Justice - Justiz - Giustizia

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
Mit der eidgenössischen Abstimmung vom 28. November 2021 über die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justizinitiative)» erleben wir diesen Herbst einen für die Schweizer Justiz entscheidenden Moment. Es sei daran erinnert, dass die Richterzeitung bereits zu Beginn des Jahres (1/2021) eine Schwerpunktausgabe zur Richterbestellung vorgelegt hat. Die vorliegende Ausgabe der Richterzeitung enthält mehrere Beiträge, die die Bedeutung eines ordnungsgemässen Auswahlverfahrens für die richterliche Unabhängigkeit aufzeigen.

In zwei verschiedenen Beiträgen behandeln Catherine Reiter und Thomas Stadelmann zwei Aspekte der Justizorganisation, die mit dem Grundprinzip der richterlichen Unabhängigkeit in Wechselwirkung stehen können. In «Das Referentensystem» beschreiben die Autoren die besondere Stellung des Referenten (oder Berichterstatters) im Rahmen der Instruktionsphase wie auch in der Beratung. Dieses System stellt eine tägliche Herausforderung dar, der nur die qualifiziertesten Richterinnen und Richter gerecht werden können. Es ist daher sinnvoll, im Bestellungsverfahren zu prüfen, ob die für das Richteramt infrage kommende Person die dafür erforderliche Eignung besitzt. Dazu gehören Pflichtbewusstsein und die Bereitschaft, sich zu engagieren. In ihrem den «Informelle[n] Hierarchien in der Justiz» gewidmeten Beitrag weisen die Autoren auf die potenzielle Gefahr hin, die diese für die Unabhängigkeit des Richteramts darstellen können. Um dieses Risiko zu minimieren, ist bei der Bestellung von Richterinnen und Richtern darauf zu achten, dass sie über eine Persönlichkeit verfügen, die Einflüssen widerstehen vermag, die sich aus diesen informellen Hierarchien ergeben können.

Wer sich umfassend und aktuell mit der Frage der Richterbestellung befassen möchte, dem sei die Dissertation von Alfio Russo («Les modes de désignation des juges») ans Herz gelegt. Thomas Stadelmann verschafft uns mit seiner Rezension einen Überblick über dieses umfangreiche Werk (608 Seiten), dessen strukturierte Darstellung und detailliertes Inhaltsverzeichnis jedoch einen schnellen Zugang zu den Themen ermöglichen, die für den Leser von Interesse sein könnten.

Zum Thema der Ernennung von Richtern befasst sich Ivan Gunjic in seinem Beitrag «Die Partialerneuerung. Überlegungen zur Einführung von einmaligen bestimmten Amtszeiten am Bundesgericht» mit einem weniger aktuellen, aber ebenso wichtigen Aspekt für die Beständigkeit der Rechtspflege. Der Autor erörtert die möglichen Folgen der Einführung einheitlicher Amtszeiten von Richterinnen und Richtern: in bestimmten Legislaturperioden könnte es zu gruppenweisen gleichzeitigen Abgängen führen. Um einen solchen unerwünschten Effekt zu vermeiden, schlägt er vor, einheitliche Amtszeiten mit einem System der teilweisen Neubesetzung der Gerichte nach noch festzulegenden Regeln zu kombinieren.

In Ergänzung zu diesen Beiträgen möchten wir Sie auch auf die Podiumsdiskussion zum Thema Justizinitiative aufmerksam machen, die unser Verlag am 16. August in Form eines Webinars organisiert hat. Die Podiumsdisussion ist weiterhin auf dem YouTube-Kanal von Weblaw abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=Q9LF6iknX5I.

Die Welt der Justiz beschränkt sich jedoch nicht auf die Richterbestellung und auch weitere Aspekte des Gerichtswesens werden in der vorliegenden Ausgabe thematisiert.
 
So enthält diese drei Aufsätze aus dem CAS Judikative. Im Ersten Aufsatz («Behandlungsfristen für Justizbehörden. Erscheinungsformen, Bedeutung und Wirkung»), befasst sich Nicolas Haldimann mit den Fristen, die der Bundes- oder die kantonalen Gesetzgeber den Justizbehörden für die Erledigung bestimmter Aufgaben setzen. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei diesen Fristen in den meisten Fällen lediglich um Ordnungsfristen handelt, deren Überschreitung keine wirklichen Folgen hat, stellt sich die Frage nach ihrer tatsächlichen Wirksamkeit im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers, die Rechtspflege zu beschleunigen. Im zweiten Aufsatz gibt Petra Vanoni einen Überblick über die historischen Ursprünge dreier charakteristischer Elemente der Tessiner Justizorganisation (die Friedensrichter, die Schöffen und die Situation des kantonalen Strafgerichts, wo die Berufungsinstanz in denselben Räumlichkeiten untergebracht ist wie das erstinstanzliche Gericht). Die drei Elemente der Justizorganisation sind unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Justiz umstritten und Gegenstand einer breiten politischen und rechtlichen Debatte («Organizzazione giudiziaria del Canton Ticino. Qualche specificità all’ombra della Costituzione»). Im dritten Aufsatz schliesslich zeigt Mariona Jacquérioz auf, dass der Grundsatz der Öffentlichkeit und der sich daraus ergebende Grundsatz der Transparenz jeweils für das reibungslose Funktionieren der Justiz zwar unerlässlich ist, eine exzessive Medienberichterstattung von Strafsachen jedoch kontraproduktiv wirken und verschiedene wesentliche Schutzmechanismen des Strafverfahrens untergraben kann («La surmédiatisation des affaires criminelles. Dérive ou contre-pouvoir nécessaire?»).

Auch der digitale Wandel der Justiz stellt einen entscheidenden Schritt dar, der die Rechtspflege in den kommenden Jahren beschäftigen wird. In «Der digitale Wandel der Justiz – was soll und kann er leisten? Das Projekt Justitia 4.0 und die Auswirkungen auf die Justizbehörden» stellen Jacques Bühler, Gesamtprojektleiter von Justitia 4.0, und Barbara Widmer, Vertreterin des Datenschutzbeauftragten des Kantons Basel-Stadt, den Entwurf zum neuen Bundesgesetz über die Plattform für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) vor, den der Bundesrat in die Vernehmlassung geschickt hat. Die Autorin und der Autor liefern weitere Hintergrundinformationen zum Projekt Justitia 4.0.

In der SVR/ASM-Kolumne verweist Patrik Müller-Arenja, Gerichtspräsident beim Zivilgericht Basel-Stadt, auf die vom Ständerat diskutierte Änderung von Art. 245 Abs. 1 ZPO, die das Gericht verpflichten würde, eine wegen fehlender schriftlicher Begründung einer Klage anberaumte Verhandlung bei Nichterscheinen einer Partei zu verschieben und die Parteien ein zweites Mal vorzuladen. Der Verfasser ist der Ansicht, diese Änderung drohe die Glaubwürdigkeit der Justiz zu beschädigen und hofft, dass der Nationalrat diese Änderung nicht aufgreifen wird.

Schliesslich runden wie gewohnt die Chronik des Venice Commission Observatory mit einer Auswahl an internationalen Medienberichten über die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte und das Bibliografie-Update diese Ausgabe der Richterzeitung ab.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre dieser Herbstausgabe.

Arthur BrunnerStephan GassSonia GiamboniAndreas LienhardHans-Jakob MosimannAnnie Rochat PauchardThomas Stadelmann

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