1.1.
Ausgangspunkt ^
Seit dem Jahre 2003 werden anlässlich des Internationalen Rechtsinformatik-Symposions an der Universität Salzburg (IRIS) auch Sessionen zur Rechtsvisualisierung durchgeführt.1 Von 2003 bis 2004 liefen sie unter dem Titel «Visualisierung», ab 2005 unter der Bezeichnung «Rechtsvisualisierung».2 Dadurch erhielten die Sessionen ein deutlicheres Profil, zumal sie sich ab diesem Zeitpunkt noch stärker auf Themen der Visualisierung rechtlicher und rechtlich bedeutsamer Inhalte (im Folgenden rechtliche Inhalte) konzentrierten. Das Jahr 2010 bringt abermals eine terminologische Modifikation mit sich: Neben der bisherigen Bezeichnung «Rechtsvisualisierung» steht der Fachbegriff «Multisensorisches Recht» in Klammer.3 Es ist hier nicht der Ort, eingehend zu begründen, warum sich eine solche Ergänzung oder Änderung aufdrängt. Es muss der Hinweis darauf genügen, dass die Entwicklungen insbesondere im Bereich der inzwischen nicht mehr gänzlich neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die Audiovisualisierung rechtlicher Inhalte stetig vorantreibt. Diese rechtlichen Audiovisualisierungen (legal audiovisuals) sprechen neben dem Sehsinn den Hörsinn der Rezipienten an.4 Somit wäre es sachlich nicht korrekt, terminologisch bloss den Sehsinn zu berücksichtigen. Warum sich begrifflich demnach nicht gleich dem Audiovisuellen Recht (Audio-Visual Law) zuwenden? So einfach verhält es sich indessen nicht, zumal der taktil-kinästhetische Sinn im rechtlichen Kontext ebenfalls an Bedeutung gewinnt. Man denke etwa daran, dass unsere Finger heute dank Touchscreens imstande sind, rechtliche und rechtlich bedeutsame Handlungen vorzunehmen. In diesen Zusammenhang gehört zum Beispiel auch der digitale Fingerabdruck mit allen seinen Implikationen für das Recht. Die Rechtsvisualisierungssessionen bzw. die Sessionen zum Multisensorischen Recht dienen als Forum dazu, diese uni- und multisensorischen Rechtsphänomene zu erörtern, bzw. sie sollen ein geeigneter Versammlungsort werden, an dem diese faszinierenden Phänomene in Zukunft diskutiert werden. Dabei wird die Wahrnehmung dieser Phänomene nur eines unter den mannigfachen Diskussionsthemen sein. Denn die an die bisherige Bezeichnung «Rechtsvisualisierung», die auf die Gesichtswahrnehmung abgestützt war, anknüpfende bzw. diese erweiternde neue Bezeichnung «Multisensorisches Recht» impliziert, dass der Gegenstand und das Erkenntnisinteresse dieser neuen rechtswissenschaftlichen Disziplin weit über die «blosse» aísthesis hinausführen, was aus den nachfolgenden Beiträgen ersichtlich ist. Im Lichte dieser Überlegungen würden wir vorschlagen, die Themenschwerpunkte dieser Sessionen folgendermassen zu setzen: Visuelles Recht, Audiovisuelles Recht, Auditives Recht, Taktil-Kinästhetisches Recht sowie allenfalls auch Olfaktorisch-Gustatorisches Recht (letzterer Schwerpunkt in Abhängigkeit denkbarer, jetzt allerdings noch nicht absehbarer Entwicklungen im Recht). Diese Gliederung entspricht wichtigen Teilgebieten des Multisensorischen Rechts. Wer sich dafür interessiert, eine ausführliche Begründung für diesen turn zum Multisensory Law zu lesen, zu sehen und zu hören, sei auf meinen in der Beck-Community «Multisensory Law» online abrufbaren Vortrag «Multisensorisches Recht – Eine neue rechtswissenschaftliche Disziplin?» verwiesen.5
1.2.
Vorgehen ^
Wenn wir die Interventionen der Sessionen zur Rechtsvisualisierung bzw. zum Multisensorischen Recht nachfolgend kommentieren, gehen wir wie folgt vor: Der Kontext, in dem sie stehen, wird zunächst angedeutet. Dann werden die Probleme und die Fragen erörtert, mit denen die Wissenschaftler und die Praktiker sich befassen. Danach skizzieren wir ihre Antworten darauf. Sofern nötig oder sinnvoll, erfolgt anschliessend eine kleine Stellungnahme von unserer Seite dazu. Die Arbeiten werden entsprechend ihrer Reihenfolge im IRIS-Programm, wie es zur Zeit der Abfassung dieses Kommentars bestand, behandelt. Wie bereits im Abstract erwähnt, liegen uns bei der Verfassung dieses Kommentars die Arbeiten entweder bereits in ihrer schriftlichen Fassung für den Tagungsband vor oder bloss als Abstract im Hinblick auf den Ende Februar 2010 an der Universität Salzburg zu haltenden Vortrag.
2.1.
Rechtsvisualisierung quo vadis? Von der schematisch-logischen zur szenisch-situativen Rechtsvisualisierung (Florian Holzer, Aufsatz) ^
Im Hinblick auf den Bedarf an Visualisierungen in unterschiedlichen Zusammenhängen und in Anbetracht der vielfältigen technischen Möglichkeiten zu visualisieren, erforschen verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, wie etwa die Visuelle Kommunikation, um nur eines von zahlreichen Fächern zu nennen, die Prozesse und die Produkte der Visualisierung. Mit Bezug auf die Prozesse wird insbesondere über Methoden der Visualisierung nachgedacht. Was die Produkte angeht, werden unter anderem Überlegungen zu ihren Inhalten, ihren Arten, ihrem Zweck und ihren Adressaten sowie zu ihren Stärken und Schwächen angestellt. Außerdem werden die Chancen erörtert, die sich diesen Produkten bieten, sowie die Risiken, denen sie ausgesetzt sind. Der rechtliche Diskurs ist von dieser Entwicklung nicht ausgeschlossen. Das heißt, namentlich im Visuellen Recht geschieht dies in Bezug auf die Produktion von Rechtsvisualisierungen (legal visuals) und hinsichtlich dieser legal visuals als Produkte. Holzers Aufsatz lässt sich in diesen Diskurs einordnen, beleuchtet er doch die schematisch-logische Rechtsvisualisierung (Visualisierung von Rechtsbegriffen, theoretischen Begriffen und ihren Beziehungen) sowie die szenisch-situative Rechtsvisualisierung (Visualisierung von Sachverhalten und Rechtsnormen). Dies, indem er sie beschreibt und miteinander vergleicht. Einerseits regt der Aufsatz zur Frage an, ob der durchaus plausible und kreative Begriff «szenisch-situativ» an den traditionellen deutschsprachigen rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Diskurs anschlussfähig ist und die Chance hat, dort akzeptiert zu werden, zumal die Begriffe «Sachverhalt» und «Rechtsnorm» dort einen sicheren Platz einnehmen. Warum also nicht eher von «Sachverhaltsvisualisierung» bzw. von der «Visualisierung rechtlicher Sachverhalte» und von der «Visualisierung von Rechtsnormen» sprechen? Soll das Multisensorische Recht und seine Teilgebiete die Anerkennung der etablierten rechtswissenschaftlichen Disziplinen finden, kommt es nicht darum herum, sich an breit anerkannte Begriffe anzulehnen, es sei denn, sachliche Gründe sprächen dagegen, dies zu tun. Andererseits fragt es sich, ob mit dem Begriff «szenisch-situativ» nicht eine Terminologie in den juristischen Diskurs eingeführt würde, die «sinnlicher» und damit bürgernäher wäre. Schließlich sind die Bürger überaus wichtige Adressaten des Rechts. Beispielsweise orientieren sich die Bürgerportale des E-Government, die ihren Adressaten auch rechtliche Inhalte kommunizieren, mehr an der Laien- als an der juristischen Fachsprache.6 Überdies werden Forderungen laut, auch im Bereich von E-Justice eine für Laien verständliche Sprache zu benutzen, damit sie die Erfolgschancen ihres Falles besser zu beurteilen vermögen, nachdem sie die entsprechende Website des für sie zuständigen Gerichtes konsultiert haben.7
2.2.
Visualizing Contracts (Helena Haapio, Abstract) ^
Verträge spielen im wirtschaftlichen Kontext eine zentrale Rolle, um geschäftliche Beziehungen zwischen nationalen und internationalen Partnern zu regeln. Die Inhalte dieser Verträge sind öfters komplex, erstrecken sich nicht selten über hunderte von Seiten und kommen hauptsächlich in sprachlicher Form daher. Die Vertragsinhalte beziehen sich auf rein rechtliche Inhalte, aber auch des Öfteren auf die Geschäftsstrategie, technische und wirtschaftliche Fragen und auf die Sicherung der beiderseits gewünschten Leistungen. Wenn die Vertragspartner aus verschiedenen Ländern stammen, sind verschiedene Rechtsordnungen involviert, und es werden verschiedene Sprachen gesprochen. Daher bedient man sich des Englischen als Lingua franca iuridica (Rechtsverkehrssprache). Insbesondere die involvierten Geschäftsleute, die Nicht-Juristen,8 befällt in dieser schwierigen, nach kommunikativen Lösungen rufenden Situation zuweilen eine Vertragsphobie. Vor diesem Hintergrund fragt Haapio, wie die Kommunikation zwischen den Vertragspartnern erleichtert werden könnte, so dass die Personen, die für die Vertragserfüllung verantwortlich sind, sicher sein können, was der Vertrag von ihnen fordert, vor allem in Bezug auf das «Wann» und das «Wo» der Leistungen. Zu Recht wirft die Autorin die Frage auf, ob und, wenn ja, wie die Vertragsvisualisierung dazu beitragen könnte, die vertragliche Kommunikation und die effektive Vertragsgestaltung und -erfüllung zu erleichtern und damit die unter Laien verbreitete Vertragsphobie erst gar nicht entstehen zu lassen. Haapio hält dafür, dass die Vertragsvisualisierung die Kommunikation zwischen Vertragspartnern und ihren Vertretern mit ihren verschiedenen beruflichen Orientierungen und Fachsprachen vereinfachen und unterstützen würde, indem verschiedene nichttextuelle Werkzeuge in die Vertragsverhandlungs-, Vertragsgestaltungsprozesse und in die Endfassungen der Verträge selber integriert würden, etwa Maps, Flowcharts (Flussdiagramme), Zeitdiagramme, Entscheidungsbäume, Infographiken und so fort. Auf diese Weise würden die Geschäftsprozesse (business processes) und die Vertragsprozesse (contracting processes) besser aufeinander abgestimmt und die Verträge unter anderem interessanter, zugänglicher und verständlicher. Letztere ließen sich auch leichter überwachen und umsetzen. Haapios Arbeit lässt sich dem Visuellen Recht zuordnen, in dem unter anderem danach geforscht wird, welche rechtlichen Inhalte überhaupt visualisierbar sind und welche (positive) Funktionen Rechtsvisualisierungen zu erfüllen vermögen. In Bezug auf Letzteres fungieren die Rechtsvisualisierungen – wie bei der Vertragsvisualisierung auch – als Zusatz zum Rechtstext. Da diese nicht textuellen Zusätze integrierenden Bestandteil des Vertrages bilden (dieses Phänomen existiert in der anwaltlichen Praxis bereits) bzw. künftig vermehrt bilden werden, stehen die Rechtsdogmatik und die Rechtstheorie vor der Herausforderung, neue Interpretationsmethoden dafür zu entwickeln, zumal die herkömmlichen – verbozentrischen – Interpretationsmethoden auf Visualisierungen, die einen integrierenden Bestandteil von Verträgen bilden, sich nicht anwenden lassen dürften.9
2.3.
Facilitating Mutual Understanding Through Services and Service Contract Productization (Katri Rekola, Abstract) ^
Der Kontext, in dem sich Rekolas Beitrag bewegt, gleicht jenem von Haapio, weshalb darauf verwiesen sei.10 Zur Verdeutlichung ist anzufügen, dass im Bereich des Contract und Commercial Management die Ansätze des Service Design und der Contract Productization angewendet werden. Die Contract Productization baut auf dem Service Design auf, indem sie die Ideen des Service Design in Produkte transformiert. In Produkte, die leicht zu verkaufen, zu kaufen, zu liefern und zu vervielfachen sind.11 Rekola strebt danach, die Frage zu beantworten, wie die Contract Productization zusätzlich mit Ansätzen aus dem Visuellen Recht verbunden werden könnte. Sie gibt auch gleich eine Antwort auf diese Frage, indem sie darlegt, es sei möglich, die Rechtsvisualisierung – hier verstanden als Prozess, die zu dem Produkt «Rechtsvisualisierung» innerhalb eines Vertrages führt – in die Contract Productization mit einzubeziehen. Der Beitrag macht deutlich, dass Nachbardisziplinen des Rechts, wie etwa die Wirtschaftswissenschaften (vorliegend speziell das Contract und Commercial Management) auch ein Interesse an den Erkenntnissen des Visuellen Rechts haben und sie für sich nutzen könn(t)en.
2.4.
Transforming Legal Rules into Virtual World Rules – A Case Study in the Virtual Life Platform (Vytautas Čyras, Kevin Glass, Francesco Zuliani, Aufsatz) ^
In der virtuellen Welt (virtual world), einer Welt, zu welcher in der Regel der Computer und das Internet Zugang gewähren, lassen sich die Inhalte der realen Welt (real world), mithin auch rechtliche Inhalte abbilden. So wurde im deutschsprachigen Rechtsbereich ein Moot Court in Second Life abgehalten.12 Darüber hinaus erörtert die Rechtswissenschaft die rechtlichen Aspekte der virtuellen Welt bzw. von Second Life.13 Das heisst, neben physikalischen, biologischen und sozialen Regeln, die von den Gestaltern der virtuellen Welt aufgestellt werden,14 herrschen in dieser Welt auch rechtliche Regeln. Alle diese Regeln erfüllen den Zweck, das Verhalten der mittels einem Avatar miteinander und/oder mit Objekten interagierenden User zu steuern. Was die rechtlichen Normen und ihre Implementierung in der virtuellen Welt betrifft, bestehen erhebliche Forschungslücken. Darum widmet sich der Aufsatz von Čyras/Glass/Zuliani der Frage, wie diese Normen näher beschrieben werden können und wie sie sich in der virtual world selber umsetzen lassen. Die Autoren beantworten beide Fragen, wobei die Antwort auf die zweite für das Multisensorische Recht eher interessant ist. Die zweite Frage wird angegangen unter anderem anhand des für die Avataren aufgestellten Verbotes, den Rasen zu betreten. Diesem Verbot verhalfen die Gestalter der virtuellen Welt in der Weise zum Durchbruch, dass die mit der Maus steuerbaren Avatare den Rasen nicht zu betreten vermögen. Genauer: Die Avatare lassen sich mittels Maus nicht auf den Rasen bewegen. Insofern wird die virtuelle Verbotsnorm «Rasen nicht betreten» kinästhetisiert-visualisiert, wenn auch bloss implizit. Für die Augen der Rezipienten unübersehbar, inkorporiert der kinästhetische Sinn der Avataren als Normadressaten das Verbot. In diesem Sinne stellt der Aufsatz auch einen Beitrag zu der fächerübergreifend geführten Diskussion dar, wie Technologien – heute oder zumindest in Zukunft – gestaltet werden sollten, sie Rechtsverletzungen verunmöglichen bzw. nicht zulassen.
2.5.
Wie sieht man das Recht? Blickanalyse von Rechtsvisualisierungen (Bettina Mielke und Christian Wolff, Abstract) ^
Die Frage, wie Visualisierungen rezipiert werden, beschäftigt die Bildwissenschaften nicht erst seit Kurzem. Da die Wahrnehmung bei diesem Rezeptionsvorgang eine zentrale Rolle spielt, bildet sie einen wichtigen Forschungsgegenstand dieser Disziplinen. Das Visuelle Recht hat einen immensen Aufarbeitungsbedarf, was die Rezeption bzw. besonders was die Wahrnehmung von Rechtsvisualisierungen betrifft, die ein Element innerhalb des Rezeptionsvorganges bildet. Es ist das Verdienst von Mielke/Wolffs Studie, zur Füllung dieser Forschungslücke beizutragen, indem das interdisziplinäre Zweierteam die Frage zu beantworten sucht, wie Rechtsvisualisierungen wahrgenommen werden. Mit Hilfe der Blickanalysemethode, das heißt durch den Einsatz des eye tracking-Labors der Regensburger Medieninformatik wird der tatsächliche Wahrnehmungsverlauf für ausgewählte Formate der Rechtsvisualisierung untersucht. Ferner untersuchen die beiden Autoren, wie die Blickverläufe bei der Betrachtung von Rechtsvisualisierungen sich ändern, und zwar bedingt durch die Aufgabenstellung und das Vorwissen der Rezipienten. Der Artikel legt die Schlussfolgerung nahe, dass das Visuelle Recht auch empirische Forschungsmethoden anwenden sollte. Zum anderen lässt sich aus ihm folgern, dass die Fachleute des Visuellen Rechts der Kooperation mit Angehörigen außerjuristischer Disziplinen bedürfen. Fachleute, die beispielsweise über das erforderliche methodische Wissen verfügen, um empirische Untersuchungen auf dem Gebiet des Visuellen Rechts durchzuführen.
2.6.
Wolke und Vielflach – Zur Verