Jusletter IT

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens als Herausforderung für die Demokratie

Analyse zweier aktueller Problemfelder

  • Autor/Autorin: Reinhard Riedl
  • Beitragsart: Rechtsinformatik
  • Rechtsgebiete: Rechtsinformatik
  • DOI: 10.38023/83d74650-0bc3-438d-aeff-597949534efc
  • Zitiervorschlag: Reinhard Riedl, Die Digitalisierung des Gesundheitswesens als Herausforderung für die Demokratie, in: Jusletter IT 29. Juni 2023
Die demokratischen Institutionen müssen die digitale Transformation des öffentlichen Sektors adäquat steuern und dabei Gestaltungsmacht demonstrieren, um nicht ihre Legitimation einzubüssen. Gleichzeitig müssen sie damit fertig werden, dass in «Filter Bubbles» / Filterblasen Verschwörungstheorien und andere eigenwillige Welterklärungen verbreitet werden. In diesem Beitrag werden diese beiden Herausforderungen exemplarisch anhand zweier Problemfelder im Kontext des Gesundheitswesens untersucht.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Beispiel «ELGA»
  • 2.1. Auftretende Phänomene im ELGA-Kontext
  • 2.2. Potenziell anwendbare Good Practices
  • 2.3. Implikationen für die Demokratie
  • 3. Beispiel «COVID-19-Pandemie»
  • 3.1. Allgemeine Phänomene
  • 3.2. Spezifische Phänomene
  • 3.3. Historischer Vergleich
  • 3.4. Implikationen für die Demokratie
  • 4. Fazit

1.

Einleitung ^

[1]

Die fortschreitende Digitalisierung fordert unser politisches System und uns als Gesellschaft heraus. Einerseits scheitern viele staatlich gesteuerten Transformationsprojekte, was die Wirksamkeit demokratischer Institutionen in Frage stellt. Anderseits verändert sie unsere Kommunikations- und Interaktionskultur auf eine Weise, welche die demokratischen Entscheidungsfindungsprozesse in Frage stellt. Zwei Beispiele aus dem Gesundheitswesen illustrieren diese Herausforderungen. Beispiel 1: Das elektronische Patientendossier ELGA wurde in Österreich zwar früh realisiert, konnte sich aber bislang kaum durchsetzen. Beispiel 2: In der Pandemie zerbrach der Gemeinwille zum solidarischen Handeln im österreichischen Gesundheitswesen unter anderem daran, dass in Filterblasen Überzeugungen popularisiert wurden, welche im klaren Gegensatz zum Stand der Wissenschaft standen.

2.

Beispiel «ELGA» ^

[2]

ELGA ist eine ausgezeichnete Infrastruktur für Digital Health, die obendrein schon vor zehn Jahren realisiert wurde. Leider konnte sie sich nie durchsetzen. Die über ELGA verfügbaren Daten einer Patientin / eines Patienten sind in der Regel höchst unvollständig, und die Werkzeuge für einen situativen Zugriff fehlen.

[3]

Es gelang nie – nicht einmal unter den direkt Involvierten –, eine gemeinsame, einfach verständliche Darstellung von ELGA zu etablieren. Das Folge ist, dass die wenigsten wissen, was ELGA genau ist. Noch weniger gelang es, eine Auslegeordnung für die Ursachen der Widerstände gegen ELGA zu entwickeln. Wenig verwunderlich gab es auch keine Bereitschaft auf Seiten der politischen Entscheider*innen, Geld in den Abbau der Hindernisse für die ELGA-Nutzung zu investieren.

[4]

Das Ergebnis ist unklar. Durch die Nichtnutzung von ELGA wurde teils Zeit eingespart, teils wurden unnötige Zeitaufwände und Kosten verursacht. In Summe ergeben sich vermutlich Zusatzkosten, die allerdings nicht sehr hoch sind. Bedenklicher ist, dass vermutlich viele Patient*innen indirekt negativ betroffen waren, weil verfügbare Informationen über sie von den behandelnden Ärzt*innen und Gesundheitsfachpersonen nicht genutzt wurden und deshalb Interventionen nicht oder nicht rechtzeitigt durchgeführt wurden, respektive die falschen Interventionen durchgeführt wurden. Das Ausmaß dieser Patient*innenschädigung wird sich jedoch kaum je schätzen lassen – zumindest nicht so lange, bis die Nutzung von ELGA sich breiter etabliert und allenfalls als Vergleichsmaßstab genutzt werden kann.

