1.
Einleitung ^
Auch dieses Jahr hätte Anfang September die Jahreskonferenz der European Group for Public Administration (EGPA) stattfinden sollen. Geplant war, die diesjährige Konferenz in der Corvinus Universität in Budapest abzuhalten. Aufgrund der Covid‑19-Pandemie musste die Konferenz jedoch um ein Jahr auf September 2021 verschoben werden. Als Ersatz wurde die EGPA-IASIA 2020 e‑Conference aufgegleist, welcher sich auch die Permanent Study Group «Justice and Court Administration» anschloss. Die Study Group plante eine eintägige Konferenz über Zoom, die Interessierte aus der ganzen Welt zusammenbringen sollte.
Die Study Group steht unter der Leitung von vier Co-Vorsitzenden. Die Konferenz wurde von Andreas Lienhard und Daniel Kettiger (Kompetenzzentrum für Public Management, Universität Bern) moderiert. Zum Schluss fassten die Mitvorsitzenden Anne Sanders (Universität Bielefeld, Deutschland) und Marco Fabri (National Research Council of Italy, Bologna, Italien) die Erkenntnisse der Konferenz zusammen und reflektierten diese.1
Zu Beginn der Konferenz richtete auch der Präsident der EGPA, Jean-Michel Eymeri-Douzans, einige Worte an die Teilnehmenden. Danach folgten zehn Präsentationen aus verschiedenen Ländern, die in drei Sessions aufgeteilt wurden.2 Die Konferenz verschaffte dadurch einen Einblick in die weltweiten Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie auf die Justiz. Durchschnittlich 35 Personen waren virtuell an der Konferenz anwesend. Zuhörer und Zuhörerinnen regten die Diskussion nach den Präsentationen mit kritischen Fragen an.
Im Folgenden soll zusammenfassend auf die Präsentationen der diesjährigen ausserordentlichen Konferenz eingegangen werden.
2.
Institutionelle und organisatorische Aspekte ^
Ragna Aarli (University of Bergen, Norwegen) und Wiggo Storhaug Larssen (Norwegian Association of Judges, Gulating Court of Appeal, Norwegen) referierten zur Autonomie der Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten und deren Auswirkungen auf den Zugang zu Gerichten im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie. Diese hat in Norwegen dazu geführt, dass der Betrieb in den Gerichten unterschiedlich weitergeführt wurde. Infolgedessen gab es erhebliche Unterschiede bezüglich der Bearbeitung von Gerichtsverfahren, je nachdem, an welchem Ort in Norwegen eine Angelegenheit eingereicht wurde oder hängig war. Es wird dafür im norwegischen Rechtssystem ein Weg gesucht, eine einheitliche Regelung durchzusetzen, ohne dass die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet wird. Die Referierenden stellen sich dabei die Frage, ob es dafür eine Art «Best Practice» gebe.
Costas Popotas (Gerichtshof der Europäischen Union, EuGH, Luxemburg) legte dar, wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein Notfallkonzept umsetzte, welches bereits einige Jahre zuvor für den Fall einer Pandemie erstellt worden war. Im Rahmen dieses Notfallkonzepts wurde auch ein Vorrat an Schutzmaterialien angelegt. Diese Vorarbeiten erwiesen sich in jüngster Zeit als sehr hilfreich und verschafften dem Gerichtshof einen erheblichen Vorteil in der Bewältigung der Umstände im Zusammenhang mit Covid‑19. Bis Ende Mai konnte das Personal komplett für das Homeoffice ausgerüstet werden. Anstelle von mündlichen Verhandlungen und Anhörungen sowie Dokumentationen in Papierform wurden schriftliche, digitale Prozesse eingeführt. Beratungen unter Richtern und Richterinnen wurden später über Videokonferenzen durchgeführt. Der Gerichtshof konnte durch die ergriffenen Massnahmen einen grossen Arbeitsrückstand vermeiden. Schwierigkeiten bestanden für die Mitarbeitenden vor allem durch die geschlossenen Grenzen, da viele im umliegenden Ausland leben.
Die Gerichtsorganisation in Israel wurde von Guy Lurie (Israel Democracy Institute, Israel) nähergebracht. Dazu erläuterte er ebenfalls die ergriffenen Massnahmen während der Pandemie. Zu Beginn wurden die Gerichte teilweise geschlossen und die Bearbeitung auf ungefähr ein Drittel aller geplanten Verfahren eingeschränkt. Behandelt wurden nur noch dringliche Fälle, davon waren etwa die Hälfte Haftverfahren. Bereits vor der Pandemie waren elektronische Eingaben möglich, daneben wurden Videokonferenzen durchgeführt. Um die Öffentlichkeit der Verfahren zu gewährleisten, wurden einige Verhandlungen des Supreme Courts im Fernsehen übertragen. Die rechtliche Grundlage für diese Massnahmen war ein Ministerialerlass des Justizministeriums, d.h. einem Exekutivorgan, basierend auf der Kompetenz, einen Ausnahmezustand in der Justiz ausrufen zu dürfen. Der Referent sieht aufgrund dieses Vorgehens in erster Linie die Unabhängigkeit der Gerichte sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte gefährdet, auch wenn er die Notwendigkeit der Massnahmen nicht anzweifelt. Er kommt zum Schluss, dass eine Reform zur Regelung der Kompetenzen in Notsituationen notwendig ist.
3.
Technologie und Verfahren ^
Jyoti Rattan präsentierte die gemeinsame Arbeit mit Vijay Rattan (beide Panjab University, Indien) zu den Herausforderungen der indischen Gerichts- und Justizadministration in der Covid‑19-Krise. Sie unterscheidet dabei in E-Gerichte und E-Justiz. E-Gerichte ermöglichen lediglich den Austausch von Informationen auf digitalem Wege. Informationen zu Gerichtsverfahren werden in Indien zum Beispiel über eine App bereitgestellt. Die E-Justiz dagegen ermöglicht Interaktionen, Anhörungen und Befragungen. Die in Indien bestehenden E-Gerichte wurden aufgrund von Covid‑19 gezwungen, in kurzer Zeit zur E-Justiz zu gelangen. Momentan sind mehr als 30 Millionen Fälle vor indischen Gerichten hängig. Diese Zahl steigt stetig, da die E-Justiz die Verfahren entgegen den Erwartungen nicht beschleunigt hat. Dies liegt daran, dass die Technologie noch zu wenig fortgeschritten ist. Aus demselben Grund können momentan nur dringliche Angelegenheiten beurteilt werden. Das grösste Problem stellt weiterhin die vielerorts fehlende oder schlechte Internetverbindung dar.
Die Möglichkeiten der elektronischen Verfahren in Belgien wurden von Eric de Formanoir (Supreme Judicial Court, Belgien) vorgestellt. Auch in Belgien haben sich die Gerichte grundsätzlich auf dringliche Verfahren beschränkt, dazu gehören vor allem Strafverfahren. Ebenfalls wurden die existierenden Möglichkeiten der elektronischen Eingaben sowie ab und zu Videokonferenzen eingesetzt, obwohl diese nicht gesetzlich geregelt sind. Der Referent schlägt vor, die Verfahrenseinleitung elektronisch zu ermöglichen und die aktuellen elektronischen Eingabeprozesse zu verbessern sowie weiterzuentwickeln. Ebenfalls sollen die Akten digital geführt werden. Er schlägt zudem vor, die Videokonferenzen gesetzlich zu regeln sowie die damit verbundene Infrastruktur in den Gerichten bereitzustellen. Der rechtliche Rahmen soll erlauben, dass die Richterinnen und Richter die Möglichkeit haben, ein Verfahren über Videokonferenzen abzulehnen. Ebenfalls sollen diese für Ausnahmen in Notfällen oder auf Wunsch der Parteien vorbehalten bleiben.
Die Herausforderungen der Justiz in Michigan, USA, im Zusammenhang mit Covid‑19, wurden von Bridget Mary McCormack (Michigan Supreme Court, USA) erläutert. Der Michigan Supreme Court hat mehrere Weisungen zur Eindämmung des Virus herausgegeben. Gleichzeitig wurden die Schwellen für Online-Verfahren gesenkt und die Richter und Richterinnen dürfen ausserhalb des Gerichtssaales vorsitzen. Gerichtsverhandlungen und ‑anhörungen werden mittlerweile über Zoom durchgeführt und auf YouTube übertragen. Dazu wurde eine Internetseite eingerichtet, bei der alle Liveübertragungen angezeigt werden. Ebenfalls gibt es eine Online-Konfliktlösungsplattform (Online Dispute Resolution) für kleinere Zivilstreitigkeiten, auf der auch Mediatorinnen und Mediatoren zur Verfügung stehen. Wenn es zu einer Einigung kommt, konvertiert die Plattform den Vergleich in ein Gerichts-Formular, übermittelt dieses an das Gericht und der Rechtsstreit gilt als erledigt. Die Referentin hält fest, dass virtuelle Gerichtssäle bestehen bleiben werden. Obwohl die physische Anwesenheit nicht besteht, werden digitale Gerichtsverhandlungen für die Öffentlichkeit zugänglicher. Bei den Beteiligten, vor allem bei Kindern, können positive Effekte der Video-Anhörungen beobachtet werden. Digital durchgeführte Geschworenenprozesse, insbesondere im Strafrecht, werden nach der Referentin eine grosse Herausforderung werden.
