I.
Ausgangslage und Problemstellung ^
Eigenschaften und Präferenzen einzelner Richter und Richterinnen können den Ausgang eines Gerichtsverfahrens beeinflussen.1 Es ist daher von erheblicher Relevanz, dass für die Bildung des Spruchkörpers klare Vorgaben und taugliche Mechanismen bestehen.
Ein möglicher Mechanismus ist die softwarebasierte Zusammenstellung des Spruchkörpers aus der Gesamtheit der am Gericht bzw. in einer Gerichtsabteilung tätigen Richterinnen und Richter. Softwarebasierte Mechanismen zur Besetzung des Spruchkörpers bestehen unter anderem in den USA an den Federal Courts of Appeal2 und in der Schweiz am Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesgericht (Informatiksystem CompCour) sowie an den kantonalen Gerichten in Graubünden und Neuchâtel3. Die Verwendung einer Fallzuteilungssoftware hat grundsätzlich zwei Vorteile: Erstens ist ein Automatismus geradezu prädestiniert, um Spruchkörper konsequent anhand von im Voraus definierten Regeln zu besetzen. Zweitens ermöglichen softwarebasierte Lösungen eine lückenlose Dokumentation der Spruchkörperbildung. Beide Aspekte dienen der Transparenz und sind damit geeignet, das Vertrauen in die Justiz zu stärken.
Obwohl Softwarelösungen an mehreren Schweizer Gerichten eingesetzt werden, ist über deren Funktionsweise und Handhabung nur wenig bekannt, sodass die Öffentlichkeit die Spruchkörperbildung auch an Gerichten mit Softwarelösungen nur mangelhaft nachvollziehen kann. Dies unterminiert den potenziellen Nutzen von Softwarelösungen bei der Fallzuteilung, weshalb sich unlängst auch die Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrats und des Ständerates – basierend auf einem Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle – mit der Herausforderung der Spruchkörperbildung bei den eidgenössischen Gerichten befasst haben.4
II.
Zielsetzung, Fragestellung und Vorgehen ^
Die vorliegende Studie will erstmals die rechtlichen und konzeptionellen Grundlagen einer softwarebasierten Spruchkörperbildung und deren Umsetzung an einem grossen nationalen Gericht interdisziplinär und empirisch untersuchen und daraus verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse für die automatisierte Spruchkörperbildung ableiten.
Als Untersuchungsgegenstand dient die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht, welches seit seiner Gründung in allen Abteilungen eine Fallzuteilungssoftware einsetzt und damit eine eigentliche Pionierstellung innehat. Anlässlich von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts5 und des Bundesgerichts6 hat sich indessen gezeigt, dass die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht nicht wie angenommen durchwegs automatisiert erfolgt,7 sondern in nicht wenigen Fällen manuell eingegriffen bzw. übersteuert8 wurde. Da die Fallzuteilungssoftware des Bundesverwaltungsgerichts die Daten zur Spruchkörperbildung umfassend archiviert, kann die Funktionsweise der Software und ihre Handhabung detailliert untersucht werden.
Vor diesem Hintergrund adressiert die vorliegende Untersuchung die folgenden Forschungsfragen:
- Welches sind die rechtlichen Anforderungen an die Spruchkörperbildung im Allgemeinen?
- Entsprechen die am Bundesverwaltungsgericht geltenden Reglemente, der bestehende Mechanismus der Spruchkörperbildung und dessen Handhabung diesen Anforderungen?
- Welche allgemeinen Erkenntnisse für die Ausgestaltung der Spruchkörperbildung lassen sich daraus ableiten?
Zunächst wird überblicksweise die verfassungs- und internationalrechtlichen Anforderungen an die Spruchkörperbildung aufgezeigt und anschliessend werden in einer Fallstudie die subkonstitutionellen Rechtsgrundlagen für die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht dargestellt. In einem weiteren Schritt wird der Mechanismus der softwarebasierten Spruchkörperbildung beschrieben und dessen Umsetzung empirisch anhand von Protokolldaten der eingesetzten Fallzuteilungssoftware untersucht. Die Untersuchung umfasst den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2008 und dem 31. Dezember 2018, wobei die Protokolldaten der Fallzuteilungssoftware mit rund 50’000 maschinell ausgelesenen Gerichtsurteilen verknüpft werden. Aufgrund der daraus gewonnenen Erkenntnisse wird schliesslich das Optimierungspotenzial für die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht ausgelotet und werden allgemeine Erkenntnisse für die Spruchkörperbildung an Gerichten abgeleitet.
I.
Überblick ^
Die für alle Gerichte geltenden Mindestgrundsätze der Spruchköperbildung sind im Verfassungsrecht und im Völkerrecht angelegt. Sie folgen aus dem justiziablen Anspruch der Verfahrensparteien auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMKR). Das Bundesgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) haben in den letzten Jahren zahlreiche Urteile zu den Anforderungen an die Bildung des Spruchkörpers in gerichtlichen Verfahren gefällt und die verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Vorgaben konkretisiert, teilweise auch unter Berücksichtigung von Soft Law-Empfehlungen des Europarats.9 Der – allerdings stark kasuistischen und auch nicht in allen Punkten einheitlichen – Praxis lassen sich gewisse Anforderungen an die normative Grundlage, die Zuständigkeit, die zulässigen Gründe für die Besetzung sowie ansatzweise auch Regeln bezüglich Transparenz entnehmen. Sie wird im Folgenden überblicksweise dargestellt, wobei sich diese Studie auf die Eckpunkte beschränkt.10
II.
Normative Grundlage ^
Das Bundesgericht lässt sich bei seiner Rechtsprechung zur Spruchkörperbesetzung vom Grundsatz leiten, dass die Rechtsprechung «nicht durch eine gezielte Auswahl der Richterinnen und Richter im Einzelfall beeinflusst werden» darf.11 Das Bundesgericht erachtet als ausreichend, dass für die Spruchkörperbildung im Voraus abstrakte Kriterien definiert werden. Ob eine geschriebene generell-abstrakte Normierung der Spruchkörperbesetzung verlangt ist oder nicht, steht aufgrund der widersprüchlichen und uneinheitlichen Praxis nicht abschliessend fest. Im jüngsten amtlich publizierten Urteil hat das Bundesgericht eine generell-abstrakte Regelung als wünschbar angesehen, erachtet eine gefestigte Praxis indessen als genügend.12 Enthält das massgebliche Verfahrensrecht keine oder nur lückenhafte Regeln, muss die Spruchkörperbestimmung gemäss Bundesgericht durch den Vorsitzenden oder die Vorsitzende im Einzelfall, aber nach pflichtgemässem Ermessen und unter Beachtung von objektiven, ex ante feststehenden Kriterien erfolgen.13
Strenger ist die Praxis des EGMR: Sowohl die Zuständigkeit des Gerichts als auch der zur Entscheidung berufene Spruchkörper müssen auf einer generell-abstrakten Grundlage beruhen.14 Geht es um die Besetzung des Spruchkörpers, belässt der Gerichtshof den Staaten allerdings ein breites Ermessen. Der Gerichtshof prüft nicht, ob die nationalen Behörden triftige Gründe hatten, einen Fall einem bestimmten Richter oder Gericht zuzuweisen, wohl aber, ob eine Zuweisung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und insbesondere mit dessen Anforderungen an objektive Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vereinbar war.15 Art. 6 Ziff. 1 EMRK zeigt sich jedenfalls dann verletzt, wenn spezifische Vorschriften des nationalen Rechts über die Zusammensetzung des Spruchkörpers missachtet worden sind.16 Die Lehre versteht diese Vorgaben dahingehend, dass die Zusammensetzung des Spruchkörpers zumindest generell-abstrakt normiert (und damit vorhersehbar) sein muss und im konkreten Einzelfall aufgrund der entsprechenden Vorgaben erfolgt.17
III.
Zuständigkeit ^
Von Beginn weg unzulässig ist die Zusammensetzung des Spruchkörpers durch Exekutivbehörden.18 Davon abgesehen, belässt die Praxis den Gerichten bei der Spruchkörperbesetzung ein gewisses Ermessen. Die Zuteilung muss grundsätzlich durch das Gericht selber und dabei durch eine Richterin oder einen Richter erfolgen. Eine gerichtsinterne Delegation der Aufgabe – zum Beispiel an die Gerichtskanzlei oder an eine Gerichtsschreiberin – ist gemäss Bundesgericht einzig dann erlaubt, wenn die Zuteilung nach starren Kriterien erfolgt und keinerlei Spielraum offenlässt; räumt die gesetzliche Normierung hingegen Ermessen ein, so ist dessen Ausübung einem Richter oder einer Richterin als unabhängigem, nicht weisungsgebundenen Organ vorbehalten.19 Die Automatisierung der Spruchkörperbesetzung durch den Einsatz von Computerprogrammen ist verfassungsrechtlich zulässig, aber nicht verlangt: das Bundesgericht erachtet den Einsatz solcher Programme zur Objektivierung der Fallzuteilung indessen als wünschbar.20
IV.
Sachliche, im Voraus feststehende Kriterien ^
Nach dem Gesagten muss die Besetzung des Spruchkörpers auf vorgängig («ex ante») feststehenden, sachlichen («objektiven») Kriterien beruhen. Unsachlich und damit unzulässig sind Motive, die dazu dienen, einen bestimmten Spruchkörper im Einzelfall zu manipulieren und damit den gewünschten Verfahrensausgang herbeizuführen.21 Sachliche Kriterien (Gründe22) liegen gemäss bundesgerichtlicher Praxis vor, wenn der Besetzung vernünftige Überlegungen zugrunde liegen, die dem Anliegen einer korrekten Verfahrensführung und einer sach- und zeitgerechten Fallerledigung dienen.23 Damit eröffnen sich für die mit der Fallzuteilung befassten Behörden und Personen erhebliche Ermessensspielräume.24 Neben rein sachlichen Anknüpfungspunkten wie etwa der Verfahrensnummer erachtet die Praxis auch verfahrensökonomische Gesichtspunkte sowie Kriterien als zulässig, die in der Person der Richterin oder des Richters begründet sind; genannt werden etwa die Arbeitsbelastung, die Zuweisung zusammenhängender Verfahren an denselben Spruchkörper, die Berücksichtigung der Muttersprache, krankheitsbedingte Ausfälle, die parteipolitische Ausgewogenheit oder das Bestehen von Ausstandsgründen.25
V.
