Justice - Justiz - Giustizia

Liebe Leserinnen und Leser

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht im Fokus des Hauptbeitrages dieser Ausgabe, verfasst von Ständerat Dick Marty. Der Beitrag von Marty («La Cour de Strasbourg: espoirs et dangers») zeigt – entgegen seinem Titel – nicht nur auf, was die Hoffnungen sind, die auf dem Gerichtshof ruhen, und welche Gefahren ihm drohen. Er geht weit darüber hinaus und beschäftigt sich viel allgemeiner mit der Situation der Justiz und dem Druck auf den Rechtsstaat in diversen Ländern Europas, aber auch in der Schweiz. Marty macht auf die allgemein in Europa zu beobachtende Tendenz aufmerksam, die Kompetenzen der unabhängigen Justiz zu beschneiden: «La séparation des pouvoirs est toujours déclamée, mais elle dérange quand elle est vraiment appliquée.» Martys Beitrag befasst sich auch mit den Wahlen der Richterinnen und Richter des Gerichtshofes; anlässlich eines Seitenblicks auf die Schweiz zeigt er auf, dass der Unabhängigkeit auch hier Gefahren drohen und bemerkt, dass die Rolle der politischen Parteien bei den Richterwahlen in der Schweiz vielfach zu exzessiv und kaum vereinbar mit den Anforderungen an richterliche Unabhängigkeit sei. Was die Auswahl der Schweizer Kandidaten für ein Richteramt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte betrifft, sieht Marty ebenfalls Handlungsbedarf: seine Ausführungen, wonach es keinerlei formelle Vorschriften gibt, welche das vom EDA geleitete Auswahlprozedere und die Rolle parlamentarischer Gremien (z.B. der Gerichtskommission) bei diesem Prozedere regeln, mag erstaunen; seine Folgerung, dass dies geändert werden sollte, erscheint als zwingend.

Ebenfalls mit Richterwahlen beschäftigen sich zwei Zweitpublikationen, die ursprünglich beim Brennan Center veröffentlicht wurden. Der Beitrag von Sidney S. Rosdeitcher beschäftigt sich mit der Frage, welche Qualifikationen Kandidaten für die Position als Richterin oder Richter am US Supreme Court aufweisen sollten. Der Beitrag von Adam Skaggs befasst sich mit den Wahlkämpfen für Richterstellen in den USA und zeigt auf, wie dort mit massiven Geldmitteln versucht wird, Partikularinteressen in der Justiz zum Durchbruch zu verhelfen. Die von John Grisham in Romanform behandelten Gegebenheiten (vgl. «Berufung», Besprechung in der Richterzeitung 2009/2) scheinen entgegen unserer Rezension nicht blosse Fiktion, sondern bittere Realität zu sein. Und wenn auch die Verhältnisse in der Schweiz tatsächlich nicht mit den USA vergleichbar sind, so sind die Überlegungen in beiden Beiträgen sicher auch für die an der Schweizer Justiz Interessierten spannend.

Einen weiteren Blick über den Grenzzaun erlaubt der Beitrag von Michael Gressmann zur Diskussion der Selbstverwaltung der Justiz in Deutschland. Seine Darstellung verschiedener Modelle ist auch aus Schweizer Sicht interessant, ist doch die Selbstverwaltung der Justiz auch hierzulande je nach Kanton sehr unterschiedlich ausgestaltet. Gressmann beschäftigt sich am Rande auch mit dem Richterwahlprozedere in Deutschland. Den Schweizer Leser mag dabei vieles erstaunen, so zum Beispiel die Möglichkeit der Konkurrentenklage durch unterlegene Kandidaten. Aber auch die Ausführungen zur Dienstaufsicht und die damit verknüpfte Klagemöglichkeit gegen Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit sind ein Nachdenken wert.

Direkt mit der Schweizer Rechtsprechung befasst sich der Beitrag von Daniel Rietiker, welcher über das Urteil der Grossen Kammer des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Neulinger und Shuruk betreffend den Fall einer internationalen Kindsentführung berichtet.

Der Beitrag von Peter Josi – Nachdruck aus der NZZ – beschäftigt sich mit der Zusammensetzung der Richterbank beim Zürcher Handelsgericht. Nachdem diese Thematik seit einiger Zeit immer wieder zur Diskussion steht, hat das Bundesgericht nun kürzlich mit einem Urteil in einem Teilpunkt für mehr Klarheit gesorgt.

Abgerundet wird die aktuelle Ausgabe wie immer durch aktuelle Berichte aus den Kantonen und aus Bundesbern und durch Hinweise auf neu erschienene Literatur.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre.

Anne Colliard, Stephan Gass, Regina Kiener, Hans-Jakob Mosimann, Thomas Stadelmann, Pierre Zappelli

 

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