John Sorabji (University College London, UK) referierte zu den strukturellen Veränderungen, die die Covid‑19-Pandemie in den englischen und walisischen Gerichten bewirkt hat. Seit vier Jahren wird die Digitalisierung der Justiz angestrebt. Es wurde erwartet, dass das Justizsystem durch die Digitalisierung schneller, günstiger und benutzerfreundlicher wird. Die Umsetzung ging jedoch nur langsam vorwärts, namentlich auch die Implementierung der Video-Anhörungen. Dies änderte sich aufgrund der Umstände rasch und die Verfahren wurden standardmässig digital durchgeführt. Einzig Geschworenenprozesse wurden vorläufig ausgesetzt. Die High Courts konnten dank der erzwungenen Umsetzung dieses Pilotprojekts ca. 80% des Betriebs aufrechterhalten. Eine erste Umfrage hat jedoch die zuvor genannten Erwartungen nicht bestätigt. Obwohl die Zufriedenheit ansonsten relativ hoch war, haben mehr als die Hälfte der befragten Personen angegeben, technische Probleme gehabt zu haben. Es wird aufgezeigt, dass diese Umfrage nicht repräsentativ genug ist und daher mehr Evaluationen notwendig sind. Insbesondere sind die Parteien vermehrt einzubeziehen.
4.
Themenübergreifende Erfahrungen ^
Anne Wallace präsentierte die gemeinsame Arbeit mit Kathy Laster (beide Sir Zelman Cowen Centre, Victoria University, Australien), in der sie sich mit der digitalen Innovation der Gerichte in Victoria, Australien, beschäftigten. Obwohl die Gerichte dort bereits einige Fortschritte im Bereich der Digitalisierung gemacht hatten, wurden diese nicht standardmässig genutzt. Die Covid‑19-Pandemie führte dazu, dass dies gezwungenermassen geändert wurde. Die Autorinnen der präsentierten Arbeit stellen sich jedoch die Frage, ob die Umsetzung derselben Verfahren über digitale Lösungen tatsächlich als innovativ bezeichnet werden darf. Sie sind sich nicht einig, ob die Gerichte mit Covid‑19 als Katalysator die Innovation vorantreiben werden. Ihrer Ansicht nach müssen die Gerichte mit dem Fortschritt in anderen Sektoren mithalten können, um ihre gesellschaftliche Legitimation nicht zu riskieren. Ebenfalls werden dafür Führung und kulturelle Veränderungen verlangt.
Jessica Vitorino Martins und Marcos de Moraes Sousa stellten eine laufende Studie vor, die sie zusammen mit Renato Máximo Sátiro (alle Federal University of Goiás, Brasilien) durchführen. Die Studie befasst sich mit den aufgrund von Covid‑19 in Brasilien ergriffenen Massnahmen in der Justiz und der Wahrnehmung der Mitarbeitenden. Sowohl für die Gerichte wie auch für die Mitarbeitenden konnten Vor- und Nachteile des Homeoffice und damit der digitalen Umsetzung der Verfahren festgestellt werden. Einerseits sind die Kosten des Gerichts für die IT-Ausstattungen gestiegen, andererseits sind dafür Unterhalts- und sonstige Materialkosten gesunken. Die Mitarbeitenden sparen zwar Verpflegungs- und Reisekosten, die Kosten für private Geräte im Homeoffice werden ihnen jedoch nicht erstattet. In der Produktivität der Arbeitnehmenden konnte eine Steigerung festgestellt werden. Diese beklagen aber verlängerte Arbeitszeiten, fehlende Abgrenzung und zunehmende psychische Belastung. Problematisch ist zudem, dass in Brasilien nicht alle Gebiete des Landes mit Internet versorgt sind, was insbesondere auch die Parteien betrifft. Die Referierenden erkennen weiteren Forschungsbedarf.
João Paulo Dias und Paula Casaleiro präsentierten eine gemeinsame Studie mit Teresa Maneca Lima und Conceição Gomes (alle Centre for Social Studies, University of Coimbra, Portugal) zu den Arbeitsbedingungen der juristischen Professionen in Portugal während der Covid‑19-Krise. Die Analyse bezieht sich auf Richter und Richterinnen, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Gerichtsschreiber und Gerichtsschreiberinnen. Obwohl Homeoffice, sofern möglich, obligatorisch war, hatte die Justizadministration zu wenig Ressourcen, um alle Mitarbeitenden dafür auszurüsten. Als Folge davon mussten insbesondere die Sekretariate, die Staatsanwaltschaften – mit Ausnahme der Magistratspersonen – und ein Teil der Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber vor Ort weiterarbeiten. Es wird deshalb festgehalten, dass die Arbeitsverhältnisse je nach beruflicher Stellung sehr unterschiedlich waren. Die IT-Ressourcen müssen ausgebaut und die Mitarbeitenden in diesen Bereichen geschult werden. Im Vergleich zu anderen öffentlichen Institutionen waren Gerichte die Letzten, die zum Normalbetrieb zurückkehren konnten. Dies hängt damit zusammen, dass die Gesundheits- und Schutzmassnahmen für den Betrieb vor Ort stark kritisiert wurden. Es fehlte zum Beispiel an genügend grossen Räumen, der Möglichkeit, Räume genügend zu lüften oder an Schutzmaterialien, wie unter anderem an Desinfektionsmitteln. Aufgrund der limitierten Bearbeitung der Gerichtsverfahren wird zudem ein erheblicher Arbeitsrückstand befürchtet.
5.
Reflektion ^
Zum Abschluss reflektierten Anne Sanders und Marco Fabri die Präsentationen. Anne Sanders hielt fest, dass Covid‑19 den Innovationsdruck auf die Gerichte verstärkte und sie zwang, sich den Verhältnissen in kurzer Zeit anzupassen. Gleichzeitig muss die Unabhängigkeit der Gerichte gewährleistet bleiben. Weiter kann aus der Covid‑19-Pandemie gelernt werden, dass sich auch die juristischen Berufe weiterentwickeln müssen. Die Interaktion mit der Öffentlichkeit und das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte ist ein zentraler Punkt der Covid‑19-Krise. Marco Fabri wies vor allem darauf hin, dass die technische Infrastruktur sowie die IT-Kenntnisse in vielen Ländern noch nicht den notwendigen Stand erreicht haben. Aufgrund dieser Tatsache bezweifelte er, dass der Zugang zu den Gerichten durch die Digitalisierung verbessert wird. Des Weiteren wurde hervorgehoben, dass Anwälte und Anwältinnen in die Diskussion miteinbezogen werden müssen. Wichtig ist schliesslich, dass die Ressourcen der Justiz im Hinblick auf die zusätzlichen Herausforderungen ausgebaut werden.
6.
Ausblick ^
Die Permanent Study Group «Justice and Court Administration» wird sich, sofern es die Umstände im Zusammenhang mit Covid‑19 erlauben, anlässlich der verschobenen Jahreskonferenz der European Group for Public Administration (EGPA) vom 1. bis am 3. September 2021 in Budapest treffen. Im Februar 2021 wird voraussichtlich die Einladung zur Unterbreitung von wissenschaftlichen Beiträgen (Call for Papers) erfolgen.3
Tania Munz, BLaw, ist Hilfsassistentin am Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) der Universität Bern und führt das Sekretariat der Permanent Study Group XVIII «Justice and Court Administration» der European Group for Public Administration (EGPA).
- 1 Weitere Informationen zur Permanent Study Group XVIII «Justice and Court Administration» sind unter https://egpa.iias-iisa.org/PSG_XVIII_JUSTICE_AND_COURT_ADMINISTRATION.php abrufbar (alle Internetseiten zuletzt besucht am 15. Oktober 2020).
- 2 Das Programm der Konferenz ist hier verfügbar: http://www.justizforschung.ch/pdf/EGPA_PSG_XVIII_Programrs_COVID-19_V_4-0_200902.pdf.
- 3 Siehe https://egpa.iias-iisa.org/EGPA__ANNUAL_CONFERENCES.php.