Urteil des Bundesgerichts 2C_933/2021 vom 23. September

Verzugszinsen entsprechen den Marktverhältnissen

  • Bearbeitet durch: Claude Grosjean / Ralf Imstepf
  • Category of articles: Entscheide - Décisions
  • Field of Law: VAT
  • Citation: Claude Grosjean / Ralf Imstepf, Urteil des Bundesgerichts 2C_933/2021 vom 23. September, ASA online Grundsatzurteile
Urteil des Bundesgerichts vom 23. September 2022 i.S. A. GmbH gegen Eidg. Steuerverwaltung ESTV (2C_933/2021) zum MWSTG 2009; bisher nicht entschiedene Rechtsfrage.

Inhalt

  • 1. Regeste
  • 2. Sachverhalt
  • 3. Erwägungen

1.

Regeste ^

Höhe der Verzugszinsen, Art. 4 Abs. 1 lit. a Zinssatzverordnung EFD. Die Statistiken der SNB zeigen, dass Verzugszinsschuldner auch während der Niedrigzinsphase aus der verspäteten Zahlung der Mehrwertsteuer weiterhin einen Zinsvorteil erlangen konnten. So lagen die Zinsen, die nicht finanzielle Unternehmen gemäss den Erhebungen der Nationalbank in Kontokorrentverhältnissen im Durchschnitt bezahlen mussten, konstant über dem aktuellen mehrwertsteuerrechtlichen Verzugszinssatz von 4 %. Ein Verzugszinssatz von 4 % befindet sich damit zwar am oberen Ende des Spektrums der Marktzinsen, die ab der Finanzkrise von 2008 und insbesondere, seitdem die SNB Ende 2014 auf Sichteinlagen einen Negativzins einführte, vorherrschten. Er kann aber noch als marktüblich bezeichnet werden und bleibt innerhalb des Spielraums, der dem EFD als Verordnungsgeber im Lichte der Delegationsnorm Art. 108 lit. a MWSTG zuzubilligen ist (E. 8.7).

Montant des intérêts moratoires, art. 4, al. 1, let. a, ordonnance du DFF sur les taux dintérêt. Les statistiques de la Banque nationale suisse (BNS) montrent que les débiteurs dintérêts moratoires ont continué à bénéficier dun avantage en matière dintérêts en raison du paiement tardif de la TVA, même pendant la période de taux dintérêts bas. Ainsi, selon les données collectées par la BNS, les intérêts moyens que les entreprises non financières ont dû payer dans le cadre des relations de compte courant étaient constamment supérieurs au taux dintérêt moratoire actuel de 4 % applicable en matière de TVA. Un taux dintérêt moratoire de 4 % se situe certes dans la fourchette supérieure de léventail des taux en vigueur sur le marché depuis la crise financière de 2008 et notamment depuis lintroduction fin 2014, par la BNS, dun taux dintérêt négatif pour les dépôts à vue. Toutefois, ce taux peut encore être qualifié dusuel par rapport aux taux du marché et reste conforme à la marge de manœuvre accordée au DFF en tant quauteur de lordonnance à la lumière de la norme de délégation inscrite à lart. 108, let. a, LTVA (consid. 8.7).

Importo degli interessi moratori, art. 4 cpv. 1 lett. a dellordinanza del DFF sui tassi dinteresse. Le statistiche della Banca nazionale svizzera (BNS) mostrano che anche durante la fase caratterizzata da tassi dinteresse bassi, i debitori di interessi moratori hanno continuato a ottenere un vantaggio in termini di interessi dal pagamento tardivo dellIVA. Secondo le rilevazioni della BNS, gli interessi che le imprese non finanziarie hanno dovuto pagare in media nei rapporti di conto corrente sono stati costantemente superiori allattuale tasso dinteresse moratorio in materia di IVA pari al 4 per cento. Il tasso dinteresse moratorio del 4 per cento si colloca quindi nella parte superiore dello spettro dei tassi dinteresse di mercato che hanno prevalso dalla crisi finanziaria del 2008 e, in particolare, da quando la BNS ha introdotto un tasso dinteresse negativo sui depositi a vista alla fine del 2014. Tuttavia, tale interesse si può ancora considerare conforme al mercato, rimanendo allinterno del margine di manovra a disposizione del DFF in qualità di autore dellordinanza in virtù della norma di delega prevista allart. 108 lett. a LIVA (consid. 8.7).

