Die hier zu besprechende Arbeit (eine Dissertation) ist schwere Kost, besonders natürlich für Juristinnen und Juristen, die es nicht gewohnt sind, solche stark empirischen, in der Linguistik, Psycholinguistik und Kognitionswissenschaft beheimateten akademischen Karrierearbeiten zu lesen, auch wenn darin, wie hier der Fall, juristische Fachtexte untersucht werden. Es geht in der Arbeit darum, die Lese- und die Verstehensprozesse bei solchen Texten mit speziellen psycholinguistischen Methoden zu messen. Dabei wird das Lesen und Verstehen der Originaltexte verglichen mit dem Lesen und Verstehen von reformulierten Texten, das heisst von Fassungen dieser Texte, die gegenüber dem Originaltext in ganz bestimmten, für die Verständlichkeit möglicherweise ausschlaggebenden sprachlichen Konstruktionen verändert worden sind. Mit einer solchen Methode kann man den Einfluss dieser Konstruktionen auf den Lese- und Verstehensprozess empirisch erheben. Untersuchungskorpus sind Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts, aber auch Pressemitteilungen der Gerichte und Zeitungsberichte über solche Urteile. Es geht also nicht um Texte der Rechtsetzung, sondern der Rechtsanwendung sowie auch um ausserrechtliche Texte über die Rechtsanwendung; gleichwohl verdient die Arbeit von ihrem Ansatz wie von den Resultaten her die Beachtung auch der rechtsetzend tätigen Fachwelt.1
In einem ersten Hauptkapitel stellt der Autor einige der einflussreichsten kognitionswissenschaftlichen Modelle des menschlichen Textverstehens vor. Ältere Verstehensmodelle operierten mit der «Container-Metapher»: Ein Text ist ein Behälter, dessen Inhalt der Autor in den Text getan hat. Verstehen heisst demnach, diesen Inhalt dem Text lediglich wieder zu entnehmen. Diese Modelle sind überholt. Kognitionswissenschaftliche Modelle erklären das Textverstehen als Interaktion zwischen einem Text, also einem sprachlichen Gebilde, und dem «Kopf» einer Leserin oder eines Lesers. Verstehen hat ganz viel mit Schlussfolgerungen der Lesenden, mit mentalen Konstruktionsprozessen zu tun, wobei Sprach- und Textwissen, Weltwissen, Erfahrungen, Erwartungen und so weiter wichtige Ressourcen für diese mentalen Schlussfolgerungs- und Konstruktionsprozesse darstellen. Ausführlich beleuchtet der Autor in diesem Kapitel die sogenannte Anaphernauflösung als eine zentrale Komponente bei der Konstruktion des Verstehens. Gemeint ist das Anbinden von Ausdrücken an früher im Text aufgetretene Ausdrücke, das Erkennen und mentale Herstellen von Koreferenz. Ein Beispiel (von Stefan Höfler) aus einem Entwurf des Elektrizitätsgesetzes: Art. 18 Das Bundesamt für Energie kann auf Antrag der Unternehmungen für genau bezeichnete Gebiete Projektierungszonen festlegen, um Grundstücke für künftige Starkstromanlagen freizuhalten. Art. 18a Kommen Eigentumsbeschränkungen nach Artikel 18 einer Enteignung gleich, so sind sie voll zu entschädigen. Vom Wortlaut her ist in Artikel 18 nicht von Eigentumsbeschränkungen die Rede. Die Anapher «Eigentumsbeschränkungen nach Artikel 18» auflösen und die beiden Bestimmungen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen kann nur, wer über einiges Vorwissen verfügt. Juristinnen und Juristen gelingt das vermutlich relativ leicht, andern Leserinnen und Lesern dürfte es schwerer fallen.
Der Autor ist sehr vorsichtig, wenn es darum geht, aus Befunden über den Leseprozess Schlüsse zu ziehen über die Verständlichkeit und das Verstehen. Seine empirischen Ergebnisse sagen etwas aus über den Leseprozess, ob dieser schnell oder langsam abläuft, mit Unterbrüchen, mit Zurückspringen und so weiter. Rückschlüsse auf das effektive Verstehen sind hingegen heikel. Wolfer: «Wenn ein Text langsamer gelesen wird, heisst das nicht gleichzeitig, dass er weniger verständlich ist.» Es gibt sogar Indizien, dass es manchmal umgekehrt sein könnte: «Je länger eine fragenrelevante Textstelle gelesen wird, desto eher wird die dazugehörige Frage korrekt beantwortet.» Was langsam gelesen wird, scheint (aufgrund der Antworten auf Fragen) auch besser verstanden worden zu sein. Oder man findet Folgendes: Kürzere Sätze werden tendenziell schneller gelesen. Eine zu starke Zerstückelung führt jedoch auch dazu, dass die Augen öfter zurückwandern, was ein Indiz dafür ist, dass mehr Aufwand für die Herstellung von Koreferenz (Auflösung von Anaphern) betrieben werden muss.
Markus Nussbaumer, Bundeskanzlei
- 1 Der Autor Sascha Wolfer hat an der wissenschaftlichen Tagung 2017 des Zentrums für Rechtsetzungslehre an der Universität Zürich zur «Guten Gesetzessprache» einen Workshop geleitet, in dem er seine Fragestellung und Methode auf rechtsetzende Texte anzuwenden versuchte; vgl. dazu den Tagungsbericht in LeGes 3/2017, S. 549 ff. sowie den Tagungsband: Felix Uhlmann (Hrsg.), Gute Gesetzessprache als Herausforderung für die Rechtsetzung. Zürich / St. Gallen (Dike) (erscheint 2018).