1.
Ausgangspunkt und Fragestellung ^
28. November 2021: Die eidgenössische Volksinitiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» wird von Volk und Ständen angenommen; die neuen Art. 117c und Art. 197 Ziff. 12 BV treten damit in Kraft, bedürfen nun aber noch der Umsetzung. Zwar hätte die Parlamentsmehrheit einen guten Teil der nötigen Umsetzung mit einem indirekten Gegenentwurf1 zur Volksinitiative, dem «Bundesgesetz über die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege»2 (Schlussabstimmungstext) und mit drei darauf gestützten Finanzbeschlüssen am 19. März 2021 bereits ausgearbeitet und beschlossen. Das Gesetz war aber nicht wie üblich unmittelbar nach seiner Annahme publiziert und dem Referendum unterstellt worden. Es enthielt die sog. Alternativklausel: «Es ist im Bundesblatt zu publizieren, sobald die Volksinitiative ‹Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)› zurückgezogen oder abgelehnt worden ist.» Durch die Annahme der Volksinitiative ist ihre teilweise bereits ausgearbeitete Umsetzung obsolet geworden. Gemäss Medienmitteilung vom 12. Januar 2022 hat der Bundesrat «das EDI beauftragt, den bestehenden Gesetzesentwurf wiederaufzunehmen und eine Botschaft auszuarbeiten». Ein Zeitplan wurde nicht kommuniziert, aber mit einer Inkraftsetzung kann aufgrund der üblichen Verfahrensabläufe im besten Fall in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 gerechnet werden, wohl eher zu einem noch späteren Zeitpunkt.
Diese Verzögerung durch die Alternativklausel erscheint offensichtlich als nicht zweckmässig – angesichts des beträchtlichen Mehraufwandes für Parlament, Bundesrat und Verwaltung und vor allem auch angesichts des kaum bestrittenen Pflegenotstands.3 Es stellt sich die Frage, ob diese Form der Verknüpfung von Volksinitiative und indirektem Gegenentwurf rechtlich geboten war oder ob man auch anders hätte vorgehen können? War es umgekehrt mit der verfassungsmässig garantierten freien Willensbildung der Stimmberechtigten vereinbar, dass diese infolge der Verknüpfung gezwungen waren, im Falle der Zustimmung zur Volksinitiative zugleich ihre teilweise Umsetzung abzulehnen? Warum wurde diese Form der Verknüpfung gewählt?
Antworten auf diese Fragen ergeben sich durch die Darstellung der rechtlichen Grundlagen eines (indirekten) Gegenentwurfs der Bundesversammlung (Ziff. 2), insb. aber durch eine Analyse aller indirekten Gegenentwürfe zu den im Zeitraum von 2012 bis Februar 2022 abgestimmten oder zurückgezogenen Volksinitiativen (Ziff. 3). Darüber hinaus werden auch die indirekten Gegenentwürfe zu allen seit 1987 angenommenen Volksinitiativen in die Betrachtung einbezogen (Ziff. 4).
2.
Rechtliche Grundlagen eines Gegenentwurfs der Bundesversammlung ^
Die Bundesversammlung kann in ihrem Zuständigkeitsbereich jederzeit Erlasse beschliessen (Art. 163 Bundesverfassung [BV]), gestützt auf Erlassentwürfe ihrer Kommissionen (Art. 160 BV i.V.m. Art. 107 Parlamentsgesetz [ParlG]) oder des Bundesrates (Art. 181 BV). Das Initiativrecht kann grundsätzlich frei ausgeübt werden; dabei ist einzig die Einhaltung übergeordneten Rechts zu beachten. Die Behandlung eines Erlassentwurfs kann auch im zeitlichen und materiellen Kontext mit einer hängigen Volksinitiative erfolgen; der Erlassentwurf wird allein dadurch zum Gegenentwurf zur Volksinitiative (Auer 1986, N 10; Ehrenzeller 2014, N 85; Grisel 2004, N 720; Hangartner / Kley 2000, N 890), auch ohne dass dieser formell als solcher bezeichnet wird. Die verfassungsmässige Verpflichtung der Bundesversammlung, die Gültigkeit der Volksinitiative zu prüfen und eine Abstimmungsempfehlung abzugeben, bietet die Gelegenheit, das Thema der Volksinitiative im Parlament aufzugreifen und es mit mehr oder weniger verändertem Inhalt und ggf. auch auf einer anderen Rechtsetzungsstufe (Gesetz, Bundesbeschluss oder Parlamentsverordnung) zu regeln.
Die Bundesversammlung kann einen direkten Gegenentwurf «zur gleichen Verfassungsmaterie» (Art. 101 Abs. 1 ParlG) der Volksinitiative ausarbeiten; die Behandlung von Volksinitiative und direktem Gegenentwurf erfolgt im Parlament (Art. 101 und 102 ParlG) und in der Volksabstimmung (Art. 139 BV) in klar geregelter, enger Verbindung.
Die Bundesversammlung kann aber auch über einen indirekten Gegenentwurf unterhalb der Verfassungsebene, meistens auf Gesetzesstufe, Beschluss fassen, wobei die Verfahren der Behandlung von indirektem Gegenentwurf und Volksinitiative grundsätzlich unabhängig voneinander ablaufen (Dubey 2021, N 119). Der Gegenentwurf ist indirekt, weil eine direkte Gegenüberstellung von Volksinitiative und Gegenentwurf in anderer Form als einer Verfassungsänderung nicht möglich ist. Das Verfahren der Entscheidfindung und die Entscheidberechtigten sind nicht identisch (obligatorische Abstimmung von Volk und Ständen über die Volksinitiative, fakultative Abstimmung nur des Volkes über einen Gegenentwurf auf Gesetzesstufe). Ein indirekter Gegenentwurf kann als unmittelbare Reaktion auf eine eingereichte Volksinitiative entstehen. Es kann aber auch ein unabhängig von der Volksinitiative vor ihrer Einreichung initiierter Erlassentwurf zum indirekten Gegenentwurf werden. Der indirekte Gegenentwurf kann sich auf das Thema der Volksinitiative beschränken; er kann aber auch weitere Regelungen enthalten, z.B. die Totalrevision eines Gesetzes bilden, in welchem nur ein kleiner Teil das Thema der Volksinitiative beschlägt (Albrecht 2003, S. 192). Es gelten denn auch nicht dieselben Anforderungen an die Einheit der Materie wie beim direkten Gegenentwurf (Auer 1986, N 11; Füzessery 2014, N 11; Hangartner / Kley 2000, N 888). Der indirekte Gegenentwurf kann das Anliegen der Volksinitiative materiell in kleinerem oder grösserem Ausmass übernehmen und damit im Falle einer Annahme der Volksinitiative die beschlossene Verfassungsänderung bereits ganz oder teilweise umsetzen, ja dabei materiell bereits weiter gehen, als es die Volksinitiative verlangt hat. Der indirekte Gegenentwurf kann aber auch alternative Regelungen enthalten, welche mit der von der Volksinitiative verlangten Verfassungsänderung ganz oder teilweise nicht vereinbar sind. Wird gegen den indirekten Gegenentwurf das Referendum ergriffen, so kann die Volksabstimmung vor, gleichzeitig oder nach der Abstimmung über die Volksinitiative stattfinden (Hangartner / Kley 2000, N 889–890). Eine angenommene Volksinitiative und ein angenommener indirekter Gegenentwurf können grundsätzlich kumulativ rechtswirksam werden (Glaser 2018, S. 3), ausser die angenommene Verfassungsänderung enthalte direkt anwendbares, mit dem indirekten Gegenentwurf nicht vereinbares Recht (Beispiele: Rz. 16, 23; näherer Kommentar in Rz. 28).
Das Gesetz sieht zwei Formen der rechtlichen Verknüpfung der Behandlung von Volksinitiative und indirektem Gegenentwurf vor – ein indirekter Gegenentwurf liegt aber auch dann vor, wenn eine solche Verknüpfung nicht erfolgt:
- Nach Art. 105 ParlG kann die Bundesversammlung die ihr auferlegte Frist für die Behandlung der Volksinitiative um ein Jahr verlängern, wenn ein Rat «einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf» in der Gesamtabstimmung angenommen hat. Zweck der Bestimmung ist es, dass zuerst das Parlament und später Volk und Stände in Kenntnis des indirekten Gegenentwurfs über die Volksinitiative abstimmen können.
- Nach Art. 73a des Bundesgesetzes über die politischen Rechte (BPR) kann das Initiativkomitee eine Volksinitiative unter der Bedingung zurückziehen, dass der spätestens gleichzeitig mit der Schlussabstimmung über die Volksinitiative beschlossene indirekte Gegenentwurf nicht in einer Volksabstimmung abgelehnt wird. Erfolgt dies doch, so lebt die Volksinitiative wieder auf und wird der Volksabstimmung unterbreitet. Zweck der Bestimmung ist es, dass das Initiativkomitee nach einem Rückzug der Initiative zugunsten des indirekten Gegenentwurfs nicht mit leeren Händen dasteht, wenn gegen den indirekten Gegenentwurf das Referendum ergriffen wird und dieser in der Abstimmung scheitert.
3.
Die Praxis der indirekten Gegenentwürfe zu den von 2012 bis Februar 2022 abgestimmten oder zurückgezogenen Volksinitiativen ^
3.1.
Statistischer Überblick ^
In den Jahren 2012 bis 2022 (bis Februar) sind insgesamt 22 indirekte Gegenentwürfe zu 24 Volksinitiativen ausgearbeitet worden (inkl. zwei indirekte Gegenentwürfe, die in den Eidg. Räten durch Nichteintreten des Zweitrates oder durch Ablehnung in der Schlussabstimmung gescheitert sind, und zwei indirekte Gegenentwürfe, die erst nach den Schlussabstimmungen über die Volksinitiative verabschiedet wurden und die daher die Voraussetzung für einen bedingten Rückzug der Volksinitiative nach Art. 73a BPR nicht erfüllten. Zwei indirekte Gegenentwürfe bezogen sich auf jeweils zwei Volksinitiativen). Acht dieser 24 Volksinitiativen wurden in der Volksabstimmung abgelehnt, sechs wurden angenommen (im selben Zeitraum wurde über insgesamt 52 Volksinitiativen abgestimmt, davon acht angenommen und 44 abgelehnt). Zehn Volksinitiativen wurden wegen eines indirekten Gegenentwurfs zurückgezogen (im selben Zeitraum wurden insgesamt 21 Volksinitiativen zurückgezogen, davon sechs wegen eines direkten Gegenentwurfs und fünf aus anderen Gründen).
Mit einer Ausnahme hatten die indirekten Gegenentwürfe die Form eines Bundesgesetzes; bei der Ausnahme handelte es sich um einen einfachen Bundesbeschluss (siehe den in Rz. 14 dargestellten Fall).
15 indirekte Gegenentwürfe wurden wie derjenige zur «Pflegeinitiative» mit der Alternativklausel versehen; ihre Publikation im Bundesblatt wurde also von der Ablehnung oder dem Rückzug der Volksinitiative abhängig gemacht. Bei sieben indirekten Gegenentwürfen lag eine derartige Verknüpfung nicht vor. Im Hinblick auf die Fragestellung dieses Aufsatzes interessiert insbesondere, mit welcher Begründung jeweils die Alternativklausel eingebaut bzw. warum auf sie verzichtet wurde.
3.2.
Unbestrittene Alternativklauseln ^
11 Alternativklauseln blieben unbestritten (soweit dies in den öffentlich zugänglichen Unterlagen ersichtlich ist); als unbestritten gilt hier, wenn in den Eidg. Räten keine abweichenden Anträge gestellt worden sind. Diese Alternativklauseln waren in den indirekten Gegenentwürfen zu drei angenommenen,4 zwei abgelehnten5 und sechs zurückgezogenen6 Volksinitiativen enthalten.
Zu den unbestrittenen Alternativklauseln liegt in den meisten Fällen auch keinerlei Begründung vor, weder in der Botschaft des Bundesrates oder in einem Kommissionsbericht, noch in den Ratsverhandlungen. In zwei Fällen liegt eine u.E. nicht stichhaltige kurze Begründung vor, die weiter zu keinen Diskussionen Anlass gab. Aus dem Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 24. Oktober 2019 zu ihrer parlamentarischen Initiative für einen indirekten Gegenentwurf zur «Transparenz-Initiative» geht hervor, dass die Kommission offenbar der Auffassung war, die Alternativklausel gehöre zwingend zu jedem indirekten Gegenentwurf (BBl 2019 7875, 7899). In der Botschaft des Bundesrates zur Verhüllungsverbotsinitiative findet sich die u.E. (siehe dazu Ziff. 4 und 5.1) nicht zutreffende Behauptung, dass Volksinitiative und indirekter Gegenentwurf «wegen ihres teilweise unvereinbaren Inhalts nicht beide Rechtsgeltung beanspruchen» können (BBl 2019 2913, 2947).
Für diese Untersuchung wurde einzig im Fall des indirekten Gegenentwurfs zur «Pflegeinitiative» gestützt auf Art. 7 ParlVV auch Einsicht in die Protokolle der vorberatenden Kommissionen genommen. In der Sitzung vom 4. April 2019 der Kommission für Gesundheit und soziale Sicherheit des Nationalrates wurde der Vorentwurf der Verwaltung zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative für den indirekten Gegenentwurf (19.401 Für eine Stärkung der Pflege, für mehr Patientensicherheit und mehr Pflegequalität) beraten. Dieser Vorentwurf enthielt die deklaratorische Verbindungsklausel, welche das Gesetz als indirekten Gegenentwurf bezeichnet, ohne sein Schicksal mit demjenigen der Volksinitiative zu verknüpfen (zum deklaratorischen Charakter der Verbindungsklausel siehe Rz. 26). Die Kommission beschloss ohne Gegenstimme, diesen Text durch die Alternativklausel zu ersetzen – auf Antrag eines Kommissionsmitglieds aus dem politischen Lager, das die Volksinitiative unterstützt! Diese Antragstellung war offensichtlich nicht im Interesse dieses politischen Lagers: Warum die Initiative im Falle ihres Erfolgs nicht baldmöglichst zumindest teilweise auf Gesetzesstufe umsetzen? Die Begründung des Antrags erweckt den Eindruck des Missverständnisses, dass die Alternativklausel Voraussetzung für die Möglichkeit des bedingten Rückzuges sei (zu diesem Missverständnis siehe Rz. 28). Die Initiativgegner haben sich nicht geäussert. Ob sich hinter ihrem Stillschweigen eine politische Absicht verbarg oder nicht, lässt sich nicht belegen (zu den möglichen Absichten siehe Ziff. 5.3).
3.3.
Bestrittene und angenommene Alternativklauseln ^
In vier Fällen wurde die Alternativklausel zwar bestritten, aber angenommen. Aufschlussreich ist als Beispiel insb. die Diskussion um den indirekten Gegenentwurf zur Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen».7 Die am 18. Oktober 2016 eingereichte Volksinitiative forderte eine Ergänzung des bestehenden Verfassungsartikels über die Wohnbau- und Wohneigentumsförderung mit dem allgemeinen Ziel, das Angebot an preisgünstigem Wohnraum zu erhöhen, und bezeichnete verschiedene zur Erreichung des Ziels zu ergreifende Massnahmen. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Initiative und schlug als indirekten Gegenentwurf den Entwurf zu einem Bundesbeschluss über einen Rahmenkredit im Umfang von 250 Millionen Franken für die Aufstockung des «Fonds de Roulement» zugunsten des gemeinnützigen Wohnungsbaus vor. Er begründete die darin vorgesehene Alternativklausel: «Ohne Verknüpfung des Bundesbeschlusses mit der Volksinitiative ‹Mehr bezahlbare Wohnungen› würde die Gefahr bestehen, dass ein Förderweg gestärkt wird, dessen Bedeutung bei einer Annahme der Volksinitiative ungewiss ist. Denn in diesem Fall hätte der Gesetzgeber die Aufgabe, die zur Erfüllung des neuen Verfassungsauftrags erforderlichen Massnahmen zu beschliessen, was die Einführung anderer Umsetzungsinstrumente erfordern könnte» (BBl 2018 2213, 2239). Diese Alternativklausel gab in beiden Räten zu intensiven Diskussionen Anlass. Die Mehrheit übernahm die Argumentation des Bundesrates und obsiegte im Nationalrat mit 135 zu 61 und im Ständerat mit 23 zu 20 Stimmen. Da die Initiative im Ständerat mit 31 zu 12 Stimmen zur Ablehnung empfohlen wurde, stimmte also auch eine grössere Zahl von Initiativgegnern gegen die Alternativklausel – vermutlich deswegen, weil ein Gutachten von Prof. Glaser durch die Alternativklausel die verfassungsmässige Garantie der politischen Rechte verletzt sah (siehe dazu unten Ziff. 6). Die Minderheit sah keinen sachlichen Grund für die Verknüpfung und bezeichnete diese als unzulässige Erpressung (Nationalrätin Marra: «il s’agit d’un chantage inacceptable»). Ständerat Zanetti argumentierte: «Gehen wir davon aus, dass die Abstimmung im nächsten oder im übernächsten Jahr stattfindet und der Initiative zugestimmt wird: Dann gibt es eine Lücke von zwei oder drei Jahren, wo wenig oder nichts passieren kann. Deshalb finde ich die Verknüpfung, abgesehen von den institutionellen Überlegungen, ziemlich ärgerlich und irgendwie auch anmassend. Das kenne ich so aus der Primarschule, wenn die Lehrerin sagt: Wenn ihr vor der Pause schön brav seid, könnt ihr nach der Pause Fussball spielen. Das ist einfach nicht angemessen gegenüber einer Volksinitiative, die von über 100’000 Personen unterschrieben worden ist. Die Verknüpfung ist sachlich wirklich nicht gerechtfertigt. Die Initiative geht in eine bestimmte Richtung, mit langen und schnellen Schritten. Der Fonds de Roulement geht in die genau gleiche Richtung, mit ein bisschen langsameren Schritten – damit kann ich leben. Aber es ist nicht ein Entweder-oder, sondern es ist ein Sowohl-als-auch. Sie können mir ja nicht sagen, dass bei einer Zustimmung zur Initiative etwas völlig Neues auf den Tisch kommt, das wären ja dann irgendwie eine blindwütige Subventionswirtschaft oder statt Vorkaufsrechte Enteignungen und so. Der Fonds de Roulement wird selbst bei einer Annahme der Initiative die Pièce de Résistance der Förderung sein. Deshalb besteht da kein inhaltlicher Widerspruch.»
3.4.