2.

Sachverhalt ^

A.

A.a. Die B. GmbH (ehemals C. GmbH; ab 24. Mai 2017: B. GmbH in Liquidation) war vom 1. April 2007 bis zum 31. Dezember 2016 im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) eingetragen und bezweckte u.a. den gewerblichen Transport von Gütern und Personen, einschliesslich Limousinenservice. Am 12. und 13. Juli 2012 sowie vom 11. bis am 13. März 2014 führte die ESTV bei der B. GmbH eine Kontrolle der Steuerperioden 2007 bis 2012 durch. Im Hinblick auf die zweite Kontrolle im März 2014 weigerte sich die B. GmbH trotz Aufforderung der ESTV, die Unterlagen zu den Steuerperioden 2007 bis 2010 (erneut) vorzulegen. Sie stellte sich auf den Standpunkt, eine Kontrolle sei nicht mehr möglich, weil die Frist von 360 Tagen gemäss Art. 78 Abs. 5 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (MWSTG; SR 641.20) abgelaufen sei. Mit Schreiben vom 6. März 2014 teilte die ESTV der B. GmbH mit, dass eine ermessensweise Berechnung der massgeblichen Umsätze vorgenommen werden müsse, wenn sie die Vorlage der Unterlagen verweigere.

A.b. Die ESTV kam bei ihrer Kontrolle zum Schluss, dass die B. GmbH unter anderem gemäss diversen Lohnabrechnungen ihre Geschäftstätigkeit bereits im Januar 2007 (statt im April 2007) aufgenommen habe. Weiter seien die Geschäftsbücher sowohl formell als auch materiell nicht ordnungsgemäss geführt worden. Gewisse Unterlagen und Aufzeichnungen (Kassabuch, Fahrtenschreiber) seien nicht oder nur teilweise vorhanden und Bareinnahmen und Löhne des Geschäftsführers seien nicht periodengerecht verbucht worden. Zudem sei der Treibstoffaufwand im Verhältnis zu den verbuchten Umsätzen – mit Ausnahme des Jahres 2012 – überdurchschnittlich hoch gewesen. Am 23. Mai 2014 erliess die ESTV zwei Einschätzungsmitteilungen und setzte Mehrwertsteuernachforderungen in der Höhe von Fr. 43’139.– für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 nebst Verzugszins seit dem 31. Dezember 2008 sowie Fr. 16’642.– für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2012 nebst Verzugszins seit dem 31. Dezember 2011 fest. Überdies wurde das Eintragungsdatum in das Mehrwertsteuerregister vom 1. April 2007 auf den 1. Januar 2007 korrigiert. Die Nachbelastung resultierte zur Hauptsache aus «nicht verbuchten, nicht deklarierten Entgelten», welche die ESTV anhand des (zu hohen) Treibstoffaufwands berechnete.

A.c. Mit Schreiben vom 20. Juni 2014 liess sich die B. GmbH zu den beiden Einschätzungsmitteilungen vernehmen. Daraufhin forderte die ESTV sie auf, Unterlagen (alle noch verfügbaren Fahrtenschreiber, Abrechnungen inkl. Lohnabrechnungen der einzelnen Chauffeure, sämtliche Arbeitsverträge, Abrechnungen der Kreditfahrten, Servicerechnungen) zu den Steuerperioden 2007 bis 2012 einzureichen. Die B. GmbH lieferte die Unterlagen am 19. Dezember 2014 dem Kantonalen Steueramt U. ab, wobei sie die ESTV erneut darüber informierte, dass sie die Unterlagen zu den Steuerperioden 2007 bis 2010 nicht vorlegen werde.

A.d. Am 11. Dezember 2015 schlossen die B. GmbH und die A. GmbH in Gründung, welche am 9. Februar 2016 in das Handelsregister eingetragen wurde, einen Vertrag über den «Verkauf ‹Fahrzeuge› und Übertragung der Taxibewilligung/Betriebsbewilligung», in welchem sie insbesondere vereinbarten,

  • dass die Rechtsvorgängerin den Taxibetrieb, namentlich mehrere Fahrzeuge inklusive Taxi-Betriebsbewilligungen sowie alle Arbeitsverträge, der Rechtsnachfolgerin übertrage,
  • dass die Rechtsvorgängerin neu ausschliesslich einen Limousinenservice im Grossraum Basel anbiete, dazu die Firma in D. GmbH [recte: B. GmbH] anpasse und deren Sitz nach V. (AG) verlege,
  • dass die Rechtsnachfolgerin der Rechtsvorgängerin hierfür einen Kaufpreis von Fr. 20’000.– bezahle.