2.1.

Auftretende Phänomene im ELGA-Kontext ^

[5]

Beobachtbar und daraus ableitbar ist:

  • Es gibt unterschiedliche Interpretationen des eigentlichen Zwecks von ELGA: von der informationsorientierten Vorsorge, Diagnose, Therapie und Nachsorge über die Schaffung von Public-Health-Datengrundlagen oder eine grundsätzlich angestrebte Bürokratisierung des Gesundheitswesens bis zur kritischen/feindseligen Kontrolle der Ärzt*innen – der potenzielle Nutzen für Patient*innen wird selten thematisiert und ist deshalb nicht im Bewusstsein der Stakeholder verankert.
  • Die tatsächliche Nutzung trifft auf grosse Hindernisse in Form von Mehraufwand und schlechter User Experience und ist derzeit stark eingeschränkt, weil viele Daten und Dokumente, die eingespeist werden müssten, nicht eingespeist werden und weil andere Daten und Dokumente, die für die Nutzung relevant sind, gar nicht eingespeist werden können.
  • ELGA ist als Konzept trotz seiner einfachen Architektur nicht einfach zu verstehen, weil die Crux in der Einbettung der Architektur in die medizinische Praxis und deren technischen Kontext liegt. Die in der Sache nützliche Weiterentwicklung (Einführung einer dualen Architektur mit zwei unterschiedlichen Protokollen, Implementierung der Patient Summaries) wird in Zukunft das Verstehen der Situation noch anspruchsvoller machen. Für Laien ist allein schon das Auseinanderhalten von IST-Zustand und Plänen schwierig.
  • Der Tonfall ist in der Auseinandersetzung rund um ELGA bisweilen ungewöhnlich aggressiv, und die Faktenlage bezüglich der in unterschiedliche Richtungen geäußerten Vorwürfe ist unklar.
  • Es wurde lange Zeit wenig in die Verbesserung der Voraussetzungen für einen Erfolg von ELGA investiert, wobei unklar ist, warum dies unterblieb, beziehungsweise ob die politischen Entscheider*innen der Meinung waren, dass sich die Akzeptanz von selbst verbessern wird.
  • In Summe ist die Informationsbeschaffung zu ELGA und zu empirischen Fakten über die tatsächliche ELGA-Nutzung schwierig, weil es eine grosse Differenz gibt zwischen Potenzial und Nutzen und weil die Gemengelage aus unterschiedlichen anekdotischen Behauptungen, Einschätzungen und grundsätzlichen, interessenbasierten Meinungen schwer zu durchschauen ist.
[6]

Dies wirft die Frage auf, ob durch Machtpolitik, vermehrte Partizipation, besseres bürokratisches Vorgehen oder die Veränderung der Institutionen die Nutzung und der Nutzen von ELGA gesteigert werden könnten. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die staatliche Steuerung erhalten bleibt und nicht durch eine Marktsteuerung, beispielsweise nach dem Vorbild der USA, ersetzt wird.

2.2.

Potenziell anwendbare Good Practices ^

[7]

Die Erfahrung aus anderen Bereichen staatlichen Handelns zeigt, dass präzise Unschärfe und Sozialaltruismus den Erfolg von digitalen Transformationsprojekten fördern können1. Präzise Unschärfe meint dabei, dass auf exakte Definitionen verzichtet wird, die Ausrichtung aber klar ist, Argumente mit großer Genauigkeit gewählt werden und das Tun beobachtet, analysiert und reflektiert wird. Für die Wahrnehmung des Sozialaltruismus, ohne die er nicht wirkt, ist es wiederum notwendig, dass Lösungen in erster Linie von den Patient*innen aus gedacht werden und in zweiter Linie von den Gesundheitsfachpersonen – kurz: die Menschen müssen im Zentrum stehen, idealerweise unter Einbezug des privaten Umfelds der direkt Betroffenen.2 Damit steht im Einklang, was seit langem in der Informatik bekannt ist, dass nämlich situatives Design unter Einbezug der Nutzer*innen fast eine conditio sine qua non ist3 – visionäres Design in einem vielfältig etablierten Diskurskontext ausgenommen: siehe die «Erfindung» des Smartphones.

[8]

Es ist weiters Folklore, dass bei Interessenkonflikten Pappkameraden4 – oder neuerdings alternative Fakten – vorgeschoben werden, und diese Interessenkonflikte sind häufig. Die Erfahrung in über hundert österreichischen «Gipfelgesprächen» zu Gesundheitsthemen, das heißt moderierten runden Tischen zur Konsens- oder Konsentbildung im Gesundheitswesen5 zeigen zudem, dass die operative Nutzungsperspektive frühzeitig erarbeitet werden muss, wenn man nicht Ablehnung einprogrammieren will. Die Erfahrung im Schweizer eID-Diskurs zeigt weiters, dass ein Ökosystemmodell hilfreich ist, um sinnlose Diskussionen zu vermeiden, welche entweder die Illusion von Konflikten durch gleiche oder ähnliche Begriffe für unterschiedliche Dinge (Instrumente, Funktionen, Regeln, Aspekte) erzeugen oder die Illusion von Konsens durch diffuse, unpräzise bis fachlich falsche oder auch nur kontextfreie Darstellungen.6 Der aktuelle, länderübergreifende politische Diskurs legt zudem nahe, Diversität einzubeziehen. Dies bezieht sich auf verschiedenste Aspekte – Alter, Geschlecht, Milieu, Herkunft, Bildung etc. – und stellt eine große Herausforderung für das Gesundheitswesen dar, sollte aber auch als Chance begriffen werden, um die Wahrscheinlichkeit kreativer und praktisch funktionierender Problemlösungen zu erhöhen.

[9]

Zusammenfassend sind also folgende Aspekte relevant für den Erfolg (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Präzise Unschärfe
  • Sozialaltruismus
  • Modellierung des soziotechnischen Ökosystems
  • Systemisches Lösungsdesign mit Fokus auf den Menschen
  • Konzept von Anfang an bis zur operativen Nutzung durchdenken
  • Diversität als Herausforderung und Chance
  • Situatives technisches Lösungsdesign
[10]

In der Praxis der ELGA-Umsetzung war die Gemengelage von Anfang an ungünstig – konkret für die Umsetzung der skizzierten sieben Prinzipien. Es gab und gibt nur beschränkte Ressourcen. Der Diskurs wurde und wird durch unpräzise Bestimmtheit in unproduktive Bahnen gelenkt. Ein Beispiel für die mangelnde Präzision ist die – auch in anderen Themen beobachtbare – Vertrauensdebatte, welche den zeitlichen Aspekt ignoriert.7 Dem Sozialaltruismus wurde und wird angesichts von Stakeholderkonflikten keine Chance gegeben. Ein Ökosystemmodell gibt es bestenfalls in minimalistischen Ansätzen. In fast allen Diskussionen werden die Menschen erst spät thematisiert, beispielsweise erst, wenn es ums Geld geht. Statt Konzepte bis zum operativen Einsatz durchzudenken, wird primär über Pappkameraden diskutiert: im konkreten Fall waren dies Cybersecurity und Schutz der Patient*innendaten – zwei wichtige Themen, die aber in anderen Kontexten, in denen sie mindestens genau so hohe Relevanz haben, kaum je ein Thema sind. Diversität ist zwar – endlich – als Thema im Gesundheitswesen angekommen, aber noch praktisch gar nicht im Kontext von dessen Digitalisierung thematisiert worden.8 Das situative Lösungsdesign ist zwar bekannt, wird aber oft erstens auf den Einbezug der Patient*innen reduziert, welcher abstrakt gefordert wird, ohne die unterschiedlichen Methoden dafür zu diskutieren, und zweitens dann irgendwie und sowieso realisiert. Wo keine Weiterentwicklung stattfindet, kann es naturgemäß auch keinen Einbezug der Nutzer*innen geben, womit wir wieder beim Anfang sind: den ungenügenden Ressourcen. Deren Einsparung hat die österreichische Volkswirtschaft viel gekostet. Mehr Investitionen allein würden aber die Probleme nicht lösen, da die Situation mittlerweile festgefahren ist und eine Gewöhnung an den Status quo stattgefunden hat und weiteren Fortschritt zusätzlich erschwert.

2.3.

Implikationen für die Demokratie ^

[11]

Die Herausforderung für die Demokratie besteht darin, dass es keine staatlichen institutionellen Lösungen gibt, um den Fortschritt von digitaler Transformation im Gesundheitswesen sicherzustellen. In der aktuellen Gemengelage hoher Komplexität – wofür die Digitalisierung nicht nur der Auslöser ist, sondern woran auch die komplexe, abstrakte Natur digitaler Lösungen einen prägenden Anteil hat – sind Lösungen überhaupt schwer vorstellbar. Es gibt weder machtpolitische Lösungen (sic!) noch partizipative Lösungen noch bürokratische Lösungen, die alle sieben skizzierten Prinzipien umsetzen. Besonders chancenlos sind einfache Lösungen, welche die Komplexität der Gemengelage leugnen.

[12]

Nach dem aktuellen Wissens- und Erfahrungsstand kann der Staat seine Handlungsmacht nur zurückgewinnen, wenn es gelingt, die skizzierten Grundprinzipien kulturell zu verankern. Das bedeutet: Die Überzeugungen was ein zielführenden Verhalten ist, müssen sich im Stakeholder-Ökosystem ändern. Dies kann aber nicht per Vorgabe bestimmt werden.

3.

Beispiel «COVID-19-Pandemie» ^

[13]

Die Digitalisierung verändert unsere Kommunikations- und Interaktionskultur. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die wesentlich verbesserten Informationszugriffs- und Informationsverteilungsmöglichkeiten. Phänomenologisch betrachtet sind zahlreiche sogenannte «Filter Bubbles» online zu beobachten, und es scheint die gemeinsame Wertebasis zu erodieren.9 Beträchtliche Teile der Bevölkerung äußern sich beispielsweise politisch in einer Art und Weise, die nahelegt, dass sie von der Korruption der demokratisch gewählten politischen Entscheidungsträger*innen und des Großteils der Journalist*innen überzeugt sind. Ob das jeweils so ist und inwieweit diese Phänomene neu sind, ist schwer zu beurteilen, weil die Aussagen einerseits in sich häufig widersprüchlich sind (Beispiel: Personen, welche die sexuellen Gebote des Christentums demonstrativ ablehnen, werden als Verteidiger strenger christlicher Werte gefeiert) und anderseits offensichtlich Fakten und Interessen in einer Form vermischt werden, welche sich traditioneller (westlicher) rationaler Analyse verweigert (Beispiel: das Konzept der alternativen Fakten bezeichnet Interpretationen10). Klar ist allerdings, dass damit die Fundamente der modernen westliche Demokratien in Frage gestellt werden und dass einige politische Akteure damit das Ziel verfolgen, die lokal aktuelle demokratische Ordnung durch die eine oder andere Form von Diktatur abzulösen, auch wenn dies in einigen Fällen als eine bessere Form von Demokratie dargestellt wird.11

3.1.

Allgemeine Phänomene ^

[14]

Beobachtbar und daraus ableitbar ist ganz allgemein:

  • Digitale soziale Medien fördern eine irrationale Emotionalisierung12, welche das Finden und die Akzeptanz politischer Kompromisse erschwert.
  • Der Zugang zur Wissenschaft ist dank der Digitalisierung viel einfacher als früher, doch das Wesen der Wissenschaften ist vielen Menschen fremd, die Wahrnehmung von Wissenschaft und ihrer Wirkung ist sehr heterogen und häufig naiv, vermeintliche Transparenz wird auch in der Wissenschaft oder der Zusammenarbeit politischer Entscheidungsträger*innen mit der Wissenschaft stets selektiv eingesetzt, und die Rolle von Transparenz innerhalb der Wissenschaft wird kaum reflektiert.
  • Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten über die Rolle von Expert*innen bei der Lösung politischer Probleme und wenig fundierte Reflexion der aktuellen Praxis.
  • Partizipation und Deliberation sind populär in der Forschung, der Forschungsfinanzierung und der politischen PR, aber in der politischen Realität nicht mehr als sporadische Inszenierungen, denen großteils keine ernsthaften Absichten der politischen Entscheidungsträger*innen zugrunde liegen und welche in Krisen gänzlich eingestellt werden.
  • Das Schaffen von Blasen, in denen man Deutungshoheit besitzt, ist neu global möglich und unterliegt viel weniger Einschränkungen als bisher – wichtigste Ressource ist der persönliche unermüdliche Einsatz auf Online-Kanälen.
  • Das Produzieren von authentisch wirkenden synthetischen multimedialen Beiträgen ist mittlerweile ohne besondere Vorkenntnisse und Kosten (außer Zeiteinsatz) möglich, und – sofern Beiträge nicht digital signiert werden und deshalb zumindest ihre Herkunft klar ist – es gibt in der Praxis keine Möglichkeiten, diese Beiträge als solche zu identifizieren.13
  • Zusammenfassend ist die Welt viel gläserner als früher, doch die Beurteilung der Echtheit dessen, was man sieht, ist nur über den Kontext und wahrscheinlichkeitsbasierte Einschätzungen möglich.
[15]

Der bessere Informationszugang wirkt mehrfach: Wissenschaft wird zugänglicher, Expert*innenmeinungen, auch über das Wissenschaftliche hinaus, werden einfacher zugänglich, scheinbare Tatsachenbeweise können leichter künstlich kreiert werden, und wissenschaftliche Resultate können schneller erzielt werden. Aber es bleiben grundsätzliche Restriktionen: nicht jedes wissenschaftliche Resultat ist beispielsweise durch Wiederholung der Forschung überprüfbar, ohne guten Glauben ist fast nichts auf verlässliche Weise gewiss. Vor allem steigen die kognitiven Herausforderungen, sich in der Welt zurechtzufinden, stark an.

3.2.

Spezifische Phänomene ^

[16]

In der COVID-19-Pandemie war konkret beobachtbar und daraus ableitbar:

  • Die heftigsten Kritiker*innen der politischen Praxis in der Pandemie zeichneten sich fast alle durch Partialwissen und rationales Argumentieren mit diesem Partialwissen aus – ausgenommen jene Politiker*innen, welche gut informiert das Unwissen der Bevölkerung zum Schaffen von Widerstand gegen die Pandemiepolitik nutzten – und offenbarten damit fundamentale Widersprüche in ihrem Weltbild: das machte die Pandemie zu einem Reallabor von Irrtümern und institutionellen Auflösungserscheinungen.
  • Die einzelnen Blasen, respektive digitale Netzwerke, gegen eine Gesundheitspolitik mit Maskenschutz und Impfungen kooperierten mit anderen Blasen, respektive Netzwerken, welche gegen das Establishment agierten, beispielsweise mit solchen, denen die digitale Infrastrukturpolitik zu liberal war/ist – dabei ist schwer irgendwelche inhaltlich politische Gemeinsamkeit zu erkennen außer dem Prinzip der Maximierung individueller Interessen auf Kosten gemeinschaftlichen Nutzens, ohne dass eine Bereitschaft erkennbare wäre, die Konsequenzen zu akzeptieren.
  • Es gab eine breite Akzeptanz dafür, nicht über die Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfung zu reden – diese einte beispielsweise in Österreich Befürworter*innen und Gegner*innen der Pandemiemaßnahmen.
  • Die Kriterien für die Glaubwürdigkeit von Informationen zu COVID-19 waren sehr unterschiedlich, beispielsweise wurde eine unprofessionelle Gestaltung einer Website als Ausdruck von Authentizität und Glaubwürdigkeit von Teilen der Bevölkerung gewertet.
  • Zusammenfassend gab es viel Irrationalität im rationalen Gewand, wenig Interesse an einer Annäherung an die Wahrheit und bei beträchtlichen Teilen der Bevölkerung keine Bereitschaft zur Akzeptanz irgendwelcher systemisch-konsistenter Problemlösungen.
[17]