Nachträglich vorgenommene Eingriffe ^
Nachträglich («ex post») vorgenommene Veränderungen eines bestehenden Spruchkörpers erwecken den Anschein der Manipulation und sind deshalb nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Gemäss bundesgerichtlicher Praxis ist nicht ausgeschlossen, die Zusammensetzung des Spruchkörpers im Verlauf des Verfahrens zu ändern, doch müssen dafür hinreichende sachliche Gründe bestehen, welche transparent aufgezeichnet und der Aufsichtsbehörde auf Aufforderung hin offengelegt werden können.26 Nicht abschliessend geklärt ist die Frage, ob die gerichtliche Praxis die nachträgliche Umbesetzung an strengere Voraussetzungen bindet als die ursprüngliche Besetzung. Die vom Bundesgericht genannten Konstellationen legen eine solche Wertung nahe.27 Demnach kommt eine nachträgliche Änderung der ursprünglichen Besetzung etwa in Betracht, wenn ein Richter aus Altersgründen aus dem Gericht ausscheidet oder wegen einer länger dauernden Krankheit an der Ausübung des Amtes gehindert ist.28 Es kann sich mithin nur um Gründe handeln, die nicht schon bei der erstmaligen Besetzung bestanden, sondern nur um solche, eine nachträgliche Umbesetzung unumgänglich machen.29 Aus der bundesgerichtlichen Praxis wird nicht klar, ob die Gründe, die eine nachträgliche Besetzung rechtfertigen können, ebenfalls im Voraus definiert und generell-abstrakt umschrieben sein müssen. Dass unvorhergesehene Vorgänge wie Todesfälle, Unfälle oder schwere, länger dauernde Erkrankungen eine Umbesetzung rechtfertigen, liegt auf der Hand; mit Blick auf die eingangs erwähnten Manipulationsmöglichkeiten erscheint indessen eine generell-abstrakte Regelung sachgerecht.
1.
Verwaltungsgerichtsgesetz und Geschäftsreglement ^
Die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht wird im Verwaltungsgerichtsgesetz im Sinne einer Delegationsnorm geregelt: «Das Bundesverwaltungsgericht regelt die Verteilung der Geschäfte auf die Abteilungen sowie die Bildung der Spruchkörper durch Reglement.» (Art. 24 VGG). Das Geschäftsreglement führt diese Bestimmung aus und legt in Art. 31 VGR (Marginalie «Geschäftsverteilung») fest, dass die Kammerpräsidenten und Kammerpräsidentinnen (sofern sie die Verfahrensleitung nicht selbst übernehmen) die Geschäfte einem Richter oder einer Richterin zur Prozessinstruktion und Fallerledigung zuteilen (Art. 31 Abs. 2 i.V.m. Art. 25 Abs. 5 Bst. a VGR). Ein Verzicht auf die Bildung von Kammern bedarf der Genehmigung durch die Verwaltungskommission (Art. 25 Abs. 1 VGR). Art. 31 Abs. 3 VGR konkretisiert dies wie folgt: «Die Zuteilung der Geschäfte nach Absatz 2 erfolgt nach einem von den Abteilungen im Voraus festgelegten Schlüssel. Dieser ist der Verwaltungskommission zur Genehmigung vorzulegen. Massgebend für den Schlüssel ist die Reihenfolge der Geschäftseingänge. Angemessen zu berücksichtigen sind ferner die Amtssprachen und der Beschäftigungsgrad der Richter und Richterinnen, deren Belastung durch die Mitarbeit in Gerichtsgremien und allfällige weitere Kriterien wie spezifische Kammerzuständigkeiten oder die Vorbefassung von Richtern oder Richterinnen.» Nicht genannt werden hingegen gemäss Praxis möglichen Kriterien wie beispielsweise die Abwesenheit, das Fallgewicht, die Parteizugehörigkeit oder auch das Geschlecht der mitwirkenden Richterpersonen. Die Bestimmung über die Zuteilung der Geschäfte ist auch wesentlich für die Bildung der Spruchkörper, bestimmt doch Art. 32 VGR (Marginalie «Bildung der Spruchkörper») in Absatz 1 Folgendes (siehe zur diesbezüglichen Zuständigkeit des Kammerpräsidenten oder der Kammerpräsidentin auch bereits Art. 25 Abs. 5 Bst. b VGR): «Steht fest, dass das Geschäft nicht in die Kompetenz eines Einzelrichters oder einer Einzelrichterin fällt, so bezeichnet der Kammerpräsident oder die Kammerpräsidentin das zweite und dritte Mitglied des Spruchkörpers. Art. 31 Absatz 3 ist sinngemäss anwendbar.» Die Regelung äussert sich nicht zu den Gründen, die eine ausnahmsweise Abweichung von den Grundsätzen der Spruchkörperbildung zulassen. Ebenso wenig unterscheiden sie zwischen anfänglicher (ex ante) und nachträglicher (ex post) Spruchkörperbildung.
2.
Abteilungsreglemente ^
Die Abteilungen legen dementsprechend das Nähere zur Geschäftsverteilung bzw. Spruchkörperbildung in ihren Reglementen fest. Überdies bestehen Anleitungen für die Richterzuteilung, wie beispielsweise die Anleitung zur Richterzuteilung für Kanzleimitarbeitende der Abteilung IV. Die Normanalyse der uns vom Bundesverwaltungsgericht zugestellten Abteilungsreglemente ergibt Folgendes:
- Das Reglement der Abteilung I enthält in Art. 16 (Marginalie «Bestimmung des Spruchkörpers») folgende Regelung (Abs. 1): «Die Besetzung wird, begründete Ausnahmen vorbehalten, mit dem elektronischen Geschäftszuteilungsprogramm des Gerichts automatisch ermittelt.» Bezüglich der Ausnahmen wird wie folgt präzisiert (Abs. 2): «Änderungen bei der Besetzung sind nur aus wichtigen Gründen zulässig, insbesondere zum Geschäftslastausgleich.» Für die Bestimmung des Spruchkörpers ist die Kammerpräsidentin oder der Kammerpräsident zuständig (vgl. Art. 16 Abs. 3 [ausdrücklich zur Fünferbesetzung]).
- Das Reglement der Abteilung II bestimmt in Art. 3 (Marginalie «Fallzuteilung») Folgendes (Abs. 1): «Das Abteilungspräsidium (Artikel 7) teilt die neu eingehenden Fälle den Richtern und Richterinnen grundsätzlich nach dem Zufallsprinzip entsprechend den Gebietszuständigkeiten der Fachgebiete gemäss Artikel 2 zu. Die Sprache und der Beschäftigungsgrad der Richter und Richterinnen sind dabei angemessen zu berücksichtigen. Als Hilfsmittel dient die Fallzuteilungssoftware des Bundesverwaltungsgerichts.» Bezüglich der Ausnahmen wird wie folgt präzisiert (Abs. 2): «Vom Zufallsprinzip kann ausnahmsweise abgewichen werden: a. wenn es sich um zusammenhängende Fälle handelt; b. wenn ein Fall Spezialkenntnisse erfordert; c. wenn ein Mitglied des Spruchkörpers in den Ausstand treten muss; d. wenn die Belastungssituation es erfordert; e. wenn andere wichtige Gründe, insbesondere längere Abwesenheit oder besondere Dringlichkeit, vorliegen.» In Absatz 3 wird ausgeführt, dass eine Zuteilung gleichartiger Fälle an einen Richter oder eine Richterin zu einer Entlastung im Sinne der Fallzuteilungssoftware führen kann. Absatz 4 bestimmt das Nähere zur ausnahmsweisen Abweichung: «Deaktivierungen im Fallzuteilungssystem erfolgen auf Gesuch des betroffenen Richters bzw. der betroffenen Richterin. Ist dieser oder diese an der Gesuchstellung verhindert, entscheidet das Abteilungspräsidium von Amtes wegen. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Deaktivierung entscheidet das Abteilungsplenum.» Gemäss Art. 3 Abs. 8 führt die Abteilung eine Fallgewichtung ein. Für die Bestimmung des Spruchkörpers ist die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident zuständig (Art. 7 Abs. 1 Bst. c).
- Im Reglement der Abteilung III findet sich in Art. 10 (Marginalie «Zuteilung der Geschäfte») folgende Regelung (Abs. 1): «Der Abteilungspräsident oder die Abteilungspräsidentin weist die Geschäfte den Richtern und Richterinnen zu. Die Bestimmung des Spruchkörpers erfolgt gestützt auf ein elektronisches Geschäftszuteilungsprogramm des Gerichtes. Der Zuteilungsschlüssel berücksichtigt die Kriterien nach Art. 31 Abs. 3 VGR. Ausnahmen sind insbesondere in Berücksichtigung der Konnexität der Fälle, der Auslastung und des Ausstands möglich.» Ob die Zuteilung automatisch oder nach dem Zufallsprinzip erfolgt, wird nicht näher bestimmt. Gemäss Abs. 5 sind Änderungen bei der Besetzung des Spruchkörpers aus wichtigen Gründen möglich, wobei die Parteien zu informieren sind, wenn der Spruchkörper bereits bekannt gegeben worden ist. Bezüglich der Festlegung des Spruchkörpers ist gemäss dieser Bestimmung die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident zuständig.
- Für die Bestimmung des Spruchkörpers ist gemäss Reglement der Abteilung IV die Kammerpräsidentin oder der Kammerpräsident zuständig (Art. 8 Abs. 2 Bst. d). Zum Mechanismus der Spruchkörperbildung äussert sich das Reglement nicht. Einem ähnlichen Ansatz folgt das Reglement der Abteilung V (die Zuständigkeit für die Spruchkörperbildung ist in Art. 8 Abs. 2 Bst. e geregelt). Diese beiden Abteilungen haben indessen ihre Zusammenarbeit in einem besonderen Reglement (ZASAR) umschrieben, das sich in Art. 10 unter anderem zur Bildung des Spruchkörpers äussert (Abs. 1): «Die übrigen Mitglieder des Spruchkörpers werden in der Regel nach Fertigstellung des Entwurfs nach Zufallsprinzip anhand eines im Voraus festgelegten Schlüssels und mit Hilfe eines EDV-gestützten automatisierten Zuteilungssystems bestimmt.» In Absatz 3 wird dabei präzisiert, dass in Fällen, welche in Dreierbesetzung zu beurteilen sind, das zweite Mitglied des Spruchkörpers nach Zufallsprinzip des in Absatz 1 genannten Schlüssels aus einer der Asylabteilungen bestellt wird und das dritte Mitglied aus der Abteilung der Instruktionsrichterin oder des Instruktionsrichters stammen muss. Absatz 2 sieht (mit Verweis auf Art. 8 betreffend Geschäftsverteilung) verschiedene Abweichungen vom Zufallsprinzip vor (abschliessende Aufzählung): enger Sachzusammenhang, Beschwerdeverfahren nach zuvor erfolgter Kassation, Revisionsgesuch, Verfahren betreffend bestimmte Herkunftsländer sowie Dringlichkeit. Art. 11 ZASAR bestimmt Näheres zur sprachlichen Zusammensetzung und Art. 12 ZASAR regelt die Ersetzung abwesender Mitglieder des Spruchkörpers.
- Das Reglement der Abteilung VI bestimmt in Art. 8 (Marginalie «Zuteilung der Geschäfte») Folgendes (Abs. 1): «Die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident weist die Geschäfte den Richterinnen oder den Richtern zu. Die Bestimmung des Spruchkörpers erfolgt grundsätzlich automatisiert mit dem vom Bundesverwaltungsgericht zur Verfügung gestellten Zufallsgenerator.» Bezüglich der Ausnahmen vom Grundsatz wird wie folgt präzisiert (Abs. 4): «Aus wichtigen Gründen kann eine Änderung des Spruchkörpers vorgenommen werden.» Bezüglich der Festlegung des Spruchkörpers ist gemäss dieser Bestimmung die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident zuständig.
3.
Ergebnisse ^
Im Quervergleich der verschiedenen Abteilungsreglemente ist in formeller Hinsicht einerseits hervorzuheben, dass mit den entsprechenden Regelungen die Spruchkörperbildung generell-abstrakt umschrieben wird, wobei der Regelungsinhalt und die Regelungsdichte unterschiedlich ausfallen. Anderseits werden sämtliche Reglemente als intern bezeichnet, was der gebotenen Voraussehbarkeit bzw. Transparenz der Spruchkörperbildung nicht entspricht.
In materieller Hinsicht fällt auf, dass zwar sämtliche Regelungen von einem softwarebasierten Fallzuteilungsmechanismus ausgehen, aber teilweise von Automatismus, teilweise vom Zufallsprinzip und teilweise bloss von einem elektronischen Programm die Rede ist. Lediglich in einem Reglement (Abteilung II) wird darauf hingewiesen, dass es sich der Fallzuteilungssoftware um ein Hilfsmittel handle und eine Fallgewichtung eingeführt werde. Unterschiedlich bzw. unterschiedlich dicht geregelt ist ferner, nach welchen Kriterien die Spruchkörperbildung erfolgt bzw. aus welchen Gründen (teils namentliche, teils abschliessende Aufzählung) ausnahmsweise vom elektronischen Fallzuteilungsmechanismus abgewichen werden kann oder muss. Diese Unterschiede sind womöglich vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Bestimmung des im Voraus festzulegenden Schlüssels gemäss Art. 31 Abs. 3 VGR in die Zuständigkeit der Abteilungen fällt und es mithin an einer Rechtsgrundlage für einen einheitlichen, für alle Abteilungen geltenden Fallzuteilungsmechanismus fehlt. In keinem der Reglemente wird ferner eine Unterscheidung zwischen anfänglicher (ex ante) und nachträglicher (ex post) Spruchkörperbildung getroffen. Auffällig ist die unterschiedliche Zuständigkeit für die Spruchkörperbildung (Kammerpräsidium bei den Abteilungen I, IV und V; Abteilungspräsidium bei den Abteilungen II, III und VI) im Vergleich zur an sich klaren Zuweisung dieser Kompetenz an die Kammerpräsidien im Gerichtsreglement (Art. 25 Abs. 5 Bst. a und b, Art. 31 Abs. 2, Art. 32 Abs. 1 VGR; ein Vorbehalt von Art. 25 Abs. 1 VGR fehlt in diesen Bestimmungen).
1.
Grundsatz ^
Die Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht erfolgt grundsätzlich automatisiert.30 Dafür wird eine Fallzuteilungssoftware eingesetzt, die gemeinhin – auf den Nachnamen des ersten Bundesverwaltungsgerichtspräsidenten Christoph Bandli anspielend – als «Bandlimat» bezeichnet wird. Daneben besteht ein für die Geschäftskontrolle eingesetztes Dossierverwaltungssystem («Juris»). Die Synchronisierung der in der Fallzuteilungssoftware generierten Spruchkörper mit dem Dossierverwaltungssystem erfolgt über eine elektronische Schnittstelle.
Abbildung 1: Prozessdiagramm zur Dossierverwaltung und Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht.
Bemerkung: Bei den als Zylinder dargestellten Elementen handelt es sich um Datenbanken, welche u.a. als Grundlage für die empirische Analyse in dieser Studie dienen.
Quelle: Eigene Darstellung anhand des Handbuchs zur Fallzuteilungssoftware sowie des Handbuchs zur Schnittstelle zwischen Fallzuteilungssoftware und Dossierverwaltungssystem.
Die Abläufe in der Dossierverwaltung und der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht sind in Abbildung 1 als Prozessdiagramm visualisiert.31 Vereinfacht gesprochen, lässt sich der Ablauf der Spruchkörperbildung in drei Schritte unterteilen: In einem ersten Schritt müssen im System die Richterprofile (Richterkonfiguration) und in einem zweiten Schritt die Dossiermerkmale (Dossierkonfiguration) eingestellt werden, bevor in einem dritten Schritt die softwarebasierte Spruchkörperbesetzung erfolgt. Zur Veranschaulichung werden diese drei Schritte im Folgenden anhand einer fiktiven Beispielbeschwerde zur Mehrwertsteuer erläutert.
2.
Richterkonfiguration ^
Die Richterkonfiguration erfolgt über die grafische Bedienoberfläche der Fallzuteilungssoftware. Sie umfasst in allen Abteilungen die Arbeitssprachen der Richter und deren vorgesehene Auslastung auf der Instruktions- sowie der Mitrichterposition.32 In einigen Abteilungen kommen weitere Attribute wie Fachgebiete hinzu (für eine Auflistung nach Abteilung und Kammer siehe Tabelle A1.1 im Anhang). Des Weiteren können Richter und Richterinnen in der Fallzuteilungssoftware temporär oder permanent von der Spruchkörperbesetzung ausgenommen (sogenannt «deaktiviert») werden. Die entsprechenden Einstellungen sind jederzeit anpassbar und werden laufend in einer Datenbank zur Historie der Richterkonfiguration protokolliert.
3.
Dossierkonfiguration ^
Alle neuen Dossiers werden zunächst im Dossierverwaltungssystem mit einer Identifikationsnummer erfasst und gemäss Geschäftsreglement einer bestimmten Abteilung zugeordnet. Bei der fiktiven Beispielbeschwerde zur Mehrwertsteuer ist Abteilung I Kammer 2 für die Rechtsprechung zuständig (Art. 23 Abs. 1 VGR, Art. 1 Abs. 1 und Anhang des Reglements der Abteilung I).
Nach der Zuteilung eines Dossiers an eine Abteilung erfolgt dessen Konfiguration über die grafische Bedienoberfläche der Fallzuteilungssoftware. Dafür wird zuerst die Dossiernummer aus dem Dossierverwaltungssystem in der Fallzuteilungssoftware registriert. Anschliessend müssen die Attribute des Dossiers erfasst werden. Diese umfassen die Dossiersprache (D, F, I) und gegebenenfalls ein weiteres Kriterium, welches zwischen den Abteilungen variiert (siehe Tabelle A1.1 im Anhang). Bei Dossiers der Abteilung I Kammer 2 kann neben der Dossiersprache das Rechtsgebiet spezifiziert werden. Bei der fiktiven Beispielbeschwerde wird im Zuge der Erfassung mit der Fallzuteilungssoftware die Dossiersprache auf «Italienisch» und das Rechtsgebiet auf «Mehrwertsteuer» konfiguriert. Zudem kann die Dossiergewichtung (synonym für Fallgewichtung) von der Standardeinstellung 1 bis zum Wert 10 erhöht werden, um den zu erwartenden relativen Arbeitsaufwand abzubilden.
Die Angaben zu den vier genannten Dossiereigenschaften, also (i) Identifikationsnummer, (ii) Dossiersprache, (iii) zweites Dossierkriterium (je nach Abteilung und Kammer unterschiedlich) sowie (iv) Dossiergewichtung werden in einer weiteren Datenbank, der Historie der Dossierkonfigurationen, abgespeichert.
4.
Spruchkörperbildung ^
Nach der Konfigurierung der Richterinnen und Richter und jener des Dossiers erfolgt die eigentliche Spruchkörperbildung. Dafür stellt die Fallzuteilungssoftware für jede Spruchkörperposition zwei Besetzungsvarianten zur Auswahl, nämlich die automatische oder die manuelle Besetzung.33
Für die automatische Besetzung einer Position ist im Dropdown-Menü für die entsprechende Position «generieren» zu wählen. Werden alle drei Richterposition «generiert», also automatisch besetzt, funktioniert der Besetzungsalgorithmus wie folgt: Zuerst gleicht die Fallzuteilungssoftware die in den jeweiligen Datenbanken gespeicherten Dossier- und Richterkonfigurationen ab und behält nur jene Richterpersonen, bei denen die Attribute so konfiguriert sind, dass sie mit den Kriterien des Dossiers vereinbar sind. In der Beispielbeschwerde verbleiben also nur Richterinnen und Richter, bei denen auf der Instruktions- und/oder Mitrichterposition das Rechtsgebiet «Mehrwehrsteuer» sowie die Sprache «Italienisch» aktiviert sind. Nach dieser Vorauswahl besetzt der Algorithmus den Spruchkörper mit jenem Richtertripel, welches aktuell den tiefsten kombinierten Kontostand ausweist.34 Die Kontostände bilden die anhand des relativen Pensums normalisierte historische Geschäftslast der einzelnen Richterinnen und Richter ab und werden in der Datenbank zur Historie der richterlichen Kontostände protokolliert. Folglich besetzt die Fallzuteilungssoftware die Spruchkörper mit dem primären Ziel, eine möglichst ausgeglichene Geschäftslastverteilung unter den Richterinnen und Richtern zu erreichen; dabei berücksichtigt die Software die genannten Dossierkriterien (bei der Beispielbeschwerde Sprache und Rechtsgebiet), die relativen Pensen der Richterinnen und Richter sowie deren historische Geschäftslast.35 Die zum Zeitpunkt der Softwarebedienung bestehenden Pendenzen der Richterinnen und Richter werden vom Zuteilungsalgorithmus nicht einkalkuliert.
Bei der manuellen Besetzung einer Richterposition wird das entsprechende Richterkürzel aus einem Dropdown-Menü für die jeweilige Position ausgewählt; die Gründe für die manuelle Besetzung sind in einem Kommentarfeld einzutragen.
Der aus der automatischen bzw. manuellen Besetzung resultierende Spruchkörper, die Besetzungsart sowie allfällige Gründe für eine manuelle Besetzung werden in einer Datenbank zur Spruchkörperhistorie protokolliert und die Kontostände, welche die gewichtete Geschäftslastverteilung zwischen den Richterinnen und Richter über die Zeit dokumentieren, entsprechend der Spruchkörperbesetzung aktualisiert. Der Spruchkörper wird anschliessend über eine Schnittstelle im Dossierverwaltungssystem eingetragen und das Dossier zur Beurteilung an die Instruktionsrichterin oder den Instruktionsrichter weitergeleitet.
Es ist während der materiellen Dossierbearbeitung jederzeit möglich, eine oder mehrere Positionen des Spruchkörpers in der Fallzuteilungssoftware nachträglich umzubesetzen. Dabei stehen wiederum die beiden Besetzungsvarianten zur Verfügung und der Ablauf gestaltet sich äquivalent zur Erstbesetzung. Sowohl bei automatisierten wie bei manuellen Umbesetzungen ist der Eingriffsgrund im Kommentarfeld anzugeben. Nach einer Umbesetzung mit der Fallzuteilungssoftware werden der neue Spruchkörper sowie die Besetzungsart und die angegebene Begründung in der Datenbank zur Spruchkörperhistorie protokolliert. Ausserdem wird die Gutschrift im Kontostand der ursprünglich vorgesehenen Richterinnen und Richter rückgebucht und auf die Richterinnen und Richtern des neuen Spruchkörpers übertragen.
Schliesslich besteht auch die Möglichkeit, den Spruchkörper manuell direkt im Dossierverwaltungssystem, das heisst ohne Beizug der Fallzuteilungssoftware, zu ändern. Hierbei werden allerdings keine Informationen an die Fallzuteilungssoftware und ihre Datenbanken übertragen, so dass bei dieser Variante der Spruchkörper im Dossierverwaltungssystem von demjenigen in der Fallzuteilungssoftware abweicht.
5.
Ergebnisse ^
Es fällt auf, dass die Fallzuteilungssoftware primär darauf abzielt, eine langfristig ausgeglichene Geschäftslast zwischen den Richterinnen und Richtern zu erzielen, während die gegenwärtige Auslastung der Richterinnen und Richter unberücksichtigt bleibt. Des Weiteren ermöglicht das System neben der Geschäftslast nur zwei weitere Zuteilungskriterien pro Dossier, obwohl die Reglemente weitere Gründe für ein Abweichen von einer rein automatischen Spruchkörperbildung vorsehen und eine Umsetzung technisch grundsätzlich möglich wäre.36 Zudem kann die Fallzuteilungssoftware umgangen und Spruchkörper direkt im Dossierverwaltungssystem geändert werden. Eine Umgehung hat zur Folge, dass die Software Änderungen in der Fallzuteilung nicht protokolliert und somit die tatsächlichen Arbeitslasten nicht in der relevanten Datenbank abgespeichert werden. Bei manuellen Umbesetzungen muss zwar eine Begründung in ein Kommentarfeld eingetragen werden, das System akzeptiert aber eine beliebige Begründung; das Kommentarfeld kann mithin «frei» ausgefüllt werden, die Nennung spezifischer Gründe ist nicht erforderlich. Des Weiteren lässt die Fallzuteilungssoftware keine direkten statistischen Auswertungen zur Handhabung der Spruchkörperbildung zu, was eine transparente Berichterstattung faktisch verunmöglicht.
1.
Methodik der empirischen Analyse ^
Um die Handhabung der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht im Detail nachvollziehen zu können, wurden die Protokolldaten zur Nutzung der Fallzuteilungssoftware mit maschinell ausgelesenen Informationen aus der öffentlich zugänglich Entscheiddatenbank des Bundesverwaltungsgerichts verknüpft und analysiert.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Informationen aus drei Datenbanken der Fallzuteilungssoftware zur Verfügung gestellt: (i) Die Historie zu sämtlichen Spruchkörpern seit Gründung des Gerichts im Jahr 2007, (ii) die Historie zur Konfiguration sämtlicher Dossiers seit 2007 sowie (iii) die Historie der Richterkonfigurationen seit 2007.
Für den in diesem Beitrag gewählten Untersuchungszeitraum zwischen dem 1. Januar 2008 und dem 31. Dezember 2018 umfassen die zur Verfügung gestellten Datenbanken detaillierte Informationen zur Spruchkörperbildung bei 88’484 Dossiers. Nach der Bereinigung des Datensatzes von stornierten Dossiers (5.9%), Dossiers mit Fünfer-Spruchkörpern (0.5%) und Dossiers mit Tippfehlern im Identifikationskürzel (0.1%) verbleiben 82’764 Dossiers im Datensatz; die Tabelle A2.1 im Anhang dokumentiert diese Bereinigungsschritte.
Zur Ergänzung der Daten aus der Fallzuteilungssoftware wurden im Rahmen dieser Studie sämtliche Urteile aus der öffentlich zugänglichen Entscheiddatenbank als pdf-Datei heruntergeladen und anschliessend die Deckblätter maschinell erfasst. Der Fokus lag dabei auf der korrekten Auslesung des auf dem Deckblatt des Urteils abgedruckten Spruchkörpers sowie der Dossiernummer. Die auf den publizierten Entscheiden genannten Spruchkörper dienen als Referenz für die tatsächliche Zusammensetzung des Spruchkörpers bei der Urteilsfindung. In den Untersuchungszeitraum zwischen 2008 und 2018 fallen insgesamt 49’685 materielle Entscheide, wobei nach den in Tabelle A2.2 im Anhang dokumentierten Bereinigungsschritten 47’864 (96.3%) publizierte Urteile im Datensatz verbleiben.
Nach der Bereinigung der Datensätze aus der Fallzuteilungssoftware sowie der Entscheiddatenbank wurden die vorhandenen Informationen über die Identifikationsnummer der Dossiers verknüpft (siehe dazu Tabelle A2.3 im Anhang). Von den 47’864 bereinigten Urteilen aus der Entscheiddatenbank konnten 47’291 Urteile (98.9%) erfolgreich mit den Dossiers aus der Fallzuteilungssoftware verknüpft werden; für 35’473 Dossiers aus der Fallzuteilungssoftware lag kein online publizierter Entscheid vor, da zu diesen Dossiers nur Prozessentscheide gefällt wurden.37 Die insgesamt 47’291 bereinigten und erfolgreich verknüpften materiellen Entscheide bilden die Grundgesamtheit der folgenden Analysen zur Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht zwischen Januar 2008 und Dezember 2018.
Anhand dieser Datengrundlage lässt sich die Praxis der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht nachvollziehen. Für diese Studie von besonderem Interesse ist die Frage, wie häufig die auf den publizierten Urteilen genannten Spruchkörper vollständig automatisiert besetzt wurden, beziehungsweise wie häufig die Besetzung manuell erfolgt ist. Dabei wurden Einzel-, Zweier- und Dreier-Spruchkörper gemeinsam ausgewertet, wobei die Historie unbesetzter Spruchkörperpositionen, beispielsweise die Besetzungshistorie der Drittrichterposition in einem Zweierspruchkörper, nicht in die präsentierten Kennzahlen einfliesst.
a.
Häufigkeit manueller Eingriffe in die automatisierte Spruchkörperbildung ^
Bei den 47’291 untersuchten materiellen Entscheiden wurden bei 55 Prozent der Dossiers sämtliche Richterpositionen des Spruchkörpers vollständig automatisch mit der Fallzuteilungssoftware generiert, während bei den übrigen 45 Prozent mindestens eine Richterposition manuell besetzt wurde (siehe Abbildung 2.a).
Unter den 55 Prozent der automatisch generierten Spruchkörper wurden 53 Prozent einmalig, das heisst ohne nachträgliche Umbesetzung, gebildet, während 2 Prozent aufgrund mehrfacher Verwendung der Fallzuteilungssoftware automatisch generiert wurden (siehe Abbildung 2.b).
Beim Grossteil jener Spruchkörper, bei denen im Ergebnis eine oder mehrere Positionen manuell besetzt wurden, erfolgte mindestens eine manuelle Umbesetzung. Nur bei 8 Prozent aller Dossiers wurde der Spruchkörper einmalig besetzt und dabei direkt mindestens eine Richterposition manuell bestimmt (siehe Abbildung 2.b).
Abbildung 2: Wie besetzt das Bundesverwaltungsgericht seine Spruchkörper?
Bemerkung: Die Auswertung basiert auf 47'291 materiellen Entscheiden im Zeitraum 1.1.2008 bis 31.12.2018
Abbildung 2.c zeigt, dass von den manuell besetzen Spruchkörpern 28 von 45 Prozent auf Spruchkörper entfallen, die mit Hilfe der Fallzuteilungssoftware auf mindestens einer Position manuell besetzt wurden. Die verbleibenden 17 Prozent umfassen Dossiers, bei denen die Angaben auf dem publizierten Urteil vom letzten protokollierten Spruchkörper in der Fallzuteilungssoftware abweichen und folglich der Spruchkörper auf mindestens einer Position im Dossierverwaltungssystem manuell umbesetzt wurde.
Schliesslich dokumentiert Abbildung 2.d sowohl relevante Anteile für die manuelle Besetzung der Instruktionsrichterposition als auch der Mitrichterposition, wobei die manuelle Besetzung der Mitrichterposition überwiegt.
Weitere Auswertungen im Anhang A3 belegen, dass der jährliche Anteil an Dossiers mit (teilweise) manuell besetzten Spruchkörpern im Zeitraum 2008 bis 2018 kaum Variation aufzeigt. Das Gleiche gilt auch für die relativen Häufigkeiten an manuellen Übersteuerungen nach Richterposition. Nennenswerte Anpassungen in der Handhabung der Fallzuteilungssoftware zwischen 2008 und 2018 sind bei dieser aggregierten Betrachtung über das Gesamtgericht also nicht erkennbar.
Teilweise erhebliche Unterschiede zeigen sich hingegen, wenn man die Spruchkörperbildung nach Abteilungen auswertet: So beträgt der Anteil manuell besetzter Spruchkörper in Abteilung I vergleichsweise tiefe 18 Prozent, während in Abteilung III (65%) und im Bereich Amtshilfe USA (78%) etwa viermal häufiger manuell eingegriffen wird.
b.
Begründung der manuellen Eingriffe in der Fallzuteilungssoftware ^
Die Auswertung des Kommentarfelds in der Fallzuteilungssoftware gibt einen Einblick, wie die Anwender der Fallzuteilungssoftware manuelle Besetzungen begründen. Die Resultate dieser Auswertung finden sich in Abbildung 3.38 Für die meisten manuellen Eingriffe, nämlich 40 Prozent, ist keine Begründung protokolliert. Dieser Wert ergibt sich aus 4 Prozent manueller, aber unbegründeter Eingriffe innerhalb der Fallzuteilungssoftware39 und 36 Prozent manueller Änderungen über das Dossierverwaltungssystem; letztere werden deshalb vorliegend als unbegründet gewertet, weil für die Änderungen keine Kommentare in der Fallzuteilungssoftware protokolliert sind.40
Von den in der Fallzuteilungssoftware mit einer Begründung versehenen Eingriffen entfallen mit Abstand die meisten auf die «Muttersprachenregel». Nennenswerte Anteile ergeben sich zudem bei Begründungen bezüglich «Konnexität mit einem anderen Fall» oder «Abwesenheiten». Alle anderen Begründungen werden vergleichsweise selten aufgeführt. Im Ergebnis erfolgen die meisten Eingriffe aufgrund von Gründen, die bisher nicht in der Fallzuteilungssoftware konfigurierbar sind.
Unterscheidet man die Begründungen von ex ante- und ex post-Eingriffen (siehe Abbildungen A3.2 und A3.3 im Anhang), wird ersichtlich, dass bei den Erstbesetzungen die Begründung «Konnexität zu einem anderen Fall» mit Abstand am häufigsten genannt wird. Von den ex post-Umbesetzungen hingegen bleiben die meisten in der Fallzuteilungssoftware unbegründet oder es wird die «Muttersprachenregel» als Begründung angegeben.
Abbildung 3: Wie werden manuelle Eingriffe in der Fallzuteilungssoftware begründet?
Bemerkung: Die Auswertung basiert auf jenen Dossiers, bei denen es im Zeitraum 1.1.2008 bis 31.12.2018 zu einer manuellen Besetzung innerhalb oder ausserhalb der Fallzuteilungssoftware gekommen ist. Pro Dossier können mehrere Spruchkörperänderungen registriert sein und es können jeweils eine unbeschränkte Anzahl Eingriffsgründe im Kommentarfeld angegeben werden. Die farbliche Klassifizierung illustriert, welche Eingriffsgründe in der aktuellen Version der Fallzuteilungssoftware konfigurierbar wären. Die Kategorie «Ohne Begründung» setzt sich aus zwei Typen von Dossiers zusammen: Erstens jene Dossiers, deren Spruchkörper innerhalb der Fallzuteilungssoftware manuell besetzt wurden und bei denen das Kommentarfeld unzureichend ausgefüllt wurde (4%). Zweitens jene Dossiers, deren Spruchkörper ausserhalb der Fallzuteilungssoftware manuell umbesetzt wurden und somit keine Begründung protokolliert wurde (36%).
c.
Verwendung von Fallgewichtungen ^
Ein häufig genannter Vorbehalt im Zusammenhang mit der Verwendung einer automatisierten Fallzuteilungssoftware ist die grosse Varianz im Bearbeitungsaufwand der einzelnen Dossiers. Werden diese Unterschiede von der Software nicht angemessen berücksichtigt, können trotz einer ausgeglichenen Anzahl bearbeiteter Dossiers Divergenzen in der Geschäftslast zwischen Richterinnen und Richtern entstehen, welche potenziell manuelle Korrekturen erforderlich machen.
Seit einem Softwareupdate im Jahr 2013 besteht am Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit, die relative Gewichtung von Dossiers anzupassen (vgl. Kapitel II.3). Diese Option wird bisher nur in der Abteilung II eingesetzt; konkret wurde in Abteilung II zwischen 2014 und 2018 in 56 Prozent der Dossiers von dem als Standard gesetzten Fallgewicht abgewichen. Über das ganze Gericht gesehen entspricht dies 3 Prozent der Dossiers mit materiellem Entscheid.
d.
Anwenderinnen und Anwender der Fallzuteilungssoftware ^
Schliesslich stellt sich die Frage, welche Personen die Fallzuteilungssoftware für die Spruchkörperbesetzung bedienen. Die Auswertung der Login-Angaben zeigt, dass zwischen 2008 und 2018 pro Jahr zwischen 50 und 70 verschiedene Mitarbeitende die Fallzuteilungssoftware genutzt haben; über den gesamten Zeitraum ergibt sich eine Gesamtzahl von 119 verschiedenen Anwenderinnen und Anwendern. Die relative Häufigkeit der Anwender hat sich über die Jahre stark gewandelt: Zwischen 2008 und 2010 wurden die Spruchkörperbesetzungen meist über Nutzerkonten von Abteilungs- oder Kammerpräsidentinnen und Kammerpräsidenten getätigt (etwa 70%). In den Jahren 2011 und 2012 wurden die Spruchkörperbesetzungen zumeist von Richterinnen oder Richtern ohne Funktion im Abteilungs- oder Kammerpräsidium vorgenommen (etwa 60%).41 Seit 2012 sind es hauptsächlich Logins von anderen Gerichtsmitarbeitenden (vorwiegend Kanzleimitarbeitenden, vereinzelt Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern), welche bei der Besetzung von Spruchkörpern registriert werden (etwa 70%). Vergleicht man voll automatisierte Erstbesetzungen mit Umbesetzungen, ergeben sich keine relevanten Unterschiede in der relativen Häufigkeit der Anwenderinnen und Anwender.
3.
Ergebnisse ^
Im Ergebnis zeigt sich, dass mit 45 Prozent ein hoher Anteil der Spruchkörper auf einer oder mehreren Richterpositionen manuell besetzt werden und es bei vielen Spruchkörpern, nämlich bei 39 Prozent, zu ex post-Umbesetzungen kommt. Von den ex post-Umbesetzungen werden fast die Hälfte im Dossierverwaltungssystem «Juris» – und damit ausserhalb der Fallzuteilungssoftware – getätigt, was zur Folge hat, dass für diese Umbesetzungen keine Begründung in der Fallzuteilungssoftware protokolliert werden und die geleistete Arbeitslast nicht in der relevanten Datenbank der Fallzuteilungssoftware berücksichtigt wird.
Bei den Begründungen für manuelle Besetzungen und Umbesetzungen fällt auf, dass die von den Anwendern genannten Übersteuerungsgründe (insbesondere «Muttersprachenregel») von einem technischen Gesichtspunkt aus in der Software ohne Weiteres implementierbar wären. Ähnlich verhält es sich bei der Fallgewichtung: Obwohl seit einem Softwareupdate im Jahr 2013 die Möglichkeit besteht, einem Dossier ein dem antizipierten Arbeitsaufwand entsprechendes relatives Fallgewicht zuzuweisen, wird diese Option bisher nur von einer Abteilung genutzt, sodass bei insgesamt 97 Prozent der Dossiers mit materiellem Entscheid der Bearbeitungsaufwand den urteilenden Richterinnen und Richter mit dem Standardgewicht gutgeschrieben wird.
Schliesslich ist festzuhalten, dass der Kreis der Anwender der Fallzuteilungssoftware nicht nur Richter und Richterinnen umfasst, sondern insbesondere auch Kanzleimitarbeitende sowie Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber. Mit 119 Personen ist der Kreis der zwischen 2008 und 2018 registrierten Softwareanwender denn auch entsprechend breit.
I.
Gesamterkenntnisse ^
Die Analyse der verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundlagen42 zeigt auf, dass die Zusammensetzung des Spruchkörpers generell-abstrakt normiert sein und auf objektiven, sachlichen Gründen beruhen muss. Die Zuteilung soll grundsätzlich durch eine Richterperson erfolgen; eine gerichtsinterne Delegation an nachgeordnete Stellen ist nur zulässig, wenn die Zuteilung auf starren Kriterien beruht und keinerlei Spielraum offenlässt. Eine nachträgliche Umbesetzung des Spruchkörpers ist nicht ausgeschlossen, muss aber aus triftigen Gründen erfolgen, die idealerweise ebenfalls generell-abstrakt geregelt sind. Diese Regeln machen deutlich, dass die Eckpunkte der Spruchkörperbesetzung am Leitgedanken der Transparenz ausgerichtet sind.
Werden die Rechtsgrundlagen der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht mit den Vorgaben des übergeordneten Rechts abgeglichen, ergibt sich Folgendes: Am Bundesverwaltungsgericht bestehen generell-abstrakte Regelungen für die Spruchkörperbildung, welche objektive, sachliche Kriterien beinhalten. Weder das Verwaltungsgerichtsgesetz noch das Geschäftsreglement äussern sich indessen zu den Gründen, die eine Abweichung von den durch das Bundesverwaltungsgericht festgelegten Regeln der Spruchkörperbildung zulassen. Die Regelungen unterscheiden damit auch nicht zwischen anfänglicher (ex ante) und nachträglicher (ex post) Spruchkörperbildung, so dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Umbesetzung des Spruchkörpers rechtssatzmässig nicht abgebildet sind. Im Übrigen fehlt auf dieser Normstufe das Kriterium der Fallgewichtung. Das Verwaltungsgerichtsgesetz und das Geschäftsreglement delegieren die Regelung weitgehend an die Abteilungen. Die nähere Ausgestaltung in den Abteilungsreglementen fällt unterschiedlich aus, sowohl bezüglich Inhalt als auch bezüglich Bestimmtheit. Zwar haben sich sämtliche Abteilungen für ein elektronisches Geschäftszuteilungsprogramm entschieden, welches die Spruchkörperbildung nach objektiven Kriterien vornimmt. Die in den Abteilungsreglementen genannten Gründe, welche eine ausnahmsweise Abweichung von diesem Zuteilungsmechanismus rechtfertigen, lassen indessen die Einheitlichkeit vermissen. Überdies führt die unterschiedliche Terminologie bezüglich des Zuteilungsmechanismus zur Unklarheit, ob die Spruchkörperbildung zufällig oder aber automatisch erfolgt. Die Regelungen auf der Abteilungsebene werden als intern bezeichnet, was den Anforderungen an die Voraussehbarkeit bzw. Transparenz nicht zu genügen vermag. Soweit vom elektronischen Zuteilungsmechanismus abgewichen wird, erfolgt dies gemäss der Normanalyse durch Kammer- bzw. Abteilungspräsidium und damit entsprechend den Anforderungen des übergeordneten Rechts durch eine Richterin oder einen Richter.
Die Analyse zum Mechanismus der Spruchkörperbildung zeigt, dass die Fallzuteilungssoftware primär darauf abzielt, eine langfristig ausgeglichene Geschäftslast zwischen den Richterinnen und Richtern zu erzielen, während die gegenwärtige Auslastung der Richterinnen und Richter unberücksichtigt bleibt. Entgegen der Formulierung in mehreren Abteilungsreglementen enthält die Fallzuteilungssoftware zudem keine Zufallskomponente, sondern entspricht durchgängig einem deterministischen Automatismus.
Die Auswertungen zur Handhabung der Spruchkörperbildung ergeben einen hohen Anteil manueller Eingriffe (45%), was die reglementarische Vorgabe, dass Spruchkörper grundsätzlich automatisch (nach einzelnen Abteilungsreglementen: «zufällig») zu besetzen sind, in Frage stellt. Der vom Bundesverwaltungsgericht erweckte Anschein einer grundsätzlich automatisierten Spruchköperbildung entspricht nicht der geübten Praxis. Die zahlreichen manuellen Eingriffe deuten darauf hin, dass die Software die aus Gerichtssicht bedeutsamen Kriterien für die Spruchkörperbildung nicht hinreichend abbildet, namentlich die Kriterien der Muttersprache oder der Konnexität von Fällen. Bezüglich der Begründung von manuellen Eingriffen lässt sich feststellen, dass die Fallzuteilungssoftware weder für ex ante- noch für ex post-Eingriffe einen festen Kreis von Übersteuerungskriterien vorgibt, sondern bloss ein Textfeld aufführt, das nach Belieben gefüllt werden kann. Während die vom Gericht angegebenen Begründungen bei den ex ante-Eingriffen nachvollziehbar erscheinen, bleiben die ex post-Eingriffe zum grossen Teil ohne Begründung (über 40%) oder werden mit Verweis auf das Kriterium «Muttersprachenregel» gerechtfertigt, das eigentlich schon bei der Dossierkonfiguration (und damit ex ante) feststeht.
Mit Blick auf den Anwenderkreis der Fallzuteilungssoftware ist festzuhalten, dass dieser deutlich grösser ist als in den Reglementen vorgesehen; häufig bedienen Richterinnen und Richter ohne Funktion als Abteilungs- oder Kammerpräsidien sowie weitere Gerichtsmitarbeitende die Software, obwohl diese Zuständigkeitserweiterung bezüglich der Spruchkörperbildung nicht geregelt ist.
Aus Gründen der Transparenz ist eine Softwarelösung zur Dokumentation der Fallzuteilung bei einem Gericht von der Grösse des Bundesverwaltungsgerichts unabdingbar. Allerdings ist es mit der Fallzuteilungssoftware des Bundesverwaltungsgerichts nicht möglich, aggregierte Statistiken über die Besetzungspraxis im System zuverlässig zu berechnen. Dies liegt primär am Umstand, dass es häufig ausserhalb der Fallzuteilungssoftware zu Umbesetzungen kommt, welche erst durch einen Abgleich mit den auf den publizierten Urteilen genannten Spruchkörpern ersichtlich werden. Zusätzlich erfordert die Art der Archivierung in den Datenbanken der Fallzuteilungssoftware umfassende Bereinigungsschritte, bevor aussagekräftig Statistiken berechnet werden können. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass das Gericht kaum Angaben zur Praxis der Spruchkörperbildung an die Öffentlichkeit kommuniziert, was aber mit Blick auf die Transparenz und die Vertrauensbildung wünschbar wäre. Damit stellt sich auch die Frage, inwieweit die Fallzuteilungssoftware eine Offenlegung der allgemeinen Übersteuerungspraxis gegenüber der Aufsichtsbehörde zulässt, da auch hier aggregierte Statistiken benötigt würden, die aktuell nicht erstellt werden können.
II.
Optimierungspotential ^
Aus den Vorgaben des übergeordneten Rechts und der darauf basierenden Normanalyse sowie der empirischen Analyse der Praxis ergibt sich, dass die vom Bundesverwaltungsgericht bei dessen Gründung im Jahr 2007 pionierhaft eingeführte softwaregestützte Spruchkörperbildung gewissen Optimierungsbedarf aufweist:
Auf der Normebene sollte im Geschäftsreglement eine Rechtsgrundlage für einen grundsätzlich für alle Abteilungen geltenden Fallzuteilungsmechanismus geschaffen werden, wobei Besonderheiten der einzelnen Abteilungen durchaus berücksichtigt werden können. Im Geschäftsreglement beziehungsweise in den Abteilungsreglementen sollten die Kriterien für die Spruchkörperbildung ergänzt und die Gründe für Abweichungen vom Automatismus präzisiert werden.43 Dabei wäre zwischen anfänglicher (ex ante) und nachträglicher (ex post) Spruchkörperbildung zu unterscheiden.44 Generell sollten die Vorgaben in den Abteilungsreglementen harmonisiert und hinsichtlich der Zuständigkeit für die Spruchkörperbildung mit dem übergeordneten Recht in Übereinstimmung gebracht werden. Aus Gründen der Transparenz ist schliesslich empfohlen, sämtliche Abteilungsreglemente öffentlich zugänglich zu machen.45
Die softwaregestützte Fallzuteilung sollte als zentraler Mechanismus bei der Objektivierung der Spruchkörperbildung und dem Management der Geschäftslastverteilung beibehalten werden. Die Analyse der gelebten Praxis im Untersuchungszeitraum hat aber auch weitreichendes Verbesserungspotential in der technischen Ausgestaltung der softwaregestützten Fallzuteilung ergeben: Erstens sollten die Gründe für manuelle Eingriffe, die vor Besetzung des Spruchkörpers feststehen (zum Beispiel die «Muttersprachenregel») in der Software entsprechend als ex ante-Kriterien implementiert werden, was den Bedarf an manuellen Eingriffen deutlich reduzieren würde. Werden die ex ante zu beachtenden Kriterien jedoch zu weit gefasst, kann dies zu einer überrestriktiven Eingrenzung der in Frage kommenden Instruktions- und Mitrichterperson führen, sodass letztlich keine von der Software als passend eingestufte Richterinnen und Richter verbleiben. Eine klar definierte Hierarchisierung der Kriterien innerhalb der Software würde dem entgegenwirken.46 Zweitens sollten die zulässigen Gründe für manuelle Eingriffe – basierend auf den Vorgaben in den Reglementen – als Dropdown-Menü gestaltet werden, welches zusätzlich zwischen ex ante-Eingriffen und ex post-Eingriffen (Umbesetzungen) unterscheidet. Drittens darf die Schnittstelle zwischen der Fallzuteilungssoftware und dem Dossierverwaltungssystem keine Änderungen im Spruchkörper zulassen, die nicht zugleich auch in der Fallzuteilungssoftware dokumentiert werden. In Kombination mit einer konsequenteren Verwendung der Fallgewichtung47 und der Möglichkeit, diese ex post dem tatsächlich geleisteten Arbeitsaufwand anzupassen, würde dies zu einer akkurateren Abbildung der historischen Geschäftslastverteilung beitragen und so den Bedarf an manuellen Eingriffen senken. Viertens scheint eine Überprüfung angezeigt, ob die Fallzuteilungssoftware dahingehend erweitert werden soll und kann, dass neben der historischen Geschäftslast auch die aktuelle Auslastung der Richterinnen und Richter berücksichtigt wird. Damit könnte neben der Vorgabe einer historisch ausgeglichenen Geschäftslast auch dem Ziel einer möglichst zeitnahen Dossierbehandlung Rechnung getragen werden. Eine Lösung könnte hierbei auf der Unterscheidung zwischen Fällen mit tiefer und solchen mit hoher Dringlichkeit basieren, indem der Algorithmus bei Fällen mit tiefer Dringlichkeit den Spruchkörper weiterhin mit dem Ziel einer langfristig möglichst ausgeglichenen Geschäftslast besetzen würde, während bei Fällen mit hoher Dringlichkeit primär die aktuelle Auslastung der Richterinnen und Richter berücksichtigt würde.
Hinsichtlich der Handhabung der Fallzuteilungssoftware lassen sich anhand der empirischen Auswertungen drei konkrete Empfehlungen ableiten: Erstens sollte der Benutzerkreis auf die in den Reglementen vorgesehenen Anwenderinnen und Anwender reduziert werden, um die Verantwortlichkeiten bei der Spruchkörperbildung in Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht zu verankern.48 Zweitens sollten interne Aufsichtsmechanismen geprüft werden.49 Drittens müssten aggregierte Kennzahlen zur Spruchkörperbildung regelmässig – zum Beispiel im Geschäftsbericht – publiziert und damit Transparenz über die konkrete Umsetzung der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht geschaffen werden.50 Eine klarere Verankerung der Verantwortlichkeiten sowie eine erhöhte Transparenz in der Spruchkörperbildung würden voraussichtlich zu einer substantiellen Senkung der manuellen Eingriffe beitragen und könnten so den Grundgedanken einer Fallzuteilungssoftware – nämlich der Objektivierung der Spruchkörperbildung – massgeblich stärken.
III.
Allgemeine Erkenntnisse für die Ausgestaltung der Spruchkörperbildung ^
Eine verfassungs- und völkerrechtskonforme Spruchkörperbildung ist eine Aufgabe, die sich bei allen Gerichten stellt, in denen die Zahl der Richterinnen und Richter jene des jeweiligen Spruchkörpers übersteigt. Verschiedene Erkenntnisse der vorliegenden Studie lassen sich verallgemeinern und damit über die vorliegende Fallstudie hinaus auch für andere Gerichte fruchtbar machen.