B.

B.a. Mit separaten Verfügungen vom 5. April 2016 betreffend die Steuerperioden 2007 bis 2009 und 2010 bis 2012 bestätigte die ESTV die Mehrwertsteuernachforderungen gegenüber der B. GmbH gemäss den Einschätzungsmitteilungen vom 23. Mai 2014. Mit Eingabe vom 2. Mai 2016 erhob die B. GmbH Einsprache gegen die beiden Verfügungen vom 5. April 2016. Mit separaten Einspracheentscheiden vom 11. September 2017 betreffend die Steuerperioden 2007 bis 2009 und 2010 bis 2012, adressiert an die A. GmbH, wies die ESTV die Einsprachen ab. Sie stellte fest, die A. GmbH sei in die Rechte und Pflichten der B. GmbH eingetreten, und setzte die Mehrwersteuernachforderungen in der Höhe von Fr. 43’139.– für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 nebst Verzugszins seit dem 31. Dezember 2008 sowie Fr. 16’642.– für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2012 nebst Verzugszins seit dem 31. Dezember 2011 fest.

B.b. Mit Beschwerden vom 2. Oktober 2017 gegen die Einspracheentscheide der ESTV vom 11. September 2017 beantragte die A. GmbH, «der [jeweilige] Einspracheentscheid vom 11. September 2017 sei aufzuheben und die Streitsache sei endgültig abzuschreiben, weil keine Steuernachfolge» vorliege. Gleichzeitig sei «das materielle Verfahren über den angefochtenen Einspracheentscheid bis zum rechtskräftigen Teilentscheid über die Steuernachfolge [...] zu sistieren. Nach Abschluss des Verfahrens über den Teilentscheid sei die Streitsache an die Beschwerdegegnerin (Vorinstanz) zurückzuweisen mit der klaren Anweisung, das Verfahren gegenüber der Beschwerdeführerin korrekt zu eröffnen unter Gewährung des rechtlichen Gehörs». Eventualiter beantragte die A. GmbH «eine Nachfrist zur Beibringung der materiellrechtlichen Begründung der Beschwerde» und «vollständige Akteneinsicht in die Revisionsakten», alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Vorinstanz. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die Beschwerden mit Urteil vom 6. September 2018 gut und verneinte die Steuernachfolge. Eine Beschwerde der ESTV gegen dieses Urteil hiess das Bundesgericht mit Urteil 2C_923/2018 vom 21. Februar 2020 (BGE 146 II 73) unter Anerkennung einer Steuernachfolge gemäss Art. 16 Abs. 2 MWSTG gut und wies die Sache zur materiellen Prüfung an das Bundesverwaltungsgericht zurück.

B.c. Mit Zwischenverfügung vom 5. November 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht das Gesuch der A. GmbH um «Nachfrist zur Beibringung der materiellrechtlichen Begründung der Beschwerde» ab. Es sei nicht Sinn und Zweck von Art. 53 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021), der A. GmbH zu ermöglichen, zeitlich gestaffelt zuerst einen kassatorischen Antrag zu stellen und erst dann materiell Stellung zu nehmen, wenn sie mit ihrem ersten Antrag nicht durchdringe. Eine hiergegen erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 2C_1002/2020 vom 28. Dezember 2020 ab.

B.d. Mit Eingabe vom 26. Januar 2021 liess sich die A. GmbH erneut vernehmen und stellte unter dem Titel «Ergänzung der Rechtsbegehren» weitere Anträge:

«1. Das Verfahren sei wegen einer krassen Verletzung der Untersuchungsmaxime durch die ESTV definitiv einzustellen;
Eventualiter
2. Für die Steuerperioden 2007 – 2009 sowie für die Steuerperiode 2010 ist das Verfahren zufolge Eintritt der Verjährung definitiv einzustellen;
Subeventualiter
3. Die Einspracheentscheide der ESTV vom 29. September 2017 [recte: 11. September 2017] seien aufzuheben und von einer Nachsteuerforderung der Jahre 2007 bis 2009 sowie 2010 bis 2013 [recte: 2012] sei abzusehen, gegebenenfalls sei diese nach Massgabe des Gerichts zu korrigieren;
4. Mangels Nachgewiesenheit eines Verzugsschadens sei von der Erhebung eines Verzugszinses abzusehen;
5. Es sei der Beschwerdeführerin eine uneingeschränkte Akteneinsicht zu gewähren;
6. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der ESTV.»

B.e. Mit Urteil vom 12. Oktober 2021 hiess das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde in Bezug auf die Steuerperiode 2010 infolge Verjährung gut und wies sie in Bezug auf die übrigen Steuerperioden ab.

C. ...

3.

Erwägungen ^

1.–7. ...

8.

Die Beschwerdeführerin rügt des Weiteren, dass die Vorinstanz die Erhebung eines Verzugszinses zu Unrecht geschützt habe. Aufgrund des seit Jahren herrschenden Nullzins- und Nullteuerungsumfelds stelle ein Verzugszins zum Satz von aktuell 4 % einen Strafzins oder eine Verdachtsstrafe dar.

8.1. Nach Art. 86 Abs. 1 MWSTG hat die steuerpflichtige Person die Steuerforderung innert 60 Tagen nach Ablauf der betreffenden Abrechnungsperiode zu begleichen. Bei verspäteter Zahlung ist nach Art. 87 Abs. 1 MWSTG ohne Mahnung ein Verzugszins geschuldet (vgl. analog bereits Art. 47 Abs. 1 und 2 aMWSTG). Die Bestimmung des Verzugszinssatzes obliegt dem Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD). Dieses «legt marktübliche Verzugs- und Vergütungszinssätze fest und passt diese periodisch an» (Art. 108 lit. a MWSTG) bzw. ist zuständig dafür, «die Verzugs- und Vergütungszinssätze festzusetzen» (Art. 90 Abs. 3 lit. b aMWSTG).

8.2. Das EFD hat den Verzugs- und den Vergütungszinssatz in einer Verordnung festgesetzt und zuletzt per 1. Januar 2012 geändert. Beide Zinssätze betragen seither 4 % (Art. 4 Abs. 1 lit. a der Verordnung des EFD vom 25. Juni 2021 über die Verzugs- und Vergütungszinssätze auf Abgaben und Steuern [Zinssatzverordnung EFD; SR 631.014]; vgl. auch Art. 1 Abs. 2 der Verordnung des EFD vom 11. Dezember 2009 über die Verzugs- und die Vergütungszinssätze [AS 2009 6835]), wobei vom 20. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020 bei verspäteter Zahlung der Mehrwertsteuer kein Verzugszins geschuldet war (Art. 2 der Verordnung vom 20. März 2020 über den befristeten Verzicht auf Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung von Steuern, Lenkungsabgaben und Zollabgaben sowie Verzicht auf die Darlehensrückerstattung durch die Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit [SR 641.207.2; AS 2020 861]). Für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2011 betrug der Verzugszinssatz 4.5 %, für die Zeit vom 1. Januar 1995 bis zum 31. Dezember 2009 5 % (Art. 4 Abs. 1 lit. b und c Zinssatzverordnung EFD).