Die Schwierigkeiten, welche sich daraus für die politische Steuerung eines Landes ergeben, sind offensichtlich. Doch es ist weniger klar, was eigentlich das Problem ist, weshalb auch unklar ist, wie die Schwierigkeiten überwunden werden können. Ein Blick in die Geschichte hilft hier.

3.3.

Historischer Vergleich ^

[18]

Große gesellschaftliche und politische Herausforderungen durch eine neue generische Technologie gab es schon früher. Vieles ist nicht vergleichbar mit früheren technologisch induzierten Umbrüchen, vieles weist aber auch eine sehr große Ähnlichkeit auf. Die Interpretation der Situation allein aus dem Hier und Jetzt heraus14, respektive lineare Prognose aufgrund der Entwicklungen im Hier und Jetzt, haben in Transformationsphasen zu inhumanen Verirrungen schweren Ausmaßes geführt und sind leider auch heute zu beobachten. Das Gleiche gilt für die Ableitung eines normativen Weltmodells aus einem einzeldisziplinären Stand der Wissenschaft. Kritisch ist aber vor allem die ungleiche Befähigungswirkung neuer Technologien, welche in einer ersten Phase meist selektiv einigen wenigen zugutekommt.

[19]

Im 19. Jahrhundert ließ beispielsweise die Industrialisierung in England Tausende Menschen verhungern, weil die Industriebesitzer dadurch befähigt wurden, mit viel weniger Menschen zu produzieren und inspiriert durch die dazugewonnen Handlungsmacht ihrer Menschenverachtung für Arbeitslose freien Lauf ließen. Im 21. Jahrhundert werden analog Individuen ohne großes finanzielles oder soziales Kapital durch die Digitalisierung befähigt, sich eine ökologische Deutungshoheitsnische über Welt und Wissenschaft zu schaffen, welche zwar quantitativ klein, aber oft weltumspannend ist. Beziehungsweise werden sie dazu befähigt, sich einer von ihnen präferierten Deutungsnische anzuschliessen, auch wenn in ihrem analogen sozialen Umfeld niemand die entsprechende Sicht der Welt teilt. Ein digitales Netzwerk aufzubauen zwecks Etablierung einer Deutungshoheit braucht zwar viel Engagement, verschafft aber auch soziales Kapital. Die Partizipation an solch einem Netzwerk verlangt nicht einmal viel Engagement, sichert aber gleichfalls soziales Kapital. Durch Vernetzung mit anderen Deutungshoheits-Netzwerken können Nischennetzwerke sogar Einfluss auf die nationale Politik ausüben, wie oben skizziert.

[20]

Wesentlich an den emergenten Deutungshoheitsnischen ist, dass sie eine Wirklichkeit erfinden, welche, faktisch betrachtet, offensichtlicher Unfug sein kann, aber den Interessen ihrer «Designer» entspricht. Politische und gesellschaftliche Interessen können durch kreierte alternative Wirklichkeit gestützt werden. Beispielsweise wurden die Gefährlichkeit von COVID-19 oder die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen, gestützt auf anekdotische Evidenz, marginalisiert, um nicht solidarisch handeln zu müssen. Das heisst, der tatsächliche Interessenkonflikt wurde transferiert in einen behaupteten und geglaubten Faktenkonflikt – und zwar dadurch, dass Fakten unterschiedlich interpretiert werden. Dies ähnelt mutatis mutandis der Wahrnehmungsinterpretation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf das Verhungern der Bevölkerung: Indem dieses als gerechte göttliche Strafe für menschliche Minderwertigkeit interpretiert wurde, ersparten sich die Unternehmer die Verpflichtung, höhere Steuern zahlen zu müssen, und konnten so vermeintlich ihren Reichtum mehren. Die sehr eigenwillige Interpretation des Christentums legitimierte also die Verweigerung von Solidarität.

[21]

Es mag verführerisch sein, die moralische Analogie in beiden Situationen zu sehen. Doch aus Distanz betrachtet handelt es sich jeweils «nur» um einen Interessenkonflikt, der durch die Befähigungswirkung von Technologie wesentlich verschärft wurde. Wer im Recht ist, hängt von den Werten ab, die man vertritt. Auch die Interpretation der Fakten ist eine Frage der Perspektive. Sehe ich Verhungernde, die Opfer von Kaltherzigkeit der Wohlhabenden sind, oder sehe ich moralisch Verdorbene, die verhungern? Sehe ich überzeugende Belege für die Gefährlichkeit einer Seuche und die Wirksamkeit von Impfungen oder sehe ich überzeugende Belege für die Harmlosigkeit der Seuche und die Gemeingefährlichkeit der Impfungen? Es ist jeweils die Betrachterin oder der Betrachter, die oder der das entscheidet.

3.4.

Implikationen für die Demokratie ^

[22]

Wenn wir die ursächliche Wirkung der Interessenskonflikte als empirisches Faktum akzeptieren, verliert die Welt der «Filter Bubbles» ihren Schrecken für die Demokratie: Das Lösen von Interessenkonflikten ist Aufgabe des politischen Geschäfts in der Demokratie – und keine Krise. Notwendig ist lediglich die Trennung von Politik und Wissenschaft. Der historische Vergleich weist aber auch auf mögliche Zukunftsentwicklungen hin: Die Befähigungswirkung wird sich voraussichtlich wesentlich umfassender entfalten, als heute absehbar ist. Zum einen können die Netzwerke der Filterblasen für gegenseitige Hilfe in nichtpolitischen Angelegenheiten genutzt werden oder zum Ausgangspunkt innovativer Geschäftstätigkeit werden, zum anderen können sie von allen genutzt werden, das heißt auch jenen, welche den wissenschaftlichen Mainstream für grundsätzlich glaubwürdig halten.

[23]

Notwendig ist allerdings eine Stärkung der demokratischen Institutionen. Machtpolitik, inszenierte Partizipation und bürokratische Lösungen bringen wie im Fall von ELGA keine ausreichenden Fortschritte. Aber anders als im Fall von ELGA sind es demokratische Institutionen, welche besser funktionieren müssen bei der Integration der Netzwerke der Filterblasen und der Lösung der Interessenkonflikte. Kompetente Führung kann weder auf politischer noch auf administrativer Ebene die Integration der Filterblasen erreichen.

4.

Fazit ^

[24]

Die Herausforderungen der Digitalisierung für die Demokratie sind real, wie konkret im Gesundheitswesen beobachtbar ist. Die untersuchten zwei Fallbeispiele legen nahe, dass auf politischer Ebene die demokratischen Institutionen gestärkt werden müssen in Bezug auf ihre Aufgaben im Interessenausgleich, während dort, wo operative Transformationen gestaltet und geführt werden, es darum geht, einen kulturellen Wandel zu realisieren, der das Gemeinwohl und das Miteinander zur handlungsleitenden ethischen Maxime macht. Dieser Wandel lässt sich nicht durch Gesetzgebung oder staatliche Finanzierung herbeiführen.

  1. 1 Persönliche Aussagen von Friedrich Lachmayer am Kolloquium zu seinen Ehren am Rechtsinformatiksymposium IRIS, Salzburg 2023: die Aussagen bezogen sich auf den frühen umfassenden Erfolg der Digitalisierung der Rechtsetzung in Österreich, waren aber allgemein formuliert und sind für alle Arten von Transformationsprojekten anwendbar, siehe u.a. Reinhard Riedl, Digital Transformation (1): Getting Participation Right, SI Digital Magazine 2023.
  2. 2 Peter Drucker hat analog schon früh die Perspektive formuliert: Für ein Unternehmen sind die Kund*innen am wichtigsten und die Mitarbeiter*innen am zweitwichtigsten – ausgenommen in der Krise, wo sich die Verhältnis umkehrt: wenn dies schon für Unternehmen gilt, umso mehr sollten wir es im Gesundheitswesen beherzigen.
  3. 3 Folklore in der Informatik, ein Konzept, das vermutlich Anfang der 70er Jahre entwickelt und danach mehrmals neu erfunden wurde: Wesentlich ist dabei, dass der Nutzungskontext einbezogen und idealerweise simuliert wird – ursprünglich materiell mit Pappe und Spiel, seit langem aber insbesondere durch visuelle Prototypen ohne implementierte Funktionen hinter der Benutzerschnittstelle.
  4. 4 Eine besonders pointierte Form von Pappkameraden sind in letzter Zeit die sogenannten «alternativen Fakten»: siehe dazu Nils C. Kumar, Alternative Fakten – zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung, Suhrkamp: Berlin 2022.
  5. 5 Diese Gipfelgespräche sind ein wesentliches Interventionsinstrument des Vereins praevenire.at, um durch Konsensfindung, respektive mindestens durch Konsentfindung, die Grundlage für politische Veränderungen der Steuerung des Gesundheitswesens zu schaffen.
  6. 6 Dies war der Grund für die Modellierung des eID-Ökosystems in der Schweiz: SECO – Staatsekretariat für Wirtschaft, eID-Ökosystem-Modell, 2015.
  7. 7 Vertrauen äußert sich im Abwägen von Chancen und Risiken, wobei es einen klaren Diskontierungsfaktor gibt: Das Kurzfristige zählt mehr als das Langfristige. Langfristige Risiken bei kurzfristigem Nutzen erscheinen akzeptabel, langfristiger Nutzen bei kurzfristigen (oder andauernden) Risiken genügt für die Akzeptanz nicht.
  8. 8 Ansätze wie jener am 5. Praevenire Digital Health Symposium gibt es, siehe https://digitalhealth.co.at/.
  9. 9 Eine soziologische Beschreibung der Entwicklungen, welcher über digitale Phänomene hinausgeht findet sich in Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Suhrkamp: Berlin 2019, Kapitel «Kulturkonflikte als Kampf um die Kultur: Hyperkultur und Kulturessenzialismus».
  10. 10 Siehe das zuvor referenzierte Buch «Alternative Fakten» von Nils C. Kumar.
  11. 11 Die Interpretation und Neuinterpretation von Demokratie nach exkludierenden Prinzipien haben eine lange Tradition. Die diskutierten und die praktizierten Demokratiekonzepte sind ein weites Feld, wobei fast alle zum Diskurs Beitragenden normativ argumentieren. Empirische Argumente gibt es nur sporadisch, beispielsweise in den Wirtschaftswissenschaften, konkret in der politischen Ökonomie.
  12. 12 Siehe Hans-Jürgen Bucher, Zwischen Deliberation und Emotionalisierung: Interaktionsstrukturen in Sozialen Medien, veröffentlicht in: Konstanze Marx, Henning Lobin, Henning, Axel Schmidt (Hrsg.), Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv – multimodal – vielfältig, De Gruyter: Berlin 2020.
  13. 13 Es gibt Werkzeuge zum automatisierten Erkennen, und es werden neue gebaut, doch diese verlieren mit dem Fortschritt der sogenannten Deepfakes-Technologie jeweils schnell ihre Wirksamkeit.
  14. 14 Siehe dazu Guillaume Paoli, Die lange Nacht der Metamorphose – Über die Gentrifizierung der Kultur, Matthes & Seitz: Berlin 2017.