Unbesehen des Umstands, ob eine softwarebasierte Zuteilung erfolgt oder nicht, sind folgende Grundsätze zu beachten: Zunächst sind die Grundzüge der Spruchkörperbildung im jeweiligen Gerichtsorganisationsgesetz festzulegen, wobei eine Delegationsnorm, welche die zu regelnden Fragen enthält, ausreicht. Das entsprechende Organisationsreglement sollte insbesondere regeln, ob die Spruchkörperbildung automatisch (in Form eines elektronischen Fallzuteilungsmechanismus) erfolgt, und es sollte die wesentlichen bei der Spruchkörperbildung zu berücksichtigenden Kriterien sowie die Gründe für ein allfälliges Abweichen von der Spruchkörperbildung benennen. Insbesondere sollte als Kriterium der Spruchkörperbildung und entsprechender Zuteilungsmechanismen auch das Fallgewicht berücksichtigt werden.51 Weiter sollte das Organisationsreglement zwischen anfänglicher (ex ante) und nachträglicher (ex post) Spruchkörperbildung differenzieren und die (in der Sache triftigen) Gründe aufführen, die gegebenenfalls eine nachträgliche Umbesetzung des Spruchkörpers rechtfertigen können. Nicht zuletzt sollte das Organisationsreglement die Zuständigkeit zur Festlegung des Spruchkörpers benennen und diese grundsätzlich einer Richterperson zuweisen; eine Delegation an Gerichtsschreibende oder die Gerichtskanzlei ist lediglich dann zulässig, wenn die Zuteilung nach starren Kriterien erfolgt und keinerlei Ermessensspielraum offenlässt. Zwischen einzelnen Gerichtsabteilungen bestehende Besonderheiten können in Abteilungsreglementen spezifiziert werden, wobei die Ausgestaltung der Regeln hinsichtlich Regelungsgehalt und Regelungsdichte zu koordinieren ist. Sämtliche Regelungen der Spruchkörperbildung sind im Sinne der Transparenz öffentlich zugänglich zu machen.
Ein softwarebasierter Automatismus ist jedenfalls an grossen Gerichten am besten geeignet, um die Spruchkörperbildung nach objektiven und ex ante feststehenden Kriterien vorzunehmen. Softwarelösungen erlauben eine lückenlose Dokumentation, sodass die Spruchkörperbildung sowohl im Einzelfall als auch an einzelnen Abteilungen und am Gericht als Ganzes jederzeit nachvollzogen werden kann. Da Gerichte unterschiedlich strukturiert sind, kann es kein einheitliches, für alle Gerichte gleichermassen geeignetes Softwaredesign geben. Gleichwohl lassen sich aus der Analyse der automatisierten Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht gewisse Grundsätze ableiten, welche generell bei der Konzeption einer Fallzuteilungssoftware beachtet werden sollten.
So müssen sich Gerichte zunächst im Klaren sein, welchen Zielen der Mechanismus dienen soll. Neben der Sicherstellung des Rechts auf den gesetzlichen Richter können solche Ziele beispielsweise die ausgeglichene Geschäftslast, die zeitnahe Dossierbearbeitung oder die Diversität des Spruchkörpers sein. Hierbei sind Zielkonflikte zu beachten, welche auch mithilfe eines softwarebasierten Zuteilungsmechanismus nicht gänzlich aufgelöst werden können.
Die in den Gerichtsreglementen definierten, für die Spruchkörperbildung massgebenden Kriterien sollten möglichst präzise und vollständig in der Software implementiert sein, um den Übersteuerungsbedarf zu minimieren. Eine (zu) grosse Anzahl an Kriterien kann allerdings dazu führen, dass die Besetzung des Spruchkörpers verunmöglicht wird und deshalb eine Hierarchisierung der Kriterien erfolgen muss.
Die Vorteile einer automatisierten Spruchkörperbildung liegen auf der Hand. Die Erwartungen sollten aber nicht überspannt werden, weder von den Gerichten, die softwarebasierte Programme verwenden, noch von den Verfahrensparteien und der Öffentlichkeit. Eine ausnahmslose Automatisierung der Spruchkörperbildung ist aufgrund der Realien des gerichtlichen Tagesgeschäfts nicht möglich, können doch immer wieder Situation auftreten, die eine manuelle Besetzung des Spruchkörpers unumgänglich machen. Eingriffe in die grundsätzlich automatisierte Spruchkörperbildung sollten deshalb auch nicht unbesehen als manipulativ oder verfassungswidrig bezeichnet werden. Manuelle Eingriffe müssen aber aus Gründen der Transparenz durchgängig über die Software erfolgen und mit einer Begründung versehen werden. Die Verfügbarkeit von aggregierten Kennzahlen zur Handhabung der Spruchkörperbildung ist für die jederzeitige Nachvollziehbarkeit des Vorgangs essenziell. Zudem sollten die Angaben in den Geschäftsberichten dargestellt werden; dies ermöglicht die Information der Aufsichtsbehörden und der weiteren Öffentlichkeit und trägt nicht zuletzt auch dazu bei, überhöhten Erwartungen an die automatisierte Spruchkörperbildung vorzubeugen.
Anhang: Tabellen und Abbildungen
Dr. rer. oec. Konstantin Büchel ist Postdoktorand am Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Bern.
Prof. Dr. iur. Regina Kiener ist ordentliche Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Zürich.
Prof. Dr. iur. Andreas Lienhard ist ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern.
Dr. rer. pol. Marcus Roller ist Dozent und Co-Leiter der Forschungsstelle Tourismus an der Universität Bern.
Die Autoren bedanken sich beim Bundesverwaltungsgericht für die Bereitschaft, alle für diese Studie benötigten Daten zur Verfügung zu stellen.
- 1 Dies ist insbesondere gut belegt für die Parteizugehörigkeit von Richterinnen und Richtern aber auch für deren angeborene Eigenschaften wie Geschlecht oder Hautfarbe (siehe Allison P. Harris/Maya Sen, Bias and Judging, Annual Review of Political Science 22/2019, S. 241 ff.); Vgl. für die Schweiz Dominik Hangartner/Benjamin E. Lauderdale/Judith Spirig, Refugee Roulette Revisited: Judicial Preference Variation and Aggregation on the Swiss Federal Administrative Court 2007–2012, 2016 und Gabriel Gertsch, Richterliche Unabhängigkeit und Konsistenz am Bundesverwaltungsgericht: eine quantitative Studie, ZBl 1/2021, S. 34 ff.
- 2 Adam S. Chilton/Marin K. Levy, Challenging the Randomness of Panel Assignment in the Federal Courts of Appeals, Cornell Law Review 101:1/2015, S. 1 ff.
- 3 Andreas Lienhard/Daniel Kettiger/Daniela Winkler, Stand des Justizmanagements in der Schweiz, Bern 2013, S. 16.
- 4 Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) des Ständerates und des Nationalrates, Geschäftsverteilung bei den eidgenössischen Gerichten, Bericht vom 22. Juni 2021; Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK), Geschäftsverteilung bei den eidgenössischen Gerichten, Bericht zuhanden der Geschäftsprüfungskommissionen des Ständerates und des Nationalrates vom 5. November 2020.
- 5 Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, E-1526/2017 vom 26. April 2017 betr. Ausstandsbegehren.
- 6 Urteil des BGer (Verwaltungskommission) 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 betr. Aufsichtsanzeige.
- 7 Geschäftsbericht des Bundesverwaltungsgerichtes 2007, S. 85.
- 8 Die in der Studie gewählten Bezeichnungen «Eingriffe» sowie «Übersteuerungen», welche synonym für manuelle (Um-) Besetzungen des Spruchkörpers verwendet werden, basieren auf der Terminologie des Bundesgerichts gemäss Urteil des BGer (Verwaltungskommission) 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.4.2.
- 9 Vgl. insb. Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats CM/Rec(2010)12, Judges: independence, efficiency and responsibilities, adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe, 17. November 2010 sowie European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, CDL-AD(2010)004, 16. März 2010.
- 10 Für eine vertiefte Behandlung und Würdigung der Praxis vgl. insb. Arthur Brunner, Verfassungsrechtliche Vorgaben an die Besetzung gerichtlicher Spruchkörper, ZBl 6/2021, S. 307 ff.; Gertsch (Fn. 1), S. 34 ff.; Regina Kiener/David Henseler, Anforderungen des Europarats und der OSZE an die Spruchkörperbildung an Gerichten, in: Michel Hottelier/Maya H. Randall/Alexandre Flückiger (Hrsg.), Études en l’honneur du Professeur Thierry Tanquerel: Entre droit constitutionnel et droit administratif: questions autour du droit de l’action publique, Zürich/Genf 2019, S. 193 ff.; Jeremias Fellmann, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 1 BV, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2021/2; Fabian Mösching, Bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 30 Abs. 1 BV, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2018/3; Daniel Kettiger, Die aktuelle Bundesgerichtspraxis zur Spruchkörperbildung, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2018/4; Christoph Bandli, Zur Spruchkörperbildung an Gerichten: Vorausbestimmung als Fairnessgarantin, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2007/2. Vgl. zudem Catherine Reiter, Gerichtsinterne Organisation, Zürich 2015, N 419 ff.; Andreas Müller, Rechtlicher Rahmen für die Geschäftslastbewirtschaftung in der schweizerischen Justiz, Stand – Vergleich – Folgerungen, Bern 2016, insb. N 250 ff.
- 11 BGE 144 I 37 E. 2.1; ähnlich bereits BGE 137 I 340 E. 2.2.1; BGE 105 Ia 172 E. 5b.
- 12 BGE 144 I 70 E. 5.4 und E. 6.3; Urteil des BGer (Verwaltungskommission) 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.2. Strenger demgegenüber Urteil des BGer 6B_63/2018 vom 21. Juni 2018 E. 3.2.3 sowie Urteil des BGer 6B_671/2018 vom 15. Oktober 2019 E. 1.5.3, wonach eine gefestigte Praxis nicht ausreicht. Vgl. zum Ganzen auch die Kritik bei Brunner (Fn. 10), S. 323 f.
- 13 BGE 144 I 70 E. 5.1; vgl. BGE 144 I 37 E. 2.1; BGE 137 I 340 E. 2.2.1; BGE 105 Ia 172 E. 5a f.
- 14 EGMR, Richert c. Polen vom 25. Oktober 2011, Nr. 54809/07, § 43 («The phrase «established by law» covers not only the legal basis for the very existence of a «tribunal» but also the composition of the bench in each case»); EGMR, Kontalexis c. Griechenland vom 31. Mai 2011, Nr. 59000/08, § 42; EGMR, Posokhov c. Russland vom 4. März 2003, Nr. 63486/00, § 39.
- 15 EGMR, Bochan c. Ukraine vom 3. Mai 2007, Nr. 7577/02, § 71 f.
- 16 EGMR, Moiseyev c. Russland vom 9. Oktober 2008, Nr. 62936/00, § 178–181; EGMR, Posokhov c. Russland vom 4. März 2003, Nr. 63486/00, § 39-43; EGMR, Fedotova c. Russland vom 13. September 2006, Nr. 73225/01, § 38-42. Vgl. auch Urteil des BGer 4A_473/2014 vom 11. Dezember 2014 E. 4.3.
- 17 Frank Meyer, in: Ulrich Karpenstein/Franz C. Mayer (Hrsg.), Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Kommentar, 2. Aufl., Berlin 2015, Art. 6 EMRK N 42a m.w.H.; vgl. auch Jens Meyer-Ladewig/Stefan Harrendorf/Stefan König, in: Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan von Raumer (Hrsg.), EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2017, Art. 6 EMRK N 71. A.M. Astrid Stadler, Europäische Mindeststandards für Spruchkörper, in: Christoph Althammer/Matthias Weller (Hrsg.), Europäische Mindeststandards für Spruchkörper, Tübingen 2017, S. 167 ff., 186 f.
- 18 EGMR, Oleksandr Volkov c. Ukraine vom 9. Januar 2013, Nr. 21722/11, § 150–156; Meyer (Fn. 178), Art. 6 N 42a m.w.H.
- 19 Urteil des BGer 1C_187/2017, 1C_327/2017 vom 20. März 2018 E. 7.2 und 7.3, ZBl 119/2018 S. 343 ff. Kritisch Brunner (Fn. 10), S. 327.
- 20 Urteil des BGer (Verwaltungskommission) 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.2.
- 21 Vgl. BGE 144 I 37 E. 2.1; BGE 137 I 340 E. 2.2.1; Urteil des BGer 4A_473/2014 vom 11. Dezember 2014 E. 4.2. Vgl. auch EGMR, Miracle Europe Kft c. Ungarn vom 12. Januar 2016, Nr. 57774/13, § 57; EGMR, DMD Group, A.S. c. Slowakei vom 5. Oktober 2010, Nr. 19334/03, § 66.
- 22 In der Praxis wird begrifflich nicht konsequent zwischen «Kriterien» und «Gründen» unterschieden. Es bietet sich an, von «Gründen» im Zusammenhang mit nachträglich vorgenommenen Eingriffen zu sprechen (siehe im Folgenden insb. Kap. V).
- 23 BGE 144 I 37 E. 2.1.
- 24 Brunner (Fn. 10), S. 315. Vgl. auch EGMR, Sutyagin c. Russland vom 3. Mai 2011, Nr. 30024/02, § 187 («wide range of factors»).
- 25 Eingehend Brunner (Fn. 10), S. 313 ff., mit zahlreichen Hinweisen auf Praxis und Lehre. Vgl. zudem EGMR, Sutyagin c. Russland vom 3. Mai 2011, Nr. 30024/02, § 187 und EGMR, Bochan c. Ukraine vom 3. Mai 2007, Nr. 7577/02, § 71.
- 26 Urteil des BGer (Verwaltungskommission) 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 E. 2.4.3.
- 27 Ebenso Brunner (Fn. 10), S. 321 f.
- 28 Vgl. Urteil des BGer 8C_58/2014 vom 24. September 2014 E. 2.2 (betr. Nichtwiederwahl der ursprünglichen Richterin); Urteil des BGer 5A_429/2011 vom 9. August 2011 E. 3.2 (betr. Mutterschaftsurlaub).
- 29 Ebenso Brunner (Fn. 10), S. 322. Vgl. auch Vgl. EGMR, Miracle Europe Kft c. Ungarn vom 12. Januar 2016, Nr. 57774/13, § 61–63; EGMR, DMD Group, A.S. c. Slowakei vom 5. Oktober 2010, Nr. 19334/03, § 69 f.; EGMR, Moiseyev c. Russland vom 9. Oktober 2008, Nr. 62936/00, §§ 177–182.
- 30 Geschäftsbericht des Bundesverwaltungsgerichtes 2007, S. 85.
- 31 Die technischen Erläuterungen zur Dossierverwaltung und Spruchkörperbildung basieren auf Fachgesprächen mit dem verantwortlichen Programmierer der Software, Alexander Schuppisser, sowie dem Handbuch zur Softwareversion 1.5, welche zum Ende des Untersuchungszeitraums im Dezember 2018 eingesetzt wurde. Seit der Inbetriebnahme der Fallzuteilungssoftware gab es mehrere Release-Updates (z.B. Einführung von Fallgewichtungen im Jahr 2013); Änderungen in der Funktionsweise der Fallzuteilungssoftware seit Januar 2019 werden in dieser Studie nicht abgebildet. Die Funktionsweise der Software wird auch in Alexander Schuppisser, Vorausbestimmte Spruchkörperbesetzung am Bundesverwaltungsgericht, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2007/2, erläutert.
- 32 Die Auslastungseinstellung wird vom Bundesverwaltungsgericht als Pensum bezeichnet. Da bei der Konfiguration der Auslastung in der Fallzuteilungssoftware auch weitere Funktionen einer Richterin oder eines Richters am Gericht berücksichtig werden, korrespondieren die eingetragenen Werte nicht eins zu eins mit dem Beschäftigungsgrad.
- 33 Die Bezeichnungen «manuelle» Besetzung» basiert auf der Terminologie des Bundesgerichts im Urteil 12T_3/2018 vom 22. Mai 2018 (siehe E. 2.4.3); in der Benutzeroberfläche der Fallzuteilungssoftware wir synonym dazu das Adjektiv «händisch» verwendet.
- 34 Hierbei wird neben dem Geschäftslastausgleich auch die Durchmischung der Spruchkörper berücksichtigt, d.h. Richterinnen und Richter mit niedrigen Pensen arbeiten überproportional häufig mit anderen Richterinnen und Richtern mit niedrigen Pensen zusammen und weniger mit solchen mit hohen Pensen.
- 35 Der Besetzungsalgorithmus beinhaltet entgegen der Terminologie in einigen Abteilungsreglementen kein Zufallselement, sondern zielt auf einen langfristigen Ausgleich der richterlichen Kontostände ab. Zufälligkeit im engeren Sinne findet nur zur Auflösung von Gleichständen in den Besetzungsalgorithmus Eingang, also dann, wenn zwei Richtertripel die gleichen kombinierten Kontostände aufweisen; in der Praxis treten solche Gleichstände gemäss Auskunft des zuständigen Softwareentwicklers nur äusserst selten auf.
- 36 Ein anschauliches Beispiel für eines von der Software nicht berücksichtigtes Zuteilungskriterium ist die «Muttersprachenregel» gemäss Art. 11 ZASAR, welche in den Abteilungen IV und V die Auswahl auf Richterinnen und Richter eingrenzt, deren Muttersprache der Dossiersprache entspricht. Die «Muttersprachenregel» dient der Qualitätssicherung sowie der der Effizienz, da gerade die Asylabteilungen teilweise sehr kurzen, gesetzlich normierten Behandlungsfristen unterworfen sind.
- 37 Für Prozessentscheide ist gemäss Art. 6 des Informationsreglements des Bundesverwaltungsgerichts keine online-Publikation vorgesehen.
- 38 Die Werte in Abbildung 3 addieren sich nicht auf 100 Prozent, weil pro Dossier mehrere Spruchkörperänderungen registriert sein können und es möglich ist, mehrere Eingriffsgründe anzugeben.
- 39 Das Kommentarfeld verlangt lediglich ein Textzeichen. Einträge wie beispielsweise «.» wurden als unbegründet gewertet.
- 40 Gemäss Auskunft des Bundesverwaltungsgerichts dürfte es sich dabei im Wesentlichen um Geschäftslastumverteilungen sowie die Anwendung der Stellvertretungsregelung in den Abteilungen IV und V handeln.
- 41 Die Unterscheidung zwischen Richterinnen und Richtern einerseits und (stellvertretenden) Abteilungs- und Kammerpräsidenten andererseits basiert auf vom Bundesverwaltungsgericht für diese Studie recherchierte Angaben zu den Funktionen von Richterinnen und Richtern seit 2008. Da diese Informationen (mit Ausnahme der Abteilungspräsidien) nicht systematisch vom Bundesverwaltungsgericht aufbewahrt wurden, sind Dokumentationslücken möglich, was zu einer Überschätzung der Anwendungshäufigkeit von Richterinnen und Richtern ohne Funktion im Abteilungs- oder Kammerpräsidium führen könnte.
- 42 Vgl. dazu vorne S. 3 ff.
- 43 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), Empfehlung 1.
- 44 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), Empfehlung 4.
- 45 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), Empfehlung 5.
- 46 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), S. 13.
- 47 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), S. 12.
- 48 Vgl. auch Bericht der PVK (Fn. 4), S. 22.
- 49 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), S. 8 und Empfehlung 6.
- 50 Vgl. auch Bericht der GPK (Fn. 4), Empfehlungen 6 und 7.
- 51 Zur Bedeutung der Fallgewichtung bei der Spruchkörperbildung Andreas Müller, Rechtlicher Rahmen für die Geschäftslastbewirtschaftung in der schweizerischen Justiz, Bern/Baden-Baden/Wien 2016, insb. S. 250 ff.; Daniela Winkler, Fallgewichtung an schweizerischen Gerichten: Methodik von Studien der gewichteten Geschäftslast, Bern/Baden-Baden/Wien 2016, insb. S. 72; siehe auch Thomas Stadelmann, Geschäftslasten-Ausgleich – ein pragmatischer Lösungsbeitrag aus der Praxis, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2018/1; Catherine Reiter / Hans-Jakob Mosimann, Der Belastungsausgleich zwischen Richterinnen und Richtern, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2021/2. Zur Methodik von Geschäftslaststudien Daniela Winkler, Fallgewichtung an schweizerischen Gerichten: Methodik von Studien der gewichteten Geschäftslast, Bern/Baden-Baden/Wien 2020, insb. S. 289 ff.; siehe auch Andreas Lienhard/Daniel Kettiger, Geschäftslastbewirtschaftung bei Gerichten: Methodik, Erfahrungen und Ergebnisse einer Studie bei den kantonalen Verwaltungs- und Sozialversicherungsgerichten, ZBl 110/2009, S. 413 ff.