) sowie betreffend die Übernahme der EES-Verordnung (SR 0.362.380.088). In beiden EU-Verordnungen finden sich Weiterverweisungen auf EU-Rechtsakte, welche die Schweiz als solche nicht übernommen hat. Da eine staatsvertragliche Bestimmung der Reichweite dieser Verweisungen aus verschiedenen Gründen ausscheidet, bestehen zwei Möglichkeiten: Die Weiterverweisung wird als nicht beachtlich angesehen und die daraus entstehende Lücke wird autonom gefüllt (so der Ansatz des Bundesrates) oder die Weiterverweisung wird im Sinne der Inkorporationstheorie als beachtlich angesehen (so das Bundesgericht in BGE 143 II 361).

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Dans le deuxième exposé « LOFT et le droit européen : mise en œuvre ou source dinspiration », Joanna Ozimek (Cheffe du service juridique, Office fédéral des transports) et Marcel Hepp (Chef suppléant du service juridique, Office fédéral des transports) présentent trois exemples de mise en œuvre du droit européen par l’Office fédéral des transports (OFT).

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Le premier exemple concerne le « Paquet Mobilité ». Il s’agit d’un ensemble de prescriptions visant à créer des normes pour améliorer le secteur des transports dans toute l’Union Européenne (UE). La loi fédérale sur les entreprises de transport par route (LEnTR ; RS 744.10) et l’ordonnance fédérale sur la licence d’entreprise de transport de voyageurs et de marchandises par route (OTVM, RS 744.103) doivent être adaptées pour être conformes au contenu du droit européen. L’OFT a lancé un processus législatif pour modifier la loi. L’ordonnance est révisée en parallèle. Le processus législatif commence par l’analyse de la directive européenne concernée et par la comparaison de celle-ci avec le droit suisse. Puis vient l’élaboration du projet de loi, en l’occurrence la modification de la LEnTR. L’OFT a ensuite procédé à un « pré-screening » en parallèle à la procédure de consultation du projet de loi. Ce pré-screening consiste en un contact informel avec les experts de l’UE, qui permet d’avoir une première idée de la conformité du projet de loi aux normes UE. Les résultats de cette procédure sont intégrés dans le message du Conseil fédéral concernant la modification de la loi (cf. FF 2023 1290). Le screening en lui-même a lieu une fois que le projet de loi a été accepté par l’Assemblée fédérale.

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Le deuxième exemple concerne l’accord sur les transports terrestres entre la Suisse et l’UE (ATT ; RS 0.740.72). Dans cet accord, l’UE reconnaît la redevance sur le trafic des poids lourds imposée par la Suisse. En contrepartie, la Suisse laisse circuler les véhicules de 40 tonnes sur son territoire. Le cadre du système de taxation suisse est fixé dans l’ATT, tandis que la loi relative à une redevance sur le trafic des poids lourds (LRPL ; RS 641.81) prévoit le système de taxation en Suisse. La Suisse n’est pas obligée de reprendre la directive UE Eurovignette (Directive 1999/62/CE) qui règle le système de taxation pour l’UE, puisque l’accord ATT lui permet d’avoir son propre système de taxation. Elle s’aligne néanmoins sur les adaptations du droit UE. La directive UE Eurovignette a été modifiée dernièrement, changeant les critères déterminants pour la taxation. Le critère déterminant pour la taxation en Suisse étant les émissions de CO₂, la Suisse a été confrontée à une baisse des revenus suite à l’introduction des véhicules électriques. La directive UE Eurovignette a été modifiée notamment pour prendre en compte cette évolution au niveau européen. Une évolution de la LRPL, en particulier en ce qui concerne une mise en conformité au droit européen, est actuellement empêchée à cause du cadre rigide de l’ATT, et spécialement à cause de la mention explicite de la différenciation des redevances selon trois catégories de normes d’émissions (art. 40, al. 2, ATT).

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Le troisième exemple est celui du 4e « Paquet ferroviaire UE », principalement de son volet technique. La relation du droit suisse en matière ferroviaire avec le droit de l’UE est une question d’interopérabilité qui dure depuis longtemps. Cette relation résulte donc de l’évolution historique. Le point central du 4e paquet ferroviaire est la compétence de l’Agence de l’Union européenne pour les chemins de fer (ERA) pour octroyer des homologations internationales valables pour tous les pays. Ce système d’autorisation exige une équivalence du droit suisse au droit UE. La réglementation équivalente suisse devra ensuite être reprise dans l’ATT. Le comité mixte de l’ATT, qui devrait décider de cette reprise, est actuellement bloqué pour une durée imprévisible. Son fonctionnement dépendra de l’avancement des questions institutionnelles entre la Suisse et l’UE. En conséquence, le droit suisse doit pouvoir fonctionner avec ou sans reprise dans l’annexe de l’ATT. Un moyen pour ce faire a été d’introduire uniquement les principes stables du droit UE dans la loi fédérale sur les chemins de fer (LCdF ; RS 742.101) et de renoncer aux renvois au droit européen. Ensuite, la loi donne la possibilité au Conseil fédéral de prévoir la compétence de l’ERA et elle prévoit également une délégation de compétence à l’OFT pour régler les aspects techniques et les composantes de l’interopérabilité.

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Nach der Pause folgte das zweisprachige Referat von Marco Urban und Vijitha Fernandes (wissenschaftliche Mitarbeitende, Fachbereich Europarecht und Koordination Schengen/Dublin, Bundesamt für Justiz) mit dem Titel «La reprise du droit de lUE à laune de la diversité des accords bilatéraux». Darin erläuterten Urban und Fernandes, dass die Art und Weise der Übernahme von EU-Recht je nach bilateralen Abkommen unterschiedlich ist. Dabei unterstrichen sie insbesondere die folgenden zwei Aspekte:

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Erstens, während einige bilaterale Abkommen die Geltung des EU-Rechts in der Schweiz zum Ziel haben, zielen andere darauf ab, die Gleichwertigkeit des schweizerischen Rechts mit dem EU-Recht herzustellen. Das bedeutet, wenn die Schweiz EU-Recht übernehmen möchte, gilt es zu prüfen, ob ein bilaterales Abkommen betroffen ist und gegebenenfalls zu differenzieren, welche Verpflichtungen sich aus diesem Abkommen für den Schweizer Gesetzgeber ergeben. Zweitens, können bei der Übernahme von EU-Recht aufgrund bilateraler Abkommen verschiedene Verfahren zur Anwendung kommen. Urban und Fernandes verdeutlichten diese Aspekte anhand der folgenden drei Beispiele:

  • Als 1. Beispiel nannten sie das Luftverkehrsabkommen (Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr; LVA; SR 0.748.127.192.68), bei dem es sich um ein «partielles Integrationsabkommen» handelt. Dieses bezweckt die Geltung des EU-Rechts im Bereich der Zivilluftfahrt in der Schweiz. Die relevanten europäischen Rechtsakte werden im Anhang des Abkommens genannt und müssen aufgrund der Entwicklungen im EU-Recht regelmässig aktualisiert werden. Über die Aktualisierung des Anhangs entscheidet jeweils der gemischte Ausschuss des Abkommens (Art. 23 Abs. 4 LVA). Die europäischen Rechtsakte, auf die im Anhang verwiesen wird, sind integrierender Bestandteil des Abkommens und gelten in der Schweiz ab dem Moment der Aktualisierung des Anhangs. Allenfalls ist für die Anwendbarkeit der EU-Normen (z.B. bei nicht self-executing Normen) eine Umsetzung im nationalen Recht erforderlich.
  • Als 2. Beispiel nannten Urban und Fernandes die Abkommen Schengen und Dublin (Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands; SAA; SR 0.362.31 sowie Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags; DAA; SR 0.142.392.68). Diese beinhalten eine grundsätzliche Verpflichtung der Schweiz zur Übernahme des EU-Rechts und sehen ein besonderes Übernahmeverfahren vor. Verabschiedet die EU eine Weiterentwicklung des Schengen- bzw. Dublin-Besitzstandes, so notifiziert sie dies der Schweiz unverzüglich. Die Schweiz muss der EU daraufhin innert 30 Tagen nach Erlass des Rechtsaktes mitteilen, ob sie diesen übernimmt (Art. 7 Abs. 2 Bst. a SAA / Art. 4 Abs. 2 DAA). Im Rahmen der Übernahme kann hier ebenfalls eine Umsetzung im nationalen Recht erforderlich sein. Falls der Inhalt des Rechtsaktes die Genehmigung des Parlaments und/oder die Umsetzung in einem Bundesgesetz erfordert, so teilt die Schweiz in ihrer Antwort an die EU innert 30 Tagen mit, dass der Rechtsakt erst nach Erfüllung der verfassungsrechtrechtlichen Voraussetzungen rechtsverbindlich werden kann. In diesem Fall hat die Schweiz für die Übernahme und Umsetzung des EU-Rechts eine Frist von höchstens zwei Jahren ab der Notifizierung des Rechtsaktes. Die Schweiz unterrichtet die EU dann unverzüglich über die Erfüllung aller verfassungsrechtlichen Voraussetzungen (Art. 7 Abs. 2 Bst. b SAA / Art. 4 Abs. 3 DAA). Die Notifizierung der EU und die Antwortnote der Schweiz betreffend die Übernahme des Rechtsaktes stellen einen Notenaustausch dar, der nach Schweizer Recht als völkerrechtlicher Vertrag zu qualifizieren ist.
  • Anders verhält es sich im 3. Beispiel. So ist das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen; MRA; SR 0.946.526.81) ein «Äquivalenzabkommen» und hat die Gleichwertigkeit der Rechtsvorschriften der Schweiz und der EU zum Ziel: Um technische Handelshemmnisse bei der Vermarktung von Industrieerzeugnissen zu vermeiden, passt die Schweiz ihre Rechtsvorschriften jeweils an diejenigen der EU an. Danach wird der Stand der entsprechenden rechtlichen Bestimmungen durch Beschluss des gemischten Ausschusses im entsprechenden Kapitel in Anhang 1 des Abkommens aufgenommen (Art. 10 Abs. 5 MRA). Die Gleichwertigkeit des Schweizer Rechts und des EU-Rechts wird festgestellt, sobald die EU und die Schweiz diese Änderung des MRA vorgenommen haben. Dadurch lehnt sich das Schweizer Recht zwar regelmässig ans EU-Recht an, dieses ist aber nicht als solches anwendbar und der Schweizer Gesetzgeber verfügt bei der Übernahme über einen gewissen Spielraum. Deshalb ist auch die Umsetzung ins Schweizer Recht in jedem Fall notwendig.
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Darüber hinaus ist im Rahmen von Schengen-/Dublin-Weiterentwicklungen zu beachten, dass die Übernahme nicht erst im Moment des Erlasses des Rechtsaktes beginnt: Während der Erarbeitung der entsprechenden Rechtsakte auf EU-Ebene ist es wichtig, dass die Schweiz den Überblick über die laufenden Rechtsetzungsprojekte behält (Monitoring). Die zuständigen Fachämter müssen Vorbereitungen treffen, um eine spätere fristgerechte Übernahme und Umsetzung gewährleisten zu können. Dies stellt insbesondere bei Übernahmen, bei denen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt werden müssen und die Übernahme und Umsetzung innert einer Frist von zwei Jahren (inklusive eines allfälligen Referendums) durchgeführt werden muss, eine enorme Herausforderung für die Fachämter dar. Die Schweiz hat aber in der Erarbeitungsphase des Rechtsaktes auf EU-Ebene bereits gewisse Beteiligungs- und Mitspracherechte, sodass die Schweiz ihre Interessen einbringen und insbesondere gemeinsam mit «like-minded-States» Einfluss auf den Inhalt der Rechtsakte nehmen kann.

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Zuletzt präsentierte Adrian Kunz (Stv. Leiter Fachbereich Recht im Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV) unter dem Titel «Die zeitnahe Übernahme von EU-Recht: Eine Herausforderung» die praktischen Probleme, die sich im BLV in verschiedenen Rechtsgebieten aufgrund des schnellen Rechtsetzungsrhythmus in der EU stellen. Kunz illustrierte dies zunächst anhand des Beispiels von Nahrungsergänzungsmitteln mit Zutaten tierischer Herkunft. Das BLV passt die Anhänge 1–4 der Verordnung über die Höchstgehalte für Pestizidrückstände in oder auf Erzeugnissen pflanzlicher und tierischer Herkunft (VPRH; SR 817.021.23) regelmässig dem Stand von Wissenschaft und Technik sowie dem Recht der wichtigsten Handelspartner der Schweiz an – in erster Linie jenem der EU. Dabei harmonisiert das BLV jeweils rund 7500 Rückstandhöchstgehalte mit der EU. Weil das EU-Recht in dieser Hinsicht mit grosser Regelmässigkeit angepasst wird (die entsprechende EU-Verordnung wurde zwischen Januar und Juni 2023 siebenmal geändert) und die EU-Verordnungen jeweils 20 Tage nach ihrer Verabschiedung in Kraft treten, besteht die Gefahr, dass die Schweiz diesen Revisionen «hinterherhinkt». Eine solche Verzögerung bleibt nicht ohne Folgen: In der Schweiz gilt so betreffend Gesundheitsschutz zeitweise ein tieferes Schutzniveau als in den anderen europäischen Ländern. Dadurch besteht auch das Risiko, dass die EU nicht mehr konforme Ware in die Schweiz exportiert und dass die Schweiz so als «Abfalleimer Europas» fungiert. Um diese Effekte zu vermeiden und die Unterschiede zum EU-Recht zu eliminieren, identifiziert Kunz zwei Möglichkeiten:

  • Der so genannte «Königsweg» wäre eine formell-gesetzliche Grundlage für dynamische Verweise auf das EU-Recht im jeweiligen Spezialgesetz. Für das Lebensmittelrecht befindet sich diese in Ausarbeitung: Gemäss Artikel 44 Absatz 3 Entwurf des Lebensmittelgesetzes (E-LMG) kann der Bundesrat vorsehen, dass delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte der Europäischen Kommission im Bereich des LMG in der jeweiligen für die EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Fassung auch in der Schweiz gelten – dies, soweit die Rechtsakte technische oder administrative Einzelheiten betreffen und deren Regelung fortlaufend und in der Regel kurzfristig angepasst wird. Der Bundesrat kann einzelne Abweichungen festlegen. Damit könnten die genannten Probleme gelöst werden. Allerdings wird die Revision des LMG frühestens 2026 in Kraft treten.
  • In der Zwischenzeit sind kreative Lösungen gefragt. Eine solche hat das BLV zum Beispiel im Bereich der neuartigen Lebensmittel gefunden («Zwischenlösung»): Der Anhang der Verordnung des EDI über neuartige Lebensmittel (SR 817.022.2) enthält einen statischen Verweis auf die Grundverordnung (EU) 2015/2283 gemäss ihrem Stand vom 11.12.2015: Danach dürfen sämtliche Lebensmittel, die nach Letzterer in den Verkehr gebracht werden dürfen, grundsätzlich ohne zusätzliche Bewilligung auch in der Schweiz in den Verkehr gelangen. Nun aktualisiert die EU aber ihre Grundverordnung 2015/2283 bei jeder Zulassung eines verkehrsfähigen neuartigen Lebensmittels per Durchführungsverordnung, sodass der statische Verweis in der Schweizer Verordnung über neuartige Lebensmittel sehr schnell an Aktualität verliert. Dieses Problem löst das BLV zurzeit folgendermassen: Es versteht den statischen Verweis in der Praxis so, dass er sämtliche Änderungen des Anhangs per Durchführungsverordnung mitenthält. Diese Praxis basiert auf den folgenden zwei Überlegungen: Erstens, umschreibt die EU-Grundverordnung detailliert, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein neuartiges Lebensmittel bewilligt wird. Diese wurden unverändert ins Schweizer Recht übernommen. Zweitens, basiert die Entscheidung über die Zulassung von Lebensmitteln durch die EU-Kommission wie auch durch die Schweizer Behörden auf der Risikobewertung durch die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) – man kann also davon ausgehen, dass die Beurteilung der Schweizer Behörden kaum je von derjenigen der EU-Kommission abweichen wird.
    Eine «Zwischenlösung» im Sinne des eben erwähnten Verweismodells kann nicht ohne Weiteres zur Anwendung kommen: Vielmehr muss ein (nicht abschliessender) Katalog an Voraussetzungen erfüllt sein, wie ihn das BLV in Zusammenarbeit mit dem Bereich Rechtsetzungsbegleitung II des Bundesamts für Justiz erarbeitet hat. Ob diese erfüllt sind, ist für jeden Einzelfall zu prüfen. Die Voraussetzungen sind (i.) ein gesetzlicher Auftrag, EU-Recht zu übernehmen, (ii.) eine technische Materie, (iii.) ein kleiner Kreis an betroffenen Personen, (iv.) fehlende politische Brisanz (v.) allgemeine Akzeptanz des vorgeschlagenen Vorgehens, (vi.) die Publikation und Zugänglichkeit des Verweisobjektes in drei Amtssprachen, (vii.) die Ausschöpfung der Möglichkeiten gemäss Publikationsgesetz, (viii.) eine hohe Revisionskadenz in der EU, (ix.) dass es sich bei der Übernahme des EU-Rechts um einen Schritt handelt, den «man sowieso machen müsste» (z.B. aufgrund bilateraler Abkommen) sowie (x.) die Sicherstellung der Transparenz. Letzteres gewährleistet das BLV unter anderem, indem es auf seiner Internetseite (abrufbar unter: https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/lebensmittel-und-ernaehrung/rechts-und-vollzugsgrundlagen/bewilligung-und-meldung/bewilligung.html) eine Übersicht zu den Zulassungen neuartiger Lebensmittel in der EU zur Verfügung stellt, die regelmässig aktualisiert wird.
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Die «Zwischenlösung» für den Bereich der neuartigen Lebensmittel hat sich gemäss Kunz in den vergangenen vier Jahren bewährt. Für die Zukunft erscheint aber der vorgeschlagene «Königsweg» des dynamischen Verweises in Artikel 44 Absatz 3 E-LMG vielversprechend: Gemäss der durchgeführten Rechtsfolgenabschätzung begrüsst eine Mehrheit der betroffenen Kreise die geplante Regelung. Die Einschränkung der Rechtsetzungsautonomie bei der dynamischen Rechtsübernahme war dabei kaum ein Thema, was an sich bemerkenswert ist. Stattdessen beschäftigten die Befragten zum Beispiel die relativ kurzen Übergangsfristen der EU, die dazu führen könnten, dass Lagerbestände nicht mehr abgebaut werden könnten.

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Sämtliche Tagungsunterlagen finden sich auf der Homepage des Bundesamts für Justiz; abrufbar unter: «https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/staat/legistik/rechtsetzungsforum/veranstaltungsthemen/42.html». Das 43. Forum für Rechtsetzung findet am 25. April 2024 statt und dreht sich thematisch um Pilotprojekte. Zugleich ist ein kurzer Beitrag zu den Formvorschriften im öffentlichen Recht vorgesehen, welcher den «Leitfaden zur Auslegung und Gestaltung von Formvorschriften im öffentlichen Recht des Bundes vom 19. September 2023» und aktuelle Beispiele aus der Praxis vorstellt.


Dr. iur. des. Romane Loviat, collaboratrice scientifique, Unité Projets législatifs II, Office fédéral de la Justice.

Lena Portmann, MLaw, wissenschaftliche Praktikantin, Fachbereich Rechtsetzungsprojekte I, Bundesamt für Justiz.

Dr. iur. Karl-Marc Wyss, Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Rechtsetzungsprojekte II, Bundesamt für Justiz.