Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Ein für die Schweizer Judikative wichtiges Jahr neigt sich dem Ende zu. Geprägt war es von der durch die Justizinitiative angestossenen Diskussion in Fachzeitschriften, aber auch in Tageszeitungen und elektronischen Medien. In der Abstimmung vom 28. November wurde die Justizinitiative bekanntlich deutlich abgelehnt. Dies darf nun nicht der Endpunkt der Debatte sein. Die von vielen Seiten monierten Probleme sind anzugehen und Lösungen zu entwickeln: breit anerkannt ist heute – auch dank der durch die Justizinitiative ausgelösten Diskussion – ein Handlungsbedarf insbesondere betreffend Wiederwahlen, Mandatssteuern und Verstärkung der Bestenauslese (insbesondere verbunden mit der Öffnung des Richteramtes für Parteilose und Ungebundene).
In der politischen Debatte um die Justizinitiative ist nicht nur viel behauptet, sondern auch viel versprochen worden. Ein Vorstoss, die Mandatssteuer abzuschaffen, ist von der Rechtskommission des Nationalrats freilich schon vor dem Abstimmungssonntag zu Makulatur gemacht worden. Kaum Grund zur Zuversicht besteht auch mit Blick auf das Versprechen, den Druck der Wiederwahl auf die Richter zu mildern, zumal dies de jure eine Verfassungsänderung bedingen würde; noch am Abstimmungssonntag war aus dem Kreise der Parlamentarierinnen und Parlamentarier ausserdem zu vernehmen, Wiederwahlen seien bestens geeignet, periodisch die demokratische Legitimation der Justiz sicherzustellen.
Aus der Politik tönt es mithin so, als ob mit der Judikative in der Schweiz nach der Abstimmung mehr oder weniger im gewohnten Stil weiterverfahren werden soll. Gefordert ist damit die Richterschaft – vertreten insbesondere durch die Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter; sie muss die notwendigen Verbesserungen druckvoll einfordern. Wie das gehen könnte, haben die jurassischen Richter auf einem Nebenschauplatz aufgezeigt (Mandatssteuern). Aktiv bleiben sollte freilich auch die Wissenschaft. Insbesondere ist zu hoffen, dass der bestehende Reformbedarf von dieser Seite auch weiterhin klar benannt wird. Doch das betrifft die – nähere – Zukunft. Wenden wir uns der Gegenwart zu, konkret der vorliegenden Richterzeitung: Sie erhalten mit dieser Ausgabe von «Justice - Justiz - Giustizia» ein buntes Potpourri von Beiträgen zur Judikative.
In «Automatisierte Spruchkörperbildung an Gerichten – Grundlagen und empirische Erkenntnisse am Beispiel des Bundesverwaltungsgerichts» befassen sich Konstantin Büchel, Regina Kiener, Andreas Lienhard und Marcus Roller mit softwarebasierter Spruchkörperbildung. Sie gehen auf deren rechtliche und konzeptionelle Grundlagen ein, schildern die Umsetzung anhand einer Fallstudie zum Bundesverwaltungsgericht, und legen verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse für die automatisierte Spruchkörperbildung vor.
Florian Geering präsentiert mit «Do You Need a Lawyer? – Influence of Legal Representation on Case Outcomes Before the Swiss Federal Supreme Court» seine – auch rechtsgebietsspezifisch aufgeschlüsselte – empirische Forschung zur Frage, wie sich eine fachkundige Rechtsvertretung auf die Erfolgsaussichten in Verfahren vor dem Bundesgericht auswirkt. Thematisiert wird auch die Frage, wie eine allfällige Rechtsvertretung mit den Gerichtskosten zusammenhängt. Nachdem die subsidiäre Verfassungsbeschwerde bei der nach wie vor ausstehenden Revision des BGG offenbar ausgeklammert werden soll, ist insbesondere sein Hinweis von Interesse, dass mit Blick auf die angestrebte Entlastung des Bundesgerichts Massnahmen zur Verringerung der Zahl unzulässiger Verfassungsbeschwerden von unvertretenen Klägern geprüft werden sollten.
Reto Sieber überprüft in seinem Beitrag «Der Beweis im Schlichtungsverfahren – Vom Schlichter zum Richter?» die Arbeitshypothese, wonach bei schweizerischen Schlichtungsbehörden überwiegend mit dem Urkundenbeweis gearbeitet und auf die Abnahme der übrigen Beweismittel aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen verzichtet wird. Das Ergebnis seiner empirisch abgestützten Untersuchungen sei hier nicht vorweggenommen.