8.3. Verordnungen des Bundesrates und seiner Departemente können vorfrageweise daraufhin überprüft werden, ob sie gesetzes- und verfassungskonform sind (zur vorfrageweisen bzw. konkreten Normenkontrolle von Bundesratsverordnungen Urteil 4A_275/2021/4A_283/2021 vom 11. Januar 2022 E. 3.2, zur Publikation vorgesehen; BGE 144 II 454 E. 3.2 und 3.3; 143 II 87 E. 4.4; 143 V 208 E. 3.3 und 4.3; 141 II 169 E. 3.4; zur Normenkontrolle von Departementsverordnungen BGE 144 III 353 E. 2.2 und 2.3). Erweist sich die Rüge der mangelnden Gesetz- oder Verfassungsmässigkeit als begründet, ist der betreffenden Verordnungsbestimmung im konkreten Einzelfall die Anwendung zu versagen (Urteil 4A_275/2021/4A_283/2021 vom 11. Januar 2022 E. 3.2, zur Publikation vorgesehen; vgl. auch BGE 140 II 194 E. 5.8). Räumt die gesetzliche Delegationsnorm dem Verordnungsgeber einen sehr weiten Spielraum für die inhaltliche Ausgestaltung der unselbständigen Verordnung ein, so ist dieser Gestaltungsbereich für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden verbindlich (Art. 190 BV; vgl. BGE 144 II 454 E. 3.3; 143 II 87 E. 4.4; 140 II 194 E. 5.8;). Das Bundesgericht setzt bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Verordnungsgebers, sondern beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetzes- oder verfassungswidrig ist (vgl. BGE 144 II 454 E. 3.3; 143 II 87 E. 4.4; 141 II 169 E. 3.4; 140 II 194 E. 5.8; je mit Hinweisen). Die Zweckmässigkeit der getroffenen Anordnung entzieht sich der bundesgerichtlichen Kontrolle (BGE 144 II 454 E. 3.3; 143 II 87 E. 4.4; 140 II 194 E. 5.8). Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, sich zur Sachgerechtigkeit einer Verordnungsbestimmung etwa in politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht zu äussern (vgl. BGE 144 II 454 E. 3.3; 143 II 87 E. 4.4; 139 II 460 E. 2.3; 136 II 337 E. 5.1; je mit Hinweisen).

8.4. Der Verzugszins bezweckt im Mehrwertsteuerrecht den Vor- bzw. Nachteilsausgleich (vgl. zur insoweit analogen Rechtslage im AHV-Recht BGE 139 V 297 E. 3.3.2.2). Er dient nicht dazu, die steuerpflichtige Person zu bestrafen (vgl. Botschaft vom 25. Juni 2008 zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer [Botschaft 2008], BBl 2008 S. 7024; Felix Geiger, in: MWSTG Kommentar, 2. Aufl. 2019, N. 6 zu Art. 108 MWSTG; a.M. Cedric Ballengger, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, MWSTG/LTVA, 2015, N. 13 zu Art. 108 MWSTG, der dem Verzugszins auch einen Strafzweck zuschreibt). Dementsprechend ist er unabhängig vom Verschulden der steuerpflichtigen Person geschuldet (vgl. Urteil 2C_809/2017 vom 23. April 2019 E. 2.1 mit Hinweis auf Geiger, a.a.O., N. 2 zu Art. 87 MWSTG).

Der Gesetzgeber hat das EFD in Art. 108 lit. a MWSTG verpflichtet, «marktübliche Verzugs- und Vergütungszinssätze» festzusetzen. Gemäss der Botschaft hat sich das EFD dabei an den Marktverhältnissen zu orientieren (Botschaft 2008, S. 7024). Das EFD muss diese Zinssätze laut Art. 108 lit. a MWSTG periodisch anpassen (vgl. neuerdings auch Art. 1 Abs. 2 Zinssatzverordnung EFD, wonach das EFD die Zinssätze für jedes Kalenderjahr festlegen muss).

8.5. Die Vorinstanz hat den mehrwertsteuerlichen Verzugszins mit kantonalen Verzugszinsen verglichen. Dies ist jedoch nicht zielführend. Die Kantone sind in der Ausgestaltung der Verzinsungsregeln durch das Harmonisierungsrecht nicht gebunden (vgl. Urteile 2C_252/2021 vom 16. August 2021 E. 3, in: StE 2021 B 99.2 Nr. 27; 2C_351/2019 vom 26. September 2019 E. 5.1, in: RDAF 2020 II S. 95, StR 75/2020 S. 63; vgl. zur ähnlichen Situation im Nachsteuerverfahren Urteil 2C_116/2015/2C_117/2015 vom 30. September 2015 E. 5.4). Sie müssen ihre Verzugszinsen folglich jedenfalls nicht von Harmonisierungsrechts wegen an einen Marktzins binden. Zudem kennen viele Kantone im Unterschied zum Mehrwertsteuerrecht ein zweistufiges System mit einem (tieferen) Vergütungszins und einem (höheren) Verzugszins (vgl. Urteile 2C_434/2021 vom 3. März 2022 E. 5.1; 2C_252/2021 vom 16. August 2021 E. 3.1.1 und 3.1.2, in: StE 2021 B 99.2 Nr. 27; 2C_116/2015/2C_117/2015 vom 30. September 2015 E. 5.5.1). Aus demselben Grund ist das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, auf das die Beschwerdeführerin hinweist (Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 vom 8. Juli 2021) vorliegend nur von sehr begrenzter Aussagekraft, folgt das deutsche Abgaberecht doch ebenfalls einem zweistufigen Verzinsungssystem mit einem Nachzahlungszins und einem Säumniszuschlag (vgl. § 233a, § 238 Abs. 1 und § 240 Abs. 1 der deutschen Abgabenordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 2002 [BGBl. I S. 3866; 2003 I S. 61]). Von geringer Bedeutung ist schliesslich auch der privatrechtliche Verzugszinssatz von 5 % (Art. 104 Abs. 1 OR), auf den die ESTV hinweist. Der mehrwertsteuerrechtliche Verzugszins erfasst nämlich bei Weitem nicht nur Konstellationen, die mit einem privatrechtlichen Verzug vergleichbar wären. Dementsprechend darf jedenfalls nicht ausschliesslich auf den privatrechtlichen Verzugszinssatz von 5 % abgestellt werden, um den marktüblichen Zinssatz zu bestimmen (vgl. auch Botschaft 2008, S. 7024, wonach Zinssätze von 5 % in einer Tiefzinsphase zu hoch seien und den Charakter eines Strafzinses erhielten).

8.6. Richtigerweise ist der mehrwertsteuerrechtliche Verzugszins primär mit den Zinsen zu vergleichen, die auf dem Geld- und Kapitalmarkt vorherrschen. Mit Blick auf die Ausgleichsfunktion des mehrwertsteuerrechtlichen Verzugszinses (vgl. oben E. 8.5) kommen für diesen Vergleich einerseits die Zinsen infrage, die via Anlage am Markt hätten erzielt werden können (Anlagezinsen), andererseits die Zinsen, die ein durchschnittlicher Verzugszinsschuldner bei anderweitiger Fremdkapitalaufnahme unter vergleichbaren Umständen hätte bezahlen müssen (Kreditzinsen; vgl. auch EFD / ESTV HA Steuerpolitik, Erläuterungen vom 21. Mai 2021 zur Verordnung des EFD über die Verzugs- und die Vergütungszinssätze auf Abgaben und Steuern, S. 6, abrufbar unter < https://www.admin.ch/gov/de/start/ dokumentation/medienmitteilungen.msg-id- 84181.html> besucht am 22. Juni 2022, wonach das EFD für die Festlegung der Verzugszinssätze einerseits die Zinssätze auf Bundesobligationen mit einer Laufzeit von bis zu drei Jahren, andererseits die Zinssätze auf unbesicherten Unternehmenskrediten berücksichtigt). Es bietet sich an, hierbei auf die Statistiken der Schweizerischen Nationalbank abzustellen, die auf dem Internet verfügbar sind (<https://data.snb.ch> besucht am 22. Juni 2022) und als notorisch betrachtet werden dürfen (vgl. BGE 143 IV 380 E. 1.2).

8.6.1. Aus den Statistiken der Nationalbank erhellt, dass sich die Schweiz ab der Finanzkrise von 2008 – gleich wie andere europäische Länder (vgl. zu Deutschland Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 vom 8. Juli 2021 Rn. 204 ff.) – in einer anhaltenden Niedrigzinsphase befand. Die Anlagezinsen, die seit der Finanzkrise auf Bundesobligationen, Festgeldern und Termingeldanlagen erzielt werden konnten, lagen durchwegs deutlich unter den vom EFD vorgesehenen Verzugszinssätzen und vermöchten diese folglich für sich genommen nicht zu rechtfertigen.

8.6.2. In Bezug auf die Kreditzinsen ist am ehesten auf die Zinsen abzustellen, die sogenannte nicht finanzielle Unternehmen auf unbesicherten Krediten bezahlen, da diese die potenzielle Zinsersparnis für mehrwertsteuerpflichtige Unternehmen am besten abbilden. Die Nationalbank erfasst seit Mai 2009 monatlich Daten zu neuen Kreditvergaben an nicht finanzielle Unternehmen, wobei sie zwischen Kontokorrentkrediten und festverzinslichen Investitionskrediten unterscheidet. Zwischen Mai 2009 und Oktober 2021 (Datum des angefochtenen Urteils) fluktuierten die durchschnittlichen Kontokorrentzinsen auf neu abgeschlossenen Kontokorrentverhältnissen über alle Risikoklassen hinweg gesehen in einer Bandbreite von 4.10 % (Januar 2021) bis 5.70 % (Juli 2011) und die Zinsen auf neuen festverzinslichen Investitionskrediten in einer Bandbreite von 1.45 % (Oktober 2021) bis 1.86 % (Dezember 2009). Auch bei den unbesicherten Unternehmenskrediten war ab 2009 ein erheblicher Rückgang der Zinsen zu beobachten, wenn auch nicht im gleich starken Umfang wie bei den Anlagezinsen.

8.7. Die Statistiken der SNB zeigen, dass Verzugszinsschuldner auch während der Niedrigzinsphase aus der verspäteten Zahlung der Mehrwertsteuer weiterhin einen Zinsvorteil erlangen konnten. So lagen die Zinsen, die nicht finanzielle Unternehmen gemäss den Erhebungen der Nationalbank in Kontokorrentverhältnissen im Durchschnitt bezahlen mussten, konstant – wenn auch zuletzt nur noch knapp – über dem aktuellen mehrwertsteuerrechtlichen Verzugszinssatz von 4 %. Ein Verzugszinssatz von 4 % (bzw. von 4.5 % vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2011) befindet sich damit zwar am oberen Ende des Spektrums der Marktzinsen, die ab der Finanzkrise von 2008 und insbesondere, seitdem die SNB Ende 2014 auf Sichteinlagen einen Negativzins einführte, vorherrschten. Er kann aber noch als marktüblich bezeichnet werden und bleibt – trotz gewisser Kritik in der Literatur (vgl. Geiger, a.a.O., N. 6 zu Art. 108 MWSTG) – innerhalb des Spielraums, der dem EFD als Verordnungsgeber im Lichte der Delegationsnorm Art. 108 lit. a MWSTG zuzubilligen ist (vgl. oben E. 8.3).

8.8. Hält sich die Zinshöhe für die Zeit ab dem 1. Januar 2010 im Gestaltungsspielraum, den Art. 108 lit. a MWSTG dem EFD eröffnet, kann für den Zeitraum vor Inkrafttreten dieser Bestimmung am 1. Januar 2010 und den damals geltenden Verzugszinssatz von 5 % nichts anderes gelten, zumal Art. 90 Abs. 3 lit. b aMWSTG das EFD noch nicht ausdrücklich zur Festlegung marktüblicher Verzugszinsen verpflichtete und die Marktzinsen vor dem 1. Januar 2010 ohnehin noch wesentlicher höher als seither lagen.

8.9. Nicht zu beurteilen ist vorliegend, inwiefern der mehrwertsteuerrechtliche Verzugszinssatz mit den Grundrechten der Beschwerdeführerin aus der Bundesverfassung und der EMRK vereinbar ist. Obschon die Beschwerdeführerin offenbar der Ansicht ist, der Verzugszinssatz verstosse gegen die EMRK, zeigt sie nicht in der gebotenen Dichte auf, welche Bestimmungen der EMRK (oder der Bundesverfassung) dadurch verletzt sein sollen. Damit wird sie den qualifizierten Begründungsanforderungen für geltend gemachte Grundrechtsverletzungen nach Art. 106 Abs. 2 BGG nicht gerecht (vgl. oben E. 2.2).

8.10. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die mehrwertsteuerrechtlichen Verzugszinssätze von 5 % (bis am 31. Dezember 2009), 4.5 % (vom 1. Januar 2010 bis am 31. Dezember 2011) und 4 % (ab dem 1. Januar 2012) für den hier zu beurteilenden Zeitraum im Rahmen der gesetzlichen Delegationsnormen (Art. 108 lit. a MWSTG; Art. 90 Abs. 3 lit. b aMWSTG) geblieben sind. Das angefochtene Urteil ist in diesem Punkt zumindest im Ergebnis nicht zu beanstanden.

9.–10. ...