Bestrittene und abgelehnte Alternativklauseln ^
Zu fünf indirekten Gegenentwürfen lagen Anträge für die Alternativklausel vor, welche abgelehnt wurden. In diesen Fällen sprach sich die Parlamentsmehrheit gegen die Alternativklausel aus, weil eine Inkraftsetzung des indirekten Gegenentwurfs auch im Falle der Annahme der Initiative als sinnvoll betrachtet wurde. Als Beispiel sei hier die Diskussion um den indirekten Gegenentwurf zur «Atomausstiegsinitiative» und zur «Stromeffizienz-Initiative» dargestellt (13.074).8 Der am 16. November 2012 eingereichten «Atomausstiegsinitiative» stellte der Bundesrat mit seiner Botschaft vom 4. September 2013 den Entwurf einer Totalrevision des Energiegesetzes (Energiestrategie 2050) mit Alternativklausel entgegen. Der Nationalrat als Erstrat strich diese Klausel am 4. Dezember 2014 mit 156 zu 36 Stimmen; der Ständerat stimmte ihr am 23. September 2015 mit 25 zu 14 Stimmen zu. Nachdem der Nationalrat am 2. März 2016 ohne Gegenantrag an seinem Beschluss festgehalten hatte, lenkte der Ständerat am 31. Mai 2016 mit 25 zu 17 Stimmen ein. Nationalrat Müller-Altermatt führte aus, «dass sich Initiative und Gesetz insofern nicht beissen, als das Abstimmungsresultat zur Initiative nichts an der Richtigkeit der in diesem Gesetz beschlossenen Massnahmen ändern wird. Wird die Initiative abgelehnt, tritt das Gesetz nach Ablauf der Referendumsfrist oder nach der Abstimmung alleine in Kraft. Werden Gesetz und Initiative angenommen, muss das Gesetz mit den Fristen, welche die Initiative vorsieht, schlicht erweitert werden». Ein bedingter Rückzug der Volksinitiative sei nach wie vor möglich: «Die Verknüpfung des indirekten Gegenentwurfs mit der Volksinitiative wird vom Gesetz ausdrücklich nicht verlangt» (AB 2014 N 2129 f.). Die Gegenposition formulierte Ständerat Bischofberger: «Diese Vorgehensweise wurde gewählt, weil die beiden Geschäfte teilweise inkompatibel sind, das heisst: Wenn wir Absatz 2 – wie von der Minderheit Cramer beantragt und vom Nationalrat beschlossen – nun streichen würden, ginge die Koppelung zwischen der Energiestrategie 2050 und der Atomausstiegs-Initiative verloren. Falls beide Geschäfte angenommen würden, entstünde ein Widerspruch zwischen Bundesverfassung und der neuen Energiestrategie; in der Folge müssten nicht nur das Kernenergiegesetz, sondern auch das Energiegesetz nochmals angepasst werden. Das hiesse im Klartext: Eine neue Energiestrategie wäre erforderlich» (AB 2015 S 1037 f.). Ständerat Minder hielt entgegen: «Entscheidtheoretisch kann man also sehr wohl sagen, man befürworte sowohl diese Energiestrategie als auch die Initiative. Denn hier stellt sich keine Entweder-oder-Frage. Es geht einzig darum, dem Stimmbürger ein entscheidtheoretisch korrektes Verfahren unter Respektierung der freien Willensäusserung und der unverfälschten Stimmabgabe zu ermöglichen» (AB 2015 S 1038). Bundesrätin Doris Leuthard erklärte in der zweiten Beratung des Ständerates die Situation im Falle einer Annahme der Initiative und sprach sich damit gegen die Klausel aus: «Das heisst, wir müssten sofort die bestehenden gesetzlichen Vorgaben revidieren und an die neue Ausgangslage anpassen. Das braucht auch wieder Zeit. In dieser Zeit kann man mit dem bestehenden Gesetz schon mal wenigstens auf den richtigen Weg gehen und dann die Anpassungen vornehmen» (AB 2016 S 286 f.). Die Schlussabstimmungen der Eidg. Räte über den Bundesbeschluss über die «Atomausstiegsinitiative» fanden am 18. März 2016 statt. Die Initiative wurde nicht zurückgezogen und am 27. November 2016 von Volk und Ständen abgelehnt. Gegen das Energiegesetz, das erst am 30. September 2016 in den Schlussabstimmungen von den Eidg. Räten angenommen wurde (ein bedingter Rückzug der «Atomausstiegsinitiative» wäre also nicht mehr möglich gewesen), wurde das Referendum ergriffen; das Gesetz wurde in der Volksabstimmung vom 21. Mai 2017 angenommen und auf den 1. Januar 2018 in Kraft gesetzt. Indem die Eidg. Räte die Frist für die Behandlung der am 15. Mai 2013 eingereichten «Stromeffizienz-Initiative» um ein Jahr verlängerten, weil der Nationalrat den Entwurf des Energiegesetzes am 8. Dezember 2014 in der Gesamtabstimmung angenommen hatte, wurde dieser Entwurf auch zum indirekten Gegenentwurf zu dieser Volksinitiative.9 Die Schlussabstimmungen der Eidg. Räte über den Bundesbeschluss über die «Stromeffizienz-Initiative» fanden am 30. September 2016 statt. Die «Stromeffizienz-Initiative» wurde am 6. Oktober 2016 bedingungslos zurückgezogen.
Einen interessanten Spezialfall einer Diskussion um die Alternativklausel stellt die Umsetzung der «Ausschaffungsinitiative» dar (13.056). Der Nationalrat erklärte diese Vorlage auch formell zum indirekten Gegenentwurf zur «Durchsetzungsinitiative» (13.091), indem er am 20. März 2014 mit 129 zu 53 Stimmen eine entsprechende Alternativklausel einsetzte. Diese Initiative wäre im Falle der Annahme direkt anwendbar gewesen; damit hätte die Gesetzesänderung nicht mehr Bestand haben können. Der Ständerat strich die Klausel jedoch, weil die Gesetzesänderung auch der Umsetzung der am 28. November 2010 angenommenen «Ausschaffungsinitiative» diente; die Erfüllung dieses verfassungsmässigen Auftrages wurde u.E. zu Recht höher gewichtet als das Risiko des Erlasses eines Gesetzes, das möglicherweise zu künftigem direkt anwendbarem Verfassungsrecht in Widerspruch steht. Die Alternativklausel wäre zudem verfassungswidrig gewesen, weil sie im Falle der Ablehnung oder des Rückzugs der «Durchsetzungsinitiative» dazu geführt hätte, dass die «Ausschaffungsinitiative» nicht innert der von Art. 197 Ziff. 8 BV geforderten Frist von fünf Jahren hätte umgesetzt werden können.
3.5.
Unbestrittener Verzicht auf Alternativklausel ^
Bei den zwei indirekten Gegenentwürfen zu den im Zeitraum seit 2012 angenommenen Volksinitiativen «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)» (siehe dazu unten Ziff. 4, Rz. 21) und «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen»10 stand die Alternativklausel nicht zur Diskussion.
4.
Angenommene Volksinitiativen mit indirekten Gegenentwürfen seit 1987 ^
Im Hinblick auf die Beurteilung der im Falle der «Pflegeinitiative» entstandenen Situation ist von besonderem Interesse, wie in anderen analogen Fällen angenommener Volksinitiativen mit indirekten Gegenentwürfen vorgegangen wurde; der Untersuchungszeitraum wird hier für diese Fälle daher bis 1987 ausgeweitet. Es interessiert hier insbesondere auch die Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die angenommene Verfassungsänderung zu einer ebenfalls angenommenen Gesetzesänderung steht, falls diese nicht mit der Alternativklausel versehen wurde.
Seit 1987 ist zu neun später angenommenen Volksinitiativen ein indirekter Gegenentwurf ausgearbeitet worden. Wird eine Volksinitiative angenommen, so stellt sich zuerst die Frage, ob die neue Verfassungsbestimmung direkt anwendbar ist oder ob eine Umsetzungsgesetzgebung notwendig ist. Ist die Verfassungsbestimmung direkt anwendbar,11 so dürfen die rechtsanwendenden Behörden ihr widersprechendes Gesetzesrecht nicht mehr anwenden.12 Ist die neue Verfassungsbestimmung aber nicht direkt anwendbar, so hat die Bundesversammlung vorerst den Auftrag zu erfüllen, eine verfassungskonforme Umsetzung auszuarbeiten. Solange diese Umsetzungsgesetzgebung nicht in Kraft gesetzt ist, steht der Anwendung des indirekten Gegenentwurfs nichts entgegen, auch wenn die neue Verfassungsbestimmung dadurch nur teilweise umgesetzt ist.
Im Falle der neun angenommenen Verfassungsänderungen mit indirektem Gegenentwurf waren acht nicht direkt anwendbar. Es sind zwei Fallkategorien zu unterscheiden: In drei Fällen enthielt der indirekte Gegenentwurf die Alternativklausel, dass er nach Annahme der Initiative obsolet wird. Fünf indirekte Gegenentwürfe sind (mangels Alternativklausel) in Kraft getreten, haben die Volksinitiative damit teilweise umgesetzt, worauf die Umsetzung wegen Annahme der Volksinitiative in einer zweiten Phase nachgebessert werden musste.
Die fünf Fälle der trotz angenommener Volksinitiative zustande gekommenen indirekten Gegenentwürfe beantworten bereits die eingangs gestellte Frage, ob die Verwendung der Alternativklausel im indirekten Gegenentwurf zur «Pflegeinitiative» rechtlich notwendig war: Nein, man kann auch anders vorgehen. Die am 13. Februar 2022 nur zweieinhalb Monate nach der «Pflegeinitiative» angenommene Initiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)» wurde durch das vom Parlament am 1. Oktober 2021 verabschiedete «Bundesgesetz über Tabakprodukte und elektronische Zigaretten (Tabakproduktegesetz, TabPG)» bereits teilweise umgesetzt (15.075); nachdem die Referendumsfrist am 20. Januar 2022 unbenutzt abgelaufen ist, dürfte einer Inkraftsetzung nichts mehr im Weg stehen. Das Gesetz enthält folgende Klausel: «Es ist der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative vom 12. September 2019 «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)» (Kommentar zu dieser sog. «Verbindungsklausel» siehe unten Rz. 26). Diese Bestimmung wurde erst in der Differenzbereinigung am 14. Juni 2021 auf Antrag der Kommission des Ständerates eingefügt. Der Kommissionsberichterstatter erläuterte: «Es geht um einen Gegenvorschlag, in dem wir berechtigte Forderungen der Initianten aufnehmen sollen. Punkte, bei denen die Initiative zu weit geht, müssen wir ablehnen» (AB S 2021 599). Bundesrat und Bundesversammlung werden nun diese «zu weit gehenden» Punkte in einer Revision des TabPG aufnehmen müssen. Analoge Vorgänge zeigten sich bereits in der Vergangenheit bei den Volksinitiativen «zum Schutz der Moore – Rothenthurm-Initiative»,13 «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter»,14 «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen» (siehe Fussnote 10) und «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» (siehe Fussnote 8).
Zur Fallkategorie der indirekten Gegenentwürfe mit Alternativklausel gehörten neben dem eingangs erwähnten indirekten Gegenentwurf zur «Pflegeinitiative» auch die indirekten Gegenentwürfe zu den Volksinitiativen «Ja zum Verhüllungsverbot» und «Gegen die Abzockerei» (siehe Fussnote 4). In allen drei Fällen wäre diese Klausel gemäss den unter Ziff. 2 dargelegten rechtlichen Überlegungen nicht notwendig gewesen. Es fällt auf, dass sich in den öffentlich zugänglichen Unterlagen (Botschaften des Bundesrates, Kommissionsberichte, Verhandlungen der Eidg. Räte) zur «Pflegeinitiative» und zur Abzockerei-Initiative kein Wort der Begründung für die Anwendung der Alternativklausel finden lässt.
Im einzigen Fall eines zustande gekommenen indirekten Gegenentwurfs, der nicht vereinbar war mit einer direkt anwendbaren angenommenen Volksinitiative, wurde dieser nicht mit einer Alternativklausel versehen, sondern es wurde eine andere rechtlich korrekte Lösung gefunden. Die Bundesversammlung hatte mit Bundesbeschluss vom 13. Juni 2008 die Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» zur Ablehnung empfohlen und gleichentags als indirekten Gegenentwurf das Bundesgesetz über die Verfolgungsverjährung bei Straftaten an Kindern (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes) verabschiedet (07.063). Nachdem die Volksinitiative am 30. November 2008 von Volk und Ständen angenommen worden war, setzte der Bundesrat das Bundesgesetz, dessen Referendumsfrist am 2. Oktober 2008 unbenutzt abgelaufen war, nicht in Kraft. Nachträglich wurde er durch Ziff. II des Bundesgesetzes vom 15. Juni 2012 zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät zu dieser Nicht-Inkraftsetzung ermächtigt (AS 2012 5951). In seiner Botschaft vom 22. Juni 2011 begründete der Bundesrat die (nicht unumstrittene) direkte Anwendbarkeit von Art. 123b BV; trotz direkter Anwendbarkeit von Art. 123b wurde eine gesetzliche Präzisierung wegen dessen ungenauen Wortlautes als notwendig erachtet. Der Bundesrat begründete auch die Nichtinkraftsetzung des indirekten Gegenentwurfs: «Grundsätzlich ist der Bundesrat verpflichtet, einen von den eidgenössischen Räten verabschiedeten indirekten Gegenvorschlag in Kraft zu setzen, und er verfügt nur beim Zeitpunkt des Inkrafttretens über einen gewissen Spielraum. […] Es bestehen deshalb Ausnahmen vom Grundsatz, dass der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag in Kraft setzen muss, da der Verfassungsgeber zwischen dem Zeitpunkt der Verabschiedung eines Gesetzes und dem Zeitpunkt von dessen allfälliger Inkraftsetzung intervenieren kann.» (BBl 2011 5977, 6007).
5.1.
Der «Rote Ordner» der Bundeskanzlei ^
Die «Richtlinien für Bundesratsgeschäfte» der Bundeskanzlei (BK), als «Roter Ordner»15 bezeichnet, enthalten Richtlinien zur «Verknüpfung einer Volksinitiative mit indirektem Gegenvorschlag mittels Verbindungs- und Alternativklausel» (datiert 26. September 2014). Nach diesen Richtlinien sind sich BK und Bundesamt für Justiz einig, dass alle indirekten Gegenentwürfe, die einen bedingten Rückzug der Volksinitiative nach Art. 73a BPR erlauben, in ihren Schlussbestimmungen eine «Verbindungsklausel» enthalten müssen: «Es [das Gesetz] ist der indirekte Gegenvorschlag zur Volksinitiative XXX.» Zusätzlich gilt: «Die mit der Volksinitiative in mindestens einem Punkt inkompatiblen iGV [indirekten Gegenvorschläge] müssen zusätzlich die Alternativklausel enthalten.» Diese lautet: «Es [das Gesetz] ist im Bundesblatt zu publizieren, sobald die Volksinitiative XXX zurückgezogen oder abgelehnt worden ist.» Weiter wird festgehalten: «Alle Verknüpfungsklauseln (Verbindungs- wie Alternativklauseln) haben normativen Charakter.» Daraus folgt: «Gesetze, die keine der Klauseln aufführen, sind blosse ‹eng mit der Volksinitiative zusammenhängende Erlassentwürfe› im Sinne von Artikel 105 Absatz 1 des Parlamentsgesetzes und eröffnen einzig die Möglichkeit des unbedingten, nicht aber des bedingten Rückzugs.»
Es wird festgehalten, dass ein indirekter Gegenentwurf eine Volksinitiative «(a) ausführen, (b) allenfalls ergänzen oder aber (c) in mindestens einem Punkt in unvereinbarem Gegensatz zur Volksinitiative stehen» kann. In den Fällen (a) und (b) genüge die «Verbindungsklausel», im Fall (c) sei aber Rückzug oder Ablehnung der Volksinitiative «zwingende Voraussetzung» eines Inkrafttretens des indirekten Gegenentwurfs. Eine nähere Definition des «unvereinbaren Gegensatzes» unterbleibt aber.
Es ist keine gesetzliche Grundlage ersichtlich, aus welcher ein normativer Charakter der «Verbindungsklausel» abgeleitet werden könnte. Auf den ersten Blick könnte bei isolierter Betrachtung des BPR ein Problem darin gesehen werden, dass der Begriff des «indirekten Gegenvorschlags» in Art. 73a BPR nur verfahrensrechtlich und formal (von der Bundesversammlung «spätestens gleichzeitig mit der Schlussabstimmung über die Volksinitiative […] in der Form des Bundesgesetzes verabschiedet»), nicht aber materiell definiert wird. Der Begriff «Gegenvorschlag» entspricht nicht der Terminologie der BV und des ParlG, welche den «Vorschlag» der BV 1874 (Art. 93 und Art. 102 Ziff. 4) durch den «Entwurf eines Erlasses» (Art. 181 BV, Art. 71 ff. ParlG) ersetzt haben. Aufgrund der Entstehungsgeschichte und der ratio legis ist aber klar, dass mit dem «indirekten Gegenvorschlag» in Art. 73a BPR dasselbe gemeint sein muss wie mit dem «mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlassentwurf» in Art. 105 ParlG (mit dem einzigen Unterschied, dass letzterer nicht auf die Form des Bundesgesetzes beschränkt ist). Diese materielle Definition in Art. 105 ParlG muss genügen zur Prüfung der Frage, ob ein bedingter Rückzug einer Volksinitiative zulässig ist oder nicht. Der Begriff «eng zusammenhängend» lässt zwar einigen Auslegungsspielraum offen; aber es ist nicht ersichtlich, dass hier in der Praxis «Willkürspielräume» eröffnet werden könnten, «welche die allseitige Anerkennung direktdemokratisch legitimierter Gesetzgebungsprozesse unterspülen», wie der «Rote Ordner» in dramatischer Überspitzung formuliert. Sollte ein bedingter Rückzug einer Volksinitiative aufgrund eines nicht «eng zusammenhängenden» Gegenentwurfs erfolgen – eine wohl rein theoretische Annahme – , so könnte die BK entsprechend verfügen und das Bundesgericht im Beschwerdefall entscheiden. Umgekehrt ist nicht ersichtlich, mit welcher Begründung die BK den bedingten Rückzug einer Volksinitiative aufgrund eines offensichtlich eng zusammenhängenden Gegenentwurfes nur deswegen nicht akzeptieren könnte, weil der Gegenentwurf keine Verknüpfungsklausel enthält.
Die Lehre hat sich, soweit ersichtlich, zur behaupteten Notwendigkeit einer Verknüpfungsklausel bisher nicht geäussert. Hingegen ist in den letzten Jahren in parlamentarischen Debatten wiederholt erklärt worden, dass ein bedingter Rückzug auch ohne Verknüpfungsklausel möglich ist, in einigen indirekten Gegenentwürfen wurde auf eine solche Klausel verzichtet und in der Folge sind Volksinitiativen bedingt zurückgezogen worden. Dazu Nationalrat Müller-Altermatt am 4. Dezember 2014: «Die Verknüpfung des indirekten Gegenentwurfs mit der Volksinitiative wird vom Gesetz ausdrücklich nicht verlangt. Dazu gibt es bereits Präzedenzfälle, insbesondere die Klima-Initiative und die Landschafts-Initiative. Beide Volksinitiativen wurden bedingt zurückgezogen, obwohl das Parlament auf die Verknüpfung in den entsprechenden indirekten Gegenentwürfen verzichtet hatte» (AB 2014 N 2130). In diesem Sinne auch Ständerat Engler am 10. Dezember 2014: «Das Weglassen der Verknüpfungsklausel hat nicht zur Folge, dass ein bedingter Rückzug dieser Initiative nicht mehr möglich wäre» (AB 2014 S 1255). Es wäre zu erwarten, dass der «Rote Ordner» diese Präzedenzfälle und diese Auslegung durch den Gesetzgeber berücksichtigt.
Wünschenswert wäre eine Präzisierung, Differenzierung und Relativierung der Unvereinbarkeit zwischen Volksinitiative und indirektem Gegenentwurf, welche die Einsetzung der Alternativklausel begründen kann. Die jetzige pauschale Aussage im «Roten Ordner» begünstigt das Missverständnis, dass jeder Widerspruch zwischen indirektem Gegenentwurf und Volksinitiative zur Einsetzung der Alternativklausel führen muss. Dabei wird übersehen, dass neues nicht direkt anwendbares Verfassungsrecht der Umsetzung durch den Gesetzgeber bedarf und dass im Widerspruch zu diesem Verfassungsrecht stehendes Gesetzesrecht erst im Rahmen dieser Umsetzung angepasst werden muss; in der Zwischenzeit, die einige Jahre beanspruchen kann, kann das vor Annahme der Verfassungsbestimmung beschlossene Gesetzesrecht weiterhin angewendet werden. Die Alternativklausel ist rechtlich nur dann berechtigt, wenn Inhalte eines neuen Erlasses der Bundesversammlung mit direkt anwendbarem Verfassungsrecht kollidieren und daher gar nie zur Anwendung kommen könnten. Solche Fälle kommen nur sehr selten vor (siehe Rz. 16, 23). Wobei auch hier eine wesentliche Differenzierung bzw. Relativierung anzubringen wäre: Zweckmässig ist die Klausel nur dann, wenn ein überwiegender Teil des Parlamentserlasses betroffen ist und nicht zur Anwendung gelangen kann. Sind nur einzelne Bestimmungen betroffen, z.B. einzelne Artikel der Totalrevision eines Gesetzes, so ist nicht einzusehen, warum der verfassungskonform gebliebene Teil des Gesetzes dahinfallen und erneut erlassen werden sollte; nur die verfassungswidrig gewordenen Bestimmungen sind so bald wie möglich zu revidieren. Das Problem kann statt durch eine Alternativklausel auch so gelöst werden, dass der Bundesrat einen beschlossenen, aber noch nicht in Kraft gesetzten Erlass oder Teile desselben ausnahmsweise nicht in Kraft setzt und diesen Beschluss durch das Parlament genehmigen lässt (siehe das Beispiel in Rz. 23).
Zur Zulässigkeit der Alternativklausel im Allgemeinen – abgesehen von der Frage ihrer Vereinbarkeit mit der Abstimmungsfreiheit (siehe dazu Ziff. 6) –, finden sich in der Lehre nur pauschale Aussagen ohne die hier gewünschten Differenzierungen. Für die Zulässigkeit spricht sich Hangartner / Kley (2000, N 889) aus, aber mit generellem Hinweis auf die nötige Beachtung des Anspruches auf unverfälschte Stimmabgabe. Die generelle Zulässigkeit wird auch von Grisel (2004, N 720) bejaht, ebenso von Dubey (2021, N 119), beide mit Verweis auf BGE 112 Ia 391, 396 (Urteil des Bundesgerichts vom 26. November 1986). Hier handelte es sich aber um einen anderen Fall als bei einem indirekten Gegenentwurf in Form eines Bundesgesetzes zu einer Volksinitiative für Revision der Bundesverfassung: Hier ging es um einen indirekten Gegenentwurf auf der Ebene eines kantonalen Gesetzes zu einer Volksinitiative für eine Gesetzesrevision; die beiden Gesetzesrevisionen schlossen sich aus. Es lag also ein Rechtfertigungsgrund für eine Alternativklausel vor, wie er auf Bundesebene nur dann besteht, wenn die Verfassungsänderung direkt anwendbar ist.