Gleich vier Beiträge befassen sich mit der Justizöffentlichkeit. Ares Bernasconi behandelt in «Pubblicità del processo: principio ed eccezioni» den Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit, dessen verfassungs- und konventionsrechtliche Grundlagen und die Umsetzung in Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren (einschliesslich Bundesgerichtsverfahren). Anhand eines Falles, der sich im Kanton Tessin zugetragen hat, weist er auf die Unterschiede zwischen eidgenössischer und kantonaler Gerichtsbarkeit hin. André Bomatter befasst sich in «Justizöffentlichkeit von Vergleichsverhandlungen» mit der durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung gestützten Entwicklung, dass ein erheblicher Teil gerichtlicher Zivilverfahren durch Vergleich erledigt wird, womit ein weitgehender Ausschluss der Öffentlichkeit einhergeht. Patrick Bischoff untersucht in «Justizöffentlichkeit im schweizerischen Strafprozessrecht – Eine (kritische) Auslegeordnung», wie sich die Ausgestaltung der Justizöffentlichkeit im Strafrecht zu höherrangigem Recht verhält. Er zeigt auf, wie der Gesetzgeber bei künftigen Anpassungen des bestehenden Verfahrensrechts dem Öffentlichkeitsgrundsatz mehr Gewicht einräumen und bestehenden Gestaltungsspielraum ausschöpfen könnte.
Einen etwas anderen Aspekt der Justizöffentlichkeit beleuchtet Aline Nardin-Grossen im Beitrag «Enquête de satisfaction – L’expérience de la justice neuchâteloise». Sie untersucht die verschiedenen Phasen der neuenburgischen Zufriedenheitsumfrage bei Rechtsuchenden und Rechtsvertretern, indem sie zunächst die Entstehung des Projekts, die im Vorfeld getroffenen Entscheidungen und die gewählte Methode erläutert. Anschliessend beschreibt sie den Ablauf der Umfrage, analysiert deren Ergebnisse, skizziert Verbesserungsmöglichkeiten und zieht eine erste Bilanz des Vorhabens.
In der Kolumne der SVR-ASM nimmt Anastasia Falkner im Beitrag «Recht – einfach erledigt?» die Digitalisierung der Justiz in den Blick. Sie stellt fest, dass die Erfahrungen in unseren Nachbarländern durchzogen seien. Ob der mit der Pandemie verbundene Digitalisierungsschub zur Erreichung der hehren Ziele führt, ist ihrer Auffassung nach fraglich.
In der Rubrik «Associations» finden Sie den Rückblick von Gaetano (Toni) Pagone auf seine Jahre als Präsident der Internationalen Richtervereinigung IAJ-UIM. Per se wäre ein Rückblick des Präsidenten einer Richtervereinigung auf seine Amtszeit noch kein Anlass für eine Publikation. Wir wollen Ihnen aber die bedenkenswerten Überlegungen zur globalen Situation der Justiz und auch zu den Langzeitwirkungen des Coronavirus auf die Judikative nicht vorenthalten.
Tania Munz berichtet über das zehnte Meeting der Permanent Study Group «Justice and Court Administration» im Rahmen der Jahreskonferenz der European Group for Public Administration (EGPA). Themen des Meetings waren insbesondere Management und Leistungsmessung sowie Digitale Transformation und Innovation.
Wie gewohnt erscheinen «Venice Commission Observatory» und die «Bibliografie zum Richterrecht». Ferner enthält die vorliegende Ausgabe die von Karl-Marc Wyss und Lukas Schaub erstellte Berichterstattung «Justizia im Bundeshaus 2020/21 – Übersicht über die parlamentarischen Geschäfte und Gesetzgebungsprojekte betreffend das Gerichtswesen in den Jahren 2020 und 2021». Als Mitarbeiter des Bundesamts für Justiz verfolgen die beiden Autoren die entsprechenden Entwicklungen in Bern aus nächster Nähe; wir hoffen, dass wir Ihnen diesen wertvollen Input künftig regelmässig anbieten können.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.
Arthur Brunner, Stephan Gass, Sonia Giamboni, Andreas Lienhard, Hans-Jakob Mosimann, Annie Rochat Pauchard, Thomas Stadelmann
Nachtrag (Mai 2022): Aufgrund der extensiven medialen Beachtung des Beitrags von Konstantin Büchel, Regina Kiener, Andreas Lienhard und Marcus Roller in dieser Ausgabe hat sich die Redaktion von «Justice - Justiz - Giustizia» dazu entschieden, diesen Beitrag ausnahmsweise freizuschalten.