Richterausbildung
« Quant à la formation, de base ou continue,
elle tend à se développer. Dans les pays de droit
commun, et en Suisse où le juge est élu sur
présentation politique, il était réputé jouir de
la science infuse. Le développement rapide des
législation internes, régionales ou internationales,
ainsi que celui des techniques comportementales,
a mis en doute ce mythe. »
(Philippe Abravanel)
Liebe Leserinnen und Leser
Richterausbildung, Grundausbildung und Fortbildung, erlangen mehr und mehr Bedeutung. Vorbei sind die Zeiten, in denen man glaubte, mit dem Amt werde auch Verstand mitgegeben. Überwunden ist der Mythos, dass der Richter die Weisheit von Amtes wegen gepachtet habe («jouir de la science infuse»). Und dennoch erstaunt die «fehlende Richterqualifikation in der Schweiz … angesichts der hohen Anforderungen richterlicher Tätigkeit, welche arbeitspsychologisch einerseits durch grosse Handlungsspielräume und andererseits durch hohe, vielfach undefinierte und komplexe Anforderungen gekennzeichnet ist», wie Nora Lichti Aschwanden in ihrem Beitrag zum neuen Weiterbildungssystem im Kanton Zürich schreibt.
In der Tat stellen Funktion, Arbeitsgebiet und Arbeitsweise hohe Anforderungen an Richterinnen und Richter. Aber nicht nur erhöhen sich Volumen und Komplexität der Fälle, es erhöht sich auch der Druck auf die Judikative im Allgemeinen und die Richterinnen und Richter im Besonderen. Damit werden richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die Fundamente judikativen Handelns, in Frage gestellt.
All diese Herausforderungen verlangen nach einer soliden Richteraus- und Fortbildung. Zudem wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz gestärkt, wenn die Richterinnen und Richter vertiefte und vielseitige Kenntnisse haben, die über das Gebiet des Rechts und dessen technische Handhabung in der Rechtsprechung hinaus gehen und auch wichtige soziale und wirtschaftliche Belange umfassen. Das Vertrauen der Menschen in die Justiz wird verstärkt, wenn Richterinnen und Richter Sozial- und Sachkompetenz aufweisen, so dass sie im Gerichtssaal Streitigkeiten zu behandeln und mit allen betroffenen Personen in angemessener und offener Weise zu verkehren wissen (vgl. dazu die Stellungnahme des Beirats der europäischen Richter, Nr. 4 ;Avis No 4 CCJE).
Die vorliegende Ausgabe der Schweizer Richterzeitung «Justice - Justiz - Giustizia» widmet sich dem Thema Richterausbildung und Richterfortbildung in der Schweiz, aber auch in anderen Ländern Europas und auf internationaler Ebene.
So untersucht Pierre Zappelli die Vorteile und Gefahren einer professionellen Richterausbildung in der Schweiz. Wenn ein Wahlorgan, z.B. das Parlament bei Kandidatinnen und Kandidaten zwischen deren juristischen Fähigkeiten und persönlichen Kompetenzen einerseits (die diese Kompetenzen z.B. durch eine spezifische Richterausbildung erworben haben) und Parteizugehörigkeit andererseits zu wählen hat, wird in den meisten Fällen die Parteizugehörigkeit den Ausschlag für die Wahl geben. Würden dann nicht all jene, die sich im Vertrauen auf die Berücksichtigung einer spezialisierten Richterausbildung um ein Richteramt beworben haben enttäuscht und frustriert sein? Oder kann sich eine fundierte Richterausbildung mit der Zeit als Qualitätsmerkmal für Richterkandidaten und Kandidatinnen durchsetzen?
Hansjörg Seiler schreibt über den ersten Studiengang «Judikative» des Vereins «Schweizerische Richterakademie» und die Erfahrungen, die damit bisher gemacht wurden. David Heeb, Charlotte Schoder und Jürg Steiger berichten über ihre Erfahrungen als Teilnehmer dieses ersten Lehrgangs, der auf der Vermittlung von fundierten praktischen Kenntnissen über die richterliche Tätigkeit basiert und zugleich eine theoriegestützte Weiterbildung ermöglicht.
Christoph Ill und Jürg Sollberger stellen das Competence Center Forensik und Wirtschaftskriminalistik vor, Isabelle Augsburger-Bucheli und Renaud Weber die «Ecole romande de la magistrature pénale» und das «Institut de lutte contre la criminalité économique». Florence Krauskopf schreibt über die beruflichen Herausforderungen und die Rolle der Schweizerischen Stiftung für Richterfortbildung, Nora Lichti Aschwanden erläutert das Weiterbildungssystem «Richterportfolio» des Kanton Zürichs und Stephan Stucki beschreibt das Richter-Weiterbildungssystem des Kantons Bern .
Schliesslich beschreiben Michael Gressmann und Laurent Bedouet in ihren Beiträgen die Richteraus- und Fortbildung in Deutschland und Frankreich und Matthias Stein-Wigger und Stephan Gass zeigen die internationale Dimension der Richterausbildung auf.
Im Forumsbeitrag geht Aline Talleri der Frage nach, ob die Unabhängigkeit einer Strafverfolgungsbehörde einen Einfluss auf die Entstehung von Justizirrtümern spielt. Mit Blick auf die USA und Europa untersucht sie insbesondere das Staatsanwaltschaftssystem, das 2011 in der Schweiz eingerichtet wird. Jean Mirimanoff stellt sich in seinem Forumsbeitrag die (rhetorische) Frage, ob denn die Mediation nicht in unserer Kultur heimisch sei.
Wie gewohnt finden Sie in dieser Ausgabe zudem aktuelle Berichte aus den Kantonen und dem Ausland, eine Nachlese, Personalia sowie eine aufdatierte Version der Bibliographie zum Richterrecht.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.
Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli