Bereits der erste Text ist einer schweizerischen Besonderheit gewidmet, nämlich der Instabilität unseres Verfassungsrechts. Während etwa die US-Verfassung seit 1747 praktisch unverändert ist, wurde die Schweizerische Bundesverfassung seit ihrem Bestehen unzähligen Teilrevisionen unterzogen. Diese brachten jedoch keine politische Instabilität mit sich. Im Gegenteil ist der Verknüpfung von Verfassungspolitik und direkter Demokratie ein struktureller Konservatismus inhärent. Mit Volksinitiativen fanden zahlreiche Detailbestimmungen Eingang in die Bundesverfassung, während grundlegende Reformen etwa zur Einführung des Frauenstimmrechts oder zur Entwicklung des Sozialstaates durch die direktdemokratischen Mitwirkungsrechte eher gebremst wurden.
Mehrere Beiträge sind dem Föderalismus gewidmet: Ein Beitrag bringt einen informativen Vergleich zwischen der deutschen und der schweizerischen Ausgestaltung des Föderalismus. In Deutschland geht es um die Mitwirkung der Gliedstaaten an einem zentralistisch konzipierten Gesamtstaat. In der Schweiz dagegen steht die Garantie der Autonomie von Kantonen und Gemeinden im Vordergrund. Dieses Konzept, so wird in einem weiteren Beitrag aufgezeigt, ist nur schwer vereinbar mit der Globalisierung und Europäisierung. Im Gegensatz zur Schweiz kennt etwa die EU keine Kompetenzvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten, sondern sie hat eine einseitige Definitionsmacht ihrer Aufgaben.
In einem weiteren Beitrag stellt Linder die These in Frage, wonach ein Zusammenhang zwischen Föderalismus und Konservatismus besteht, indem er die Möglichkeit der dezentralen Innovation in den Vordergrund rückt. Allerdings betont er auch, dass mit solchen «bottom up»-Prozessen keine grossen Gesellschaftsinnovationen zu erwarten sind.
Obwohl auch andere Staaten einen föderalistischen Aufbau kennen, zeigen Linders Beiträge auf, wie prägend der Föderalismus in der Schweiz nicht nur für das politische System, sondern auch für die politische Kultur ist.
Für mit der Schweiz nicht vertraute Leserinnen und Leser besonders interessant sind die Beiträge zur direkten Demokratie. Linder zeigt die Bedeutung der Volksrechte für die Entwicklung der Konkordanzdemokratie auf. Die Volksrechte brachten keine Ausschaltung des parlamentarischen Prozesses, sondern begünstigen vielmehr ein System mit wechselnden Allianzen und Mehrheiten im Parlament. Gerade für ein nicht schweizerisches Publikum scheint mir wichtig, dass die Vorstellung relativiert wird, wonach in der Schweiz immer alle in einer im Konsens gefundenen Lösung integriert werden können. Volksabstimmungen kommt zwar durch ihre Glaubwürdigkeit eine hohe legitimierende Wirkung zu, durch Volksabstimmungen werden aber auch gesellschaftliche Grundkonflikte immer wieder neu thematisiert, wodurch sie auch polarisierend wirken können, wie Linder richtig festhält.
In diesem Zusammenhang werden sich mit der Schweiz weniger vertrauten Leserinnen und Leser vielleicht die Frage stellen, wieso die Schweizerinnen und Schweizer mit den Instrumenten der direkten Demokratie nicht den Kapitalismus überwunden, oder doch wenigstens einen ausgebauten Sozialstaat errichtet haben. Dazu hält Linder im sehr interessanten Beitrag «Demokratie und Kapitalismus in der Schweiz» fest, dass es in der Schweiz nie eine linke Regierungsmehrheit gegeben hat. Die Demokratie beschränkte sich immer auf die politische Ebene und es fanden keine Ausweitungen auf den Bereich der Wirtschaft statt. Der liberale Kapitalismus bescherte der Schweiz viel Wohlstand, wodurch es Anliegen der Linken schwer hatten.
Im Weiteren setzt sich Linder wohltuend kritisch mit den Möglichkeiten der Digitalisierung der Demokratie auseinander. Einmal mehr geht es darum, dass nicht das getan werden sollte, was technisch möglich ist, sondern das, was sinnvoll ist. Als passionierte Urnengängerin, die den Abstimmungszettel selber in die Urne legen will, habe ich diesen Text, der nicht technische Aspekte in den Vordergrund stellt, sondern sich mit der Informations- und Kommunikationsqualität partizipativer Demokratie auseinandersetzt, sehr gerne gelesen.
Ein zentrales Anliegen Linders ist die Problematik der sozialen Selektivität der Bildung, welcher ebenfalls ein Beitrag gewidmet ist. Wenn politische Partizipation eng mit politischer Bildung verbunden ist, dann ist es höchst problematisch, wenn Kinder von akademisch gebildeten Eltern eine mehrfach grössere Chance auf eine Matura haben.
In einem umfangreichen Beitrag setzt sich Linder mit der Frage auseinander, wieweit die schweizerischen Institutionen vor dem Hintergrund der Europäisierung zukunftstauglich sind. Der bilaterale Weg hat sich im ungeklärten Verhältnis mit der EU nur als vermeintlicher Ausweg entpuppt, wurde doch «autonom» eine Vielzahl europäischer Regelungen übernommen. Insgesamt ist Linder doch optimistisch, dass die Verbindung von Föderalismus, direkter Demokratie und Konkordanz eine zukunftsfähige Grundstruktur darstellt, die auch einer vermehrten Integration in die europäischen Entscheidungsprozesse nicht entgegensteht. Zum einen ist zu hoffen, dass die EU von ihrer Tendenz zur «Gleichschaltung» wegkommt. Zum anderen wird auch in anderen Staaten EU-Recht nicht einfach von den Regierungen übernommen, sondern es finden parlamentarische Prozesse statt, so dass auch direkt-demokratische Prozesse möglich sein sollten. Hier muss Linder allerdings entgegengehalten werden, dass in vielen europäischen Staaten Regierung und Parlamentsmehrheit politisch identisch sind, was die Übernahme von EU-Recht erleichtert.
In seinen Beiträgen betreffend die politischen Institutionen der Schweiz gelingt es Linder sehr gut, deren Eigenheiten aufzuzeigen und er zeigt sich insgesamt optimistisch bezüglich der Zukunftstauglichkeit dieser Institutionen. Damit Demokratie funktioniert, so Linder zu Recht, reichen allerdings formale Strukturen nicht aus. Gefordert ist «politische Kultur», d.h. Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, diese Strukturen zu nutzen, um sich in der «res publica» einzubringen.
Auch kürzere für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften verfasste Artikel finden im Buch Platz. Es werden ganz unterschiedliche Themen behandelt, wobei in verschiedenen Texten die problematischen Auswirkungen der Globalisierung auf die Demokratie thematisiert werden. So wird z.B im Text «Kein soziales Europa» die These von Fritz Scharpf erläutert, wonach demokratisch legitimierte einzelstaatliche Sozialpolitik durch weniger demokratisch legitimierte EU-Marktliberalisierung wieder aufgehoben wird. Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu stellen, wie sich die schweizerische Sozialdemokratie gegenüber der EU positionieren soll. In der europäischen Sozialdemokratie verdrängt die neoliberale Doktrin bisweilen den Sinn für Solidarität und kollektive Güter, wie Linder in einem weiteren Beitrag festhält. Generell hadert Linder mit der europäischen Sozialdemokratie, welche z.T. naiv auf den rasenden Globalisierungszug aufgesprungen ist und die Verliererinnen und Verlierer nicht mitgenommen hat.
In den letzten drei Beiträgen äussert sich Linder kritisch zum Export des westlichen Verständnisses von Demokratie und Menschenrechten. Er fordert zurecht einen Dialog, statt einen Export. Theoretisch ist dem sicher zuzustimmen. Allerdings ist die Relativierung von individuellen Menschenrechten aufgrund von kulturellen und religiösen Gegebenheiten in der Praxis nicht ganz unproblematisch, finden sich doch z.T. innerhalb desselben Staates Menschen in ganz verschiedenen Situationen wieder, wie Linder am Beispiel Afghanistans selbst aufzeigt. Es ist zudem noch nicht lange her, da wurden auch hierzulande mit Verweis auf (religiöse) Traditionen gerade auch Frauen Menschenrechte vorenthalten.
Ruth Lüthi, Stv. Sekretärin der Staatspolitischen Kommissionen der Bundesversammlung, ruth.luethi@parl.admin.ch.