Die Praxis hält sich nur teilweise an die Doktrin des «Roten Ordners» – wie unter Ziff. 3 und 4 gezeigt, wurde in vielen Fällen auf die Alternativklausel verzichtet (auch in Botschaften des Bundesrates), wo sie aufgrund einer undifferenzierten Auslegung des «Roten Ordners» nötig gewesen wäre. Auf der anderen Seite war die mangelhafte Differenzierung dieser Doktrin sicher ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Alternativklausel viel häufiger verwendet wurde, als es nötig und sinnvoll gewesen wäre, auch in vielen Fällen, in welchen auch nach «Rotem Ordner» die «Verbindungsklausel» genügt hätte, weil der indirekte Gegenentwurf die Volksinitiative nur ausführte und ergänzte. Es kann davon ausgegangen werden, dass der «Rote Ordner» die Personen in der Verwaltung, welche Vorentwürfe zhd. des Bundesrates und zhd. parlamentarischer Kommissionen erstellen, wesentlich beeinflusst. Da in der Beratung dieser Vorentwürfe formellen Aspekten meistens keine grosse Aufmerksamkeit zukommt (siehe unten Ziff. 5.2), wird das definitive Ergebnis durch den «Roten Ordner» massgeblich vorgeprägt.
Ein deutliches Indiz für das Überhandnehmen der Vorstellung, die Alternativklausel sei der Normalfall, liefert das «Bürgerportal» www.ch.ch, für welches die BK verantwortlich zeichnet. Danach enthält ein indirekter Gegenentwurf immer die Alternativklausel: «Das Parlament schlägt anstelle einer Verfassungsänderung eine Gesetzesänderung oder ein neues Gesetz vor. Der indirekte Gegenvorschlag erlaubt es den Behörden, auf das Anliegen der Initiative einzugehen, ohne die Verfassung zu ändern. Zieht das Initiativkomitee die Initiative nicht zurück, so tritt der Gegenvorschlag in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt wird.»
5.2.
Mangelhafte Überprüfung durch das Parlament ^
Die Alternativklausel im Entwurf des CO2-Gesetzes, indirektem Gegenentwurf zur Volksinitiative «für ein gesundes Klima» (siehe Fussnote 8), wurde am 8. März 2011 im Ständerat durch den Kommissionsberichterstatter Schweiger so begründet: «Wir haben uns zu diesem Antrag entschieden, weil es in den letzten Jahren üblich geworden ist, dass dann, wenn ein indirekter Gegenvorschlag gemacht wird, auch eine Verknüpfung erfolgt.» (AB 2011 S 156). In diesem Fall war der Antrag erfolglos und erhielt im Rat nur eine einzige Stimme. Dass Ratsmitglieder aber häufig wie Ständerat Schweiger von der Annahme ausgehen, die Alternativklausel sei normal und selbstverständlich, zeigt sich vor allem darin, dass die Klausel in 11 indirekten Gegenentwürfen, der Hälfte der im untersuchten Zeitraum von 2012 bis Februar 2022 behandelten Gegenentwürfe, in den Räten völlig unbestritten blieb (siehe Ziff. 3.2). Dabei handelte es sich in allen Fällen um indirekte Gegenentwürfe, welche mit der Volksinitiative rechtlich kompatibel waren – ein Beispiel ist der Ausgangspunkt dieser Untersuchung, der indirekte Gegenentwurf zur «Pflegeinitiative».
Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die Befürworterinnen und Befürworter einer Volksinitiative in der Regel ein ernsthaftes Interesse daran haben müssten, dass im Falle einer Annahme der Initiative eine durch den indirekten Gegenentwurf bewirkte teilweise Umsetzung des Anliegens der Initiative nicht um mehrere Jahre verzögert wird. Zumindest ein Minderheitsantrag aus dem Kreise der Befürworterinnen und Befürworter der Initiative in der vorberatenden Kommission wäre also zu erwarten.
Teilweise wird das vorliegende Problem gar nicht erkannt – dies ist der Fall, wenn es überhaupt nicht thematisiert wird. Teilweise liegt ein Missverständnis vor – das zeigt sich z.B. darin, wenn von der falschen Annahme ausgegangen wird, die Alternativklausel sei notwendiger Bestandteil jedes indirekten Gegenentwurfs (Beispiel in Rz. 12) oder sie sei Voraussetzung für die Möglichkeit eines bedingten Rückzuges (Beispiel in Rz. 13).
Wie kann es dazu kommen, dass objektive Interessen nicht wahrgenommen werden bzw. Probleme nicht oder nicht zutreffend erkannt werden? Die Erklärung ist banal: Auch von Mitgliedern des Parlaments kann unmöglich erwartet werden, dass sie jede sich bei der Gesetzgebung stellende Frage von einiger Bedeutung erkennen und ggf. nach ihrer Interessenlage beantworten – das gilt übrigens auch für Mitglieder des Bundesrates. Politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern steht daher eine Verwaltung zur Verfügung, welche für sie Vorentwürfe verfasst und bei ihren Beratungen unterstützend zur Seite steht. Selbstredend sollte diese Verwaltung nicht die Entscheide über mögliche verschiedene Antworten auf wesentliche Fragen vorwegnehmen, sondern sachlich auf mögliche Alternativen hinweisen und die Konsequenzen der jeweiligen Auswahl erklären – sei es im Entwurf zu einer Botschaft des Bundesrates oder sei es in der Beratung einer Kommission bzw. des Kommissionspräsidiums durch das Kommissionssekretariat.16
Ein Grund für die mangelhafte Überprüfung der Verknüpfung von Volksinitiative und indirektem Gegenentwurf liegt auch darin, dass sich Politikerinnen und Politiker primär für materielle Fragen interessieren, zu welchen sie die Interessen ihrer Wählerschaft einbringen können. Die Bedeutung formeller Fragen wird erfahrungsgemäss unterschätzt, obwohl diese auch erhebliche materielle Folgen haben können, was aber häufig auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Formelle Fragen, die sich in den Schlussbestimmungen eines Erlassentwurfes stellen, kommen ganz am Ende der Beratung zur Sprache: Es liegt nahe, dass in diesem Moment Ermüdung und Zeitdruck häufig eine gründliche Prüfung behindern.
5.3.
Druckmittel für den Rückzug einer Volksinitiative ^
Häufig wird eine Alternativklausel damit begründet, dass sie das Initiativkomitee dazu bewegen soll, die Volksinitiative zurückzuziehen. Beispiele:
- Zusatzbericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 18. Mai 2018: «Die Kommission erwartet vom Initiativkomitee der Konzernverantwortungsinitiative, dass dieses im Hinblick auf die Beschlussfassung im National- und im Ständerat auf der Grundlage entsprechender Beschlüsse des Initiativkomitees öffentlich und mit verbindlicher Wirkung erklärt, dass die Volksinitiative im Fall der Verabschiedung des indirekten Gegenentwurfs gemäss den Anträgen der Kommission zurückgezogen wird, unter der Bedingung, dass der indirekte Gegenentwurf nicht in einer Volksabstimmung abgelehnt wird (bedingter Rückzug).»
- Ständerat Caroni erklärte in der Debatte des Ständerates vom 11. März 2019 zur Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» (AB 2019 S 101): «Gut, machen wir das [Aufstockung des «Fonds de roulement» zugunsten des gemeinnützigen Wohnungsbaus], aber dann wollen wir auch etwas, nämlich dass ihr die Initiative zurückzieht oder dass sie eben abgelehnt wird. Ich glaube, es gibt keine Pflicht der Initiativgegner, hier in Vorleistung ihr Pfand aus der Hand zu geben.»
- Nationalrat Müller-Altermatt sagte in der Beratung des Nationalrates vom 14. März 2013 zum indirekten Gegenentwurf zur «Cleantech-Initiative» (AB 2013 N 291): «Gleichzeitig begrüssen wir die Verknüpfung dieser parlamentarischen Initiative mit der Cleantech-Initiative, um sie so als indirekten Gegenvorschlag zu konzipieren und den Initianten den Rückzug ihrer Initiative schmackhaft zu machen.»
Es stellt sich die Frage, ob es tatsächlich die Alternativklausel ist, welche Initiativkomitees zum Rückzug der Initiative bewegen kann. Im Zeitraum von 2012 bis Februar 2022 sind zehn Initiativen aufgrund indirekter Gegenentwürfe zurückgezogen worden; in sieben Fällen enthielt der indirekte Gegenentwurf eine Alternativklausel, in drei Fällen wurde die Initiative trotz fehlender Alternativklausel zurückgezogen. Eine nähere Betrachtung der erstgenannten sieben Fälle ergibt, dass hier überall der indirekte Gegenentwurf die Anliegen der Volksinitiative weitgehend erfüllt hat: Die Initiativkomitees hatten in diesen Fällen gar kein Interesse mehr an der Aufrechterhaltung der Volksinitiative: Warum das Risiko einer Volksabstimmung mit dem Risiko eines Nichterreichens des Volks- und Ständemehrs eingehen und den Aufwand einer Abstimmungskampagne auf sich nehmen, wenn das Ziel auf viel einfachere Weise erreicht werden kann? Umgekehrt kann festgestellt werden, dass bei den sechs indirekten Gegenentwürfen mit Alternativklausel, welche die Initiativkomitees nicht zum Rückzug bewegen konnten, in allen Fällen der indirekte Gegenentwurf die Anliegen der Volksinitiative nur in sehr beschränktem Ausmass erfüllt hat.
Natürlich ist ein indirekter Gegenentwurf auch Verhandlungsgegenstand im Hinblick auf einen möglichen Rückzug der Volksinitiative; dabei kann es gegenseitiges Entgegenkommen und entsprechende «Deals» geben. Aber es ist davon auszugehen, dass es dabei Grenzen gibt. Die Bereitschaft eines Initiativkomitees zum Rückzug der Initiative wird klein sein, wenn der indirekte Gegenentwurf ihre Forderungen in wichtigen Punkten nicht erfüllt. Umgekehrt wird in der Regel eine Parlamentsmehrheit kaum bereit sein, den indirekten Gegenentwurf gegen ihren Willen auszugestalten. Ist die Befürchtung der Initiativgegner, die Volksinitiative könnte angenommen werden, gross und die Verhandlungsmacht des Initiativkomitees entsprechend stark, so ist es zwar auch denkbar, dass diese Initiativgegner dem Initiativkomitee mit dem indirekten Gegenentwurf weiter entgegenkommen, als dies ihrem tatsächlichen politischen Willen entspricht (es liegen Indizien dafür vor, dass die «Transparenz-Initiative» diese Wirkung hatte). Aber der Nutzen der Alternativklausel ist in diesem Fall fraglich: Wahrscheinlich kommt sie nicht zur Anwendung, weil das Initiativkomitee kein Interesse an der Aufrechterhaltung der Initiative mehr hat (siehe Rz. 38). Zieht es die Initiative nicht zurück und sie wird angenommen, so haben die Initiativgegner lediglich den Gewinn einer Verzögerung der Umsetzung der Initiative. Dieser «Gewinn» hat allerdings den aus demokratiepolitischer Sicht schweren Makel einer Bestrafung des unwilligen Souveräns (so auch die Argumentation von Ratsmitgliedern in Rz. 14). Auch wenn das in dieser Situation niemand offen eingestehen wird, so lässt sich anders schwer begründen, warum die Initiativgegner zuerst für den indirekten Gegenentwurf gestimmt haben und ihn nach Annahme der Initiative nicht in Kraft treten lassen. Der Glaubwürdigkeit der Politik ist damit zweifellos nicht gedient.
Auch wenn sich die Motive der Initiativkomitees für oder gegen den Rückzug nicht oder nur mit grossem Rechercheaufwand klar belegen lassen, so liegen doch starke Indizien vor, dass nicht die Alternativklausel, sondern das Ausmass der Umsetzung der Volksinitiative durch den indirekten Gegenentwurf massgebend für den Entscheid über den Rückzug einer Volksinitiative ist.
Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser These ist der Umstand, dass Volksinitiativen auch ohne den Druck einer Alternativklausel häufig zurückgezogen werden. In der Zeitperiode 2012 bis Februar 2022 waren es immerhin drei Fälle. Eine Analyse der Liste der BK aller zurückgezogenen Initiativen ergibt für den Zeitraum von 1962 bis 2002 weitere 19 Rückzüge von Volksinitiativen aufgrund von 16 indirekten Gegenentwürfen ohne Alternativklausel.
Es stellt sich auch die Frage, in welchem Ausmass das Vorliegen eines indirekten Gegenentwurfs mit Alternativklausel für die Stimmberechtigten in der Volksabstimmung ein Motiv ist, die Volksinitiative abzulehnen. Eine Antwort liefert die Vox-Analyse November 2021, Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 28. November 2021. Bern, Januar 2022. Nur 7% der befragten Nein-Stimmenden haben die Begründung angegeben: «Gegenvorschlag kann schneller umgesetzt werden», 5% haben dieses Motiv an die erste Stelle gesetzt (S. 22). Wobei damit nicht gesagt ist, dass diese 5% nur aus diesem Grund Nein gestimmt haben und die Initiative angenommen hätten, hätte der indirekte Gegenentwurf auch im Falle der Annahme der Volksinitiative umgesetzt werden können. Die Vox-Analyse stellt fest: «Der Gegenvorschlag war in der Debatte nicht sehr präsent» (S. 21). Man könnte deutlicher werden und diagnostizieren: den allermeisten Stimmberechtigten dürfte nicht bewusst gewesen sein, dass sie mit ihrer Ja-Stimme zur Initiative gleichzeitig eine schnellere Umsetzung eines Teiles der Anliegen der Initiative ablehnen.
Fazit: Beschliesst die Parlamentsmehrheit eine Alternativklausel, so beschränkt sie damit die Wirksamkeit ihres materiellen Beschlusses für eine teilweise Umsetzung des Anliegens der Volksinitiative, ohne damit die Chancen für die von ihr empfohlene Ablehnung der Volksinitiative nennenswert zu verbessern.
6.
Verletzung der Garantie der politischen Rechte durch die Alternativklausel ^
Art. 34 Abs. 2 BV lautet: «Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe». Dieser Schutz bedeutet gemäss Bundesgericht, «dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt» (BGE 129 I 366, 369). Es stellt sich die Frage, ob überhaupt, und wenn ja in welchen Fällen, eine Alternativklausel in einem indirekten Gegenentwurf zu einer Volksinitiative zulässig ist.
Diese Frage wurde soweit ersichtlich im Rahmen der hier untersuchten Fälle (Ziff. 3 und 4) nur bei der Behandlung des indirekten Gegenentwurfs zur Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» diskutiert (siehe oben Rz. 14). Dazu lag ein Gutachten von Prof. Andreas Glaser vor. Glaser meint u.E. zu Recht, es sei «schwierig zu begründen, dass die Annahme der Initiative die Verwirklichung des Kreditbeschlusses gefährden könnte. Initiative und Kreditbeschluss stehen vielmehr im Einklang. Art. 108 Abs. 1 Satz 1 BV (neu) würde die Rechtmässigkeit des Kreditbeschlusses gleichsam bekräftigen» (Glaser 2018, S. 6). Mit anderen Worten: Initiative und indirekter Gegenentwurf schliessen sich nicht aus, sondern sind kompatibel. Glaser stellt fest: «Stimmberechtigte, welche die Förderung preisgünstigen Wohnraums befürworten, stehen somit vor dem Dilemma, mit der Zustimmung zur Volksinitiative das Inkrafttreten des Rahmenkredits zu verhindern beziehungsweise nur mittels Ablehnung der Initiative den Kreditbeschluss wirksam werden zu lassen» (Glaser 2018, S. 2). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe in der Volksabstimmung durch die Alternativklausel im vorliegenden Fall beeinträchtigt wird.
Andreas Auer ist in seiner Analyse einer ähnlichen Konstellation bereits 1986 zur selben Schlussfolgerung gekommen: «Car voter en faveur de l'initiative signifie alors refuser la modification immédiate que le contre-projet indirect entend apporter au droit positif, c'est-à-dire confirmer et même cimenter à court et à moyen terme le statu quo. Il y a là une déformation procédurale de la volonté populaire qui est indigne d'un système démocratique» (Auer 1986, N 67). Der Bundesrat wollte der Volksinitiative «Für Mieterschutz» einen direkten Gegenentwurf entgegenstellen und diesen zugleich mit einem indirekten Gegenentwurf umsetzen, wobei dieser nur hätte in Kraft treten können, wenn die Volksinitiative abgelehnt oder zurückgezogen und der direkte Gegenentwurf angenommen wird. Diese Verknüpfung scheiterte bereits im Parlament. Kommissionsberichterstatter Jelmini erklärte im Sinne von Auer am 4. Dezember 1985 im Ständerat : «la procédure envisagée ne permettrait pas une libre expression de la volonté populaire car le sort de la révision du code des obligations est lié à celui de l'initiative et du contre-projet direct» (85.015 Mieterschutz. Revision des Miet- und Pachtrechts).
Im Übrigen enthält die Argumentation von Glaser auch Widersprüche. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, hier nur die zur eigenen Argumentation passenden Argumente herausgepickt zu haben, muss hier darauf hingewiesen werden, dass er auch gegenteilige Aussagen macht, die aber zu Widersprüchen in seiner Argumentation führen. Zuerst bejaht er nämlich die Frage, ob im vorliegenden Fall die freie Meinungsbildung über die Volksinitiative für die Bevölkerung gewährleistet sei: «Die Zulässigkeit der Verknüpfung durch Resolutivklauseln wird jedoch damit begründet, da hierdurch Klarheit bezüglich der Auswirkungen der Stimmabgabe herbeigeführt wird, weil das kumulative Inkrafttreten beider Vorlagen ausgeschlossen ist. Im vorliegenden Fall ist es mit Blick auf die Abstimmungsfreiheit grundsätzlich als zulässig anzusehen, dass sich die Stimmberechtigten zwischen den noch durch Gesetz umsetzungsbedürftigen Zielsetzungen der Initiative und der bereits ausgearbeiteten Massnahme zur Förderung preisgünstigen Wohnungsbaus entscheiden müssen» (Glaser 2018, S. 4). Dass im vorliegenden Fall das kumulative Inkrafttreten ausgeschlossen sei, wird an dieser Stelle allerdings nicht weiter begründet, an späterer Stelle stellt Glaser selbst das Gegenteil fest (siehe oben Rz. 45). Aus dieser Feststellung leitet er ab, es sei «das Vorliegen der Einheit der Materie von indirektem Gegenvorschlag und Initiative zu verneinen». Hier zieht er u.E. aus einer richtigen Feststellung eine unzutreffende Schlussfolgerung. Auch zur Wahrung der Einheit der Materie äussert er sich widersprüchlich. Einerseits stellt er die These auf: «Bei entsprechender Verknüpfung muss demnach auch der indirekte Gegenvorschlag den an einen direkten Gegenentwurf zu stellenden Anforderungen genügen». Das bedeute, dass mit dem indirekten Gegenentwurf «keine andere Frage als mit der Initiative gestellt, sondern lediglich andere Antworten vorgeschlagen werden» (Glaser 2018, S. 5). Diese These steht nun allerdings in Widerspruch zur von Glaser an anderer Stelle gemachten «Feststellung, dass Bundesversammlung und Bundesrat im Rahmen ihrer Kompetenzen jederzeit zum Erlass von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsbeschlüssen befugt sind, unabhängig davon, in welcher materiell-rechtlichen oder politischen Beziehung der betreffende Erlass zu einer Volksinitiative steht» (Glaser 2018, S. 3). Diese Feststellung entspricht nicht nur der Praxis – wenn ein indirekter Gegenentwurf z.B. ein Gesetz total revidiert, so enthält er zahlreiche Regelungen, die nicht die durch die Initiative aufgeworfene Frage beantworten – , sondern auch der überwiegenden Lehre (siehe Ziff. 2).
Die Beurteilung der Verknüpfung der Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» mit ihrem indirekten Gegenentwurf gilt auch für alle anderen Verknüpfungen von Volksinitiativen mit kompatiblen indirekten Gegenentwürfen, insb. auch für die «Pflegeinitiative» und ihren indirekten Gegenentwurf: Stimmberechtigte, welche die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege wie auch die von der Initiative geforderten weitergehenden Massnahmen im Bereich der Pflege befürworteten und die Abstimmungssituation genau analysierten, standen vor dem Dilemma, entweder mit der Zustimmung zur Volksinitiative das Inkrafttreten des «Bundesgesetzes über die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege» zu verhindern oder nur mittels Ablehnung der Initiative das Gesetz wirksam werden zu lassen.
Daraus folgt, dass eine Alternativklausel nur dann zulässig ist, wenn indirekter Gegenentwurf und Volksinitiative sich ausschliessen, d.h. wenn der indirekte Gegenentwurf nur oder überwiegend Bestimmungen enthält, welche mit dem durch die Volksinitiative geforderten unmittelbar anwendbaren Verfassungsrecht nicht vereinbar sind.
7.
Fazit ^
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob es rechtlich geboten war, den indirekten Gegenentwurf zur «Pflegeinitiative» nach Annahme der Initiative wegen seiner Alternativklausel nicht in Kraft treten zu lassen, ist klar: Nein, das war keineswegs notwendig; die teilweise Umsetzung der angenommenen Initiative hätte ohne Verzug ihre Wirkung entfalten können. Den Aufwand für eine neue Ausarbeitung dieses Teils der Umsetzung der Initiative hätte man sich sparen können; vor allem hätte der Pflegenotstand früher bekämpft werden können. Dabei ging es um ein durchaus ernsthaftes Problem: der Pflegenotstand hat konkrete Folgen; Komplikationen und sogar Todesfälle in Spitälern können die Folgen sein.17
Es gibt Präzedenzfälle, in welchen das Parlament die negativen Folgen einer Alternativklausel erkannt und darauf bewusst verzichtet hat (siehe Ziff. 3.4). Nur zweieinhalb Monate nach Annahme der «Pflegeinitiative» lag eine analoge Situation vor, als die Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» angenommen wurde. Hier kann der indirekte Gegenentwurf in Kraft treten; die fehlende Alternativklausel gab nicht einmal zu Diskussionen Anlass. Offenbar spielt in solchen Fragen auch der Zufall eine wesentliche Rolle.
Die unnötige Alternativklausel im indirekten Gegenentwurf zur «Pflegeinitiative» ist aber kein Einzelfall. Sie reiht sich ein in eine schon fast gewohnheitsmässige Praxis; gewohnheitsmässig in dem Sinne, dass die Klausel in der grossen Mehrheit der Fälle ohne jede Begründung und Diskussion eingesetzt wird (siehe Rz. 32).
Die eine Folge der unnötigen Verwendung der Alternativklausel ist eine faktische Einschränkung der verfassungsmässigen Beschlussfassungskompetenz des Parlaments, d.h. des Rechtes der Bundesversammlung, Gesetze, Bundesbeschlüsse und Parlamentsverordnungen in ihrem Zuständigkeitsbereich zu erlassen (siehe Ziff. 2). Diese Kompetenz des Parlaments wird allein begrenzt durch übergeordnetes Recht. Neues, nach dem Parlamentserlass beschlossenes Verfassungsrecht ist meistens nicht direkt anwendbar, beauftragt das Parlament zur Umsetzung, verhindert aber nicht automatisch die Anwendung früherer Parlamentserlasse. Eine Alternativklausel in einem indirekten Gegenentwurf ist nur dann berechtigt, wenn dieser direkt anwendbarem Verfassungsrecht widerspricht (siehe Rz. 28).
Die andere Folge der unnötigen Verwendung der Alternativklausel ist eine Verletzung des verfassungsmässigen Rechtes auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe in der Volksabstimmung. Diejenigen Stimmberechtigten, die der Initiative zustimmen, hätten in der Regel auch ein Interesse daran, dass eine vom Parlament bereits beschlossene, wenn auch nur teilweise Umsetzung der Initiative in Kraft treten kann. Sie stehen nun aber vor dem Dilemma, mit der Zustimmung zur Volksinitiative das Inkrafttreten des Parlamentserlasses zu verhindern beziehungsweise nur mittels Ablehnung der Initiative den Parlamentserlass wirksam werden zu lassen. Die freie Willensbildung wird dadurch beeinträchtigt (siehe Ziff. 6).
Eine Voraussetzung für einen Verzicht auf die unnötige Verwendung der Alternativklausel wäre es, wenn sich die politischen Entscheidungsträger von der Vorstellung verabschieden, dass die Alternativklausel ein wirksames Druckmittel für den Rückzug einer Volksinitiative ist. Die empirischen Fakten zeigen, dass diese Vorstellung nicht der Realität entspricht (siehe Ziff. 5.3).
Die wichtigste Voraussetzung für einen Verzicht auf die unnötige Verwendung der Alternativklausel wäre es aber, dass Parlament, Bundesrat und Verwaltung diesem Thema die gebührende Aufmerksamkeit widmen und dadurch offensichtliche Missverständnisse, wie sie in der Praxis häufig zu Tage getreten sind, vermieden werden (siehe Ziff. 5.2). Es geht hier nicht um formalistische Spitzfindigkeiten, sondern um eine formelle Frage mit u.U. erheblichen materiellen Auswirkungen, wie das Beispiel der «Pflegeinitiative» zeigt. Da erfahrungsgemäss nicht erwartet werden kann, dass politische Entscheidungsträger von sich aus jedes formelle Problem erkennen, liegt die Verantwortung zuerst bei der Verwaltung, sowohl bei der Bundesrats- wie bei der Parlamentsverwaltung, die Verknüpfungsfrage jeweils in differenzierter Weise (d.h. nicht gemäss der Doktrin im «Roten Ordner», siehe Ziff. 5.1) offen zu legen und damit einen begründeten Entscheid von Bundesrat und Parlament zu ermöglichen (siehe Rz. 35).
«Entweder – oder», wo nötig, «Sowohl – als auch», wo möglich. Gilt «Entweder – oder» auch dort, wo «Sowohl – als auch» möglich wäre, so werden Handlungsspielräume unnötig eingeschränkt, was weder im Interesse der Parlamentsmehrheit, noch des Initiativkomitees oder der Stimmberechtigten liegen kann.
Martin Graf war 1991 – 2018 Sekretär der Staatspolitischen Kommissionen (SPK), 1996 – 1999 Sekretär der Verfassungskommissionen der Eidg. Räte.
8.
Literatur ^
- Albrecht, Christoph (2003): Gegenvorschläge zu Volksinitiativen, Diss. St. Gallen.
- Auer, Andreas (1986): Contre-projet indirect, procédure à une phase et clause référendaire conditionnelle, in : ZBJV 1986 (Bd. 122), S. 213–224.
- Biaggini, Giovanni (2017): BV. Kommentar, 2. Aufl., Zürich.
- Dubey, Jacques (2021): Art. 139, in: Martenet, Vincent / Dubey, Jacques (Hrsg.), Commentaire romand. Constitution fédérale, Basel.
- Ehrenzeller Bernhard (2014): Art. 139, in: Ehrenzeller, Bernhard / Schindler, Benjamin / Schweizer, Rainer J. / Vallender, Klaus A. (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen.
- Epiney Astrid / Diezig Stefan (2015): Art. 139, in: Waldmann, Bernhard / Belser, Eva Maria / Epiney, Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar. Bundesverfassung, Basel.
- Füzessery Alexandre (2014): Art. 105, in: Graf, Martin / Theler, Cornelia / von Wyss, Moritz (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung. Kommentar zum Parlamentsgesetz, Basel. Online unter: http://publikationen.sgp-ssp.net/index_komm_ch.php [17.02.2022].
- Glaser, Andreas (2018): Gutachten betreffend Verknüpfung der Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» mit dem Bundesbeschluss über den Fonds de Roulement. Zürich/Aarau, 7. September 2018. Online unter: https://mieterverband.ch/dam/jcr:e3379558-0f6f-4efe-825b-5757060ca7d9/
smv_mm_2019_01_16_Beilage_Gutachten_Prof%20Andreas%20Glaser% [17.02.2022].202018%20Gegenvorschlag.pdf - Grisel, Etienne (2004): Initiative et référendum populaires, 3. Aufl., Bern.
- Hangartner, Yvo / Kley, Andreas (2000): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich.
- 1 Zur Terminologie: «Gegenentwurf» und «Gegenvorschlag» sind sprachlich synonym; im Interesse einer kohärenten rechtlichen Terminologie sollte aber die Terminologie der BV nicht nur für den direkten, sondern auch für den indirekten Gegenentwurf verwendet werden (siehe dazu näher Rz. 26). Dafür spricht auch die Einheitlichkeit der Terminologie in den drei Amtssprachen: Neben «contre-projet» und «contro-progetto» kennen das Französische und Italienische keinen zweiten Begriff. Auch die Lehre verwendet teilweise den Begriff «Gegenentwurf», nicht «Gegenvorschlag» (Ehrenzeller 2014, N 85; Epiney / Diezig 2014, N 55; Füzessery 2014, passim; Hangartner / Kley (2000), N 888–895). Epiney / Diezig: «Der Begriff indirekter Gegenentwurf – der sich eingebürgert hat – ist jedoch an sich wenig glücklich, da es hier um einen völlig anderen Erlass geht, der aus rechtlicher Sicht in keinem Zusammenhang mit der Volksinitiative steht, sondern mit diesem lediglich politisch verknüpft ist». Man kann ergänzen, dass der Wortteil «Gegen-» zu Unrecht impliziert, dass es sich immer um einen alternativen, d.h. mit der Volksinitiative nicht kompatiblen Erlass handelt. Auch der Wortteil «-entwurf» ist fragwürdig, da der indirekte Gegenentwurf nur bis zur Verabschiedung durch die Eidg. Räte ein Entwurf ist. Zum Zeitpunkt der Volksabstimmung über die Volksinitiative ist er weder Entwurf noch Vorschlag.
- 2 18.079 Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative). Volksinitiative / 19.401 Für eine Stärkung der Pflege, für mehr Patientensicherheit und mehr Pflegequalität – Um die Zahl der Quellennachweise zu beschränken, wird im ganzen Aufsatz auf Botschaften des Bundesrates (Bundesblatt), Ratsverhandlungen (Amtliches Bulletin), Publikation von Referendumsvorlagen (Bundesblatt) und in Kraft gesetzte Erlasse (Amtliche Sammlung) nicht direkt verlinkt, sondern auf das Geschäftsdossier auf www.parlament.ch verwiesen, welches die erwähnten Dokumente verlinkt.
- 3 Medienmitteilung des «Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner» (SBK) vom 9. März 2018: «11'000 Stellen im Pflegebereich sind aktuell nicht besetzt, davon über 6'500 für diplomierte Pflegefachpersonen.»
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Indirekte Gegenentwürfe mit unbestrittener Alternativklausel zu angenommenen Volksinitiativen:
- 18.079 / 19.400 (siehe Fussnote 2);
- 19.023 Ja zum Verhüllungsverbot. Volksinitiative und indirekter Gegenvorschlag (der Text des indirekten Gegenentwurfs wurde wegen der Alternativklausel nicht im BBl publiziert und findet sich als Schlussabstimmungstext hier);
- 08.080 Gegen die Abzockerei. Volksinitiative. OR. Änderung / 10.443 Indirekter Gegenentwurf zur Volksinitiative «gegen die Abzockerei» (der Text des indirekten Gegenentwurfs wurde wegen der Alternativklausel nicht im BBl publiziert und findet sich als Schlussabstimmungstext hier. -
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Indirekte Gegenentwürfe mit unbestrittener Alternativklausel zu abgelehnten Volksinitiativen:
- 17.060 Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt. Volksinitiative / 16.077 (Entwurf 2). OR. Aktienrecht;
- 09.074 «Bauspar-Initiative» sowie «Eigene vier Wände dank Bausparen». Volksinitiativen / 10.459 Indirekter Gegenentwurf zu den Volksinitiativen «Eigene vier Wände dank Bausparen» und «für ein steuerlich begünstigtes Bausparen zum Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum und zur Finanzierung von baulichen Energiespar- und Umweltschutzmassnahmen (Bauspar-Initiative)». Indirekter Gegenentwurf in der Schlussabstimmung gescheitert. -
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Indirekte Gegenentwürfe mit unbestrittener Alternativklausel zu zurückgezogenen Volksinitiativen:
- 21.021 Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer. Volksinitiative;
- 20.090 Organspende fördern – Leben retten. Volksinitiative. Transplantationsgesetz;
- 18.070 Für mehr Transparenz in der Politikfinanzierung (Transparenz-Initiative). Volksinitiative / 19.400 Mehr Transparenz bei der Politikfinanzierung;
- 19.037 Stop der Hochpreisinsel – für faire Preise. Volksinitiative und indirekter Gegenvorschlag;
- 18.052 Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub – zum Nutzen der ganzen Familie. Volksinitiative / 18.441 Indirekter Gegenentwurf zur Vaterschaftsurlaub-Initiative;
- 15.082 Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen (Wiedergutmachungsinitiative). Volksinitiative und indirekter Gegenvorschlag. -
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18.035 Mehr bezahlbare Wohnungen. Volksinitiative und Rahmenkredit zur Aufstockung des Fonds de Roulement. Die drei anderen Fälle sind:
- 13.058 Stipendieninitiative und Totalrevision des Ausbildungsbeitragsgesetzes;
- 12.064 Neue Arbeitsplätze dank erneuerbaren Energien (Cleantech Initiative). Volksinitiative / 12.400 Freigabe der Investitionen in erneuerbare Energien ohne Bestrafung der Grossverbraucher;
- 10.060 Sicheres Wohnen im Alter. Volksinitiative. Indirekter Gegenentwurf infolge Nichteintreten gescheitert.
In diesen drei anderen Fällen sind die für oder gegen die Alternativklausel vorgebrachten Argumente teilweise schwer nachvollziehbar bzw. nicht ersichtlich. Im Fall des indirekten Gegenentwurfs zur Initiative «Für sicheres Wohnen im Alter» hatte der Ständerat ohne Begründung die Klausel angebracht. Gemäss Berichterstatterin der Kommission des Nationalrates wollte diese die Klausel zuerst mit 13 zu 12 Stimmen streichen, beantragte dann aber Nichteintreten auf die Vorlage. Der Nationalrat folgte diesem Antrag, so dass keine Detailberatung stattfand und die Gründe für oder gegen die Klausel nicht zur Sprache kamen. Zu den indirekten Gegenentwürfen zur «Stipendieninitiative» und zur «Cleantech-Initiative» sprachen sich die Befürworter der Initiative für die Klausel aus. In beiden Fällen opponierte Nationalrat Wasserfallen erfolglos gegen die Klausel, im Fall der «Stipendieninitiative» mit dem Argument: «Es wäre eigentlich auch ein deutliches Zeichen, diesem Gesetz, das jetzt wirklich sehr gut herausgekommen ist, als eigenständigem Projekt eine verstärkte Wahrnehmung zu geben, wenn es kein indirekter Gegenvorschlag ist.» Im Fall der «Cleantech-Initiative» führte er aus: «Sie können es sich nicht leisten, mit den indirekten Gegenvorschlägen ständig in einer Art Geiselhaft eines Initiativkomitees zu sein. Sie bestimmen heute, ob Sie sich bereiterklären, diese Energiestrategie mit einem Trick vorab scheibchenweise als indirekte Gegenvorschläge irgendwie durchzubringen.» Im Ständerat wurde die Klausel allen drei Fällen nicht thematisiert. -
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Weitgehend analog wurde in folgenden zwei Fällen argumentiert:
- 09.067 Für ein gesundes Klima. Volksinitiative. CO2-Gesetz. Revision;
- 10.018 Raum für Mensch und Natur (Landschaftsinitiative). Volksinitiative; 10.019 Raumplanungsgesetz. Teilrevision. In beiden Fällen hatte der Bundesrat keine Alternativklausel beantragt; entsprechende Anträge wurden im Ständerat gestellt. Im Falle des indirekten Gegenentwurfes zur Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mit Kindern arbeiten können» hatte demgegenüber der Bundesrat die Alternativklausel beantragt; die Eidg. Räte haben sie in diesem Fall ohne Begründung und ohne Abstimmung nicht übernommen (12.076 Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten können. Volksinitiative. Änderung des StGB, MStGB und JStG). Nachbesserung der Umsetzungsgesetzgebung nach Annahme der Volksinitiative durch 16.048 StGB und MStGB. Umsetzung von Art. 123c BV. - 9 Der Bundesrat hatte in seiner Botschaft zu dieser Volksinitiative erklärt: «Zudem verzichtet der Bundesrat darauf, das erste Massnahmenpaket zur Energiestrategie 2050 als indirekten Gegenvorschlag zur Stromeffizienz-Initiative vorzuschlagen. Der Bundesrat hat am 4. September 2013 das erste Massnahmenpaket bereits zum indirekten Gegenvorschlag der Atomausstiegsinitiative erklärt. Eine Verknüpfung zweier Volksinitiativen mit einem indirekten Gegenvorschlag wäre nach Ansicht des Bundesrates rechtlich nicht ausgeschlossen, aber unter dem Aspekt der freien und unverfälschten Willenskundgebung der Stimmberechtigten problematisch» (BBl 2014 2439). Warum dies «problematisch» sein soll, wird nicht erläutert.
- 10 07.062 RPG. Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland. Flankierende Massnahmen zur Aufhebung des BewG / 08.073 Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen. Volksinitiative. Nachbesserung der Umsetzungsgesetzgebung nach Annahme der Volksinitiative durch 14.023 Zweitwohnungen. Bundesgesetz.
- 11 Siehe z.B. die Definition in der Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz vom 15. Juni 2012 zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät: «Gemäss der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Verfassungsbestimmung direkt anwendbar, wenn sie ausreichend genau ist und wenn die Behörden die Bestimmung im Rahmen der Verfahren und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln anwenden können, ohne die funktionellen Grenzen ihrer Kompetenz zu überschreiten» (BBl 2011 5977, 5989).
- 12 Vgl. Biaggini 2017: «Eine später erlassene, unmittelbar anwendbare Verfassungsnorm setzt sich, nach weitgehend ungeteilter Auffassung (vgl. z.B. Hangartner/Looser, SG-Komm., Art. 190, N 16), in der Rechtsanwendung gegenüber einem früher ergangenen Bundesgesetz grundsätzlich durch» (Art. 190 N 14).
- 13 85.051 Schutz der Moore. Volksinitiative und Natur- und Heimatschutzgesetz. Revision. Nachbesserung der Umsetzungsgesetzgebung nach Annahme der Volksinitiative durch 91.045 Natur- und Heimatschutz. Bundesgesetz. Revision.
- 14 98.038 StGB, MStGB und Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht. Änderung / 01.025 Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter. Volksinitiative. Nachbesserung der Umsetzungsgesetzgebung nach Annahme der Volksinitiative durch 05.081 StGB. Lebenslange Verwahrung extrem gefährlicher Straftäter.
- 15 Siehe die Seite «Sektion Bundesratsgeschäfte (SBRG)» auf der Website der Bundeskanzlei (BK): «Gemäss Art. 15 Abs. 2 RVOG regelt die Bundeskanzlei das Mitberichtsverfahren. Mit den Richtlinien für Bundesratsgeschäfte wird dieser Auftrag umgesetzt. Die Tätigkeiten der SBRG stützen sich auf diese als Roter Ordner bekannten Richtlinien. Sie regeln die Vorbereitung und Erledigung der Bundesratsgeschäfte und enthalten alle Verfahrensvorschriften sowie Vorlagen für die Gestaltung von Bundesratsanträgen. Der Rote Ordner ist ein Hilfsmittel für die Departemente und die Bundeskanzlei bei der Vorbereitung der Bundesratsgeschäfte». Der «Rote Ordner» ist nur im Intranet der BK und nicht im Internet einsehbar. Er wird hier zitiert mit Erlaubnis des Leiters des Rechtsdienstes der BK vom 11. Januar 2022.
- 16 Es kann konstatiert werden, dass die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates für ihre Beratung des Vorentwurfs des indirekten Gegenentwurfs zur Pflegeinitiative eine Notiz des Kommissionssekretariates mit Darstellung der möglichen Verknüpfungen zwischen Volksinitiative und indirektem Gegenentwurf erhalten hat (Protokoll der Sitzung vom 4. April 2019, siehe dazu oben Rz. 13).
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17
Siehe die Studie von Simon, Michael et al.: Pflegepersonal und unerwünschte Ereignisse in Schweizer Akutspitälern: Auswertung von Daten des Bundesamtes für Statistik, 17. Januar 2020. https://www.sbk.ch/files/sbk/politik/Volksinitiative/Factsheets/2020_01_13__V2__Pubvers_Daten
analyse_Pflegeinitiative_SBK_01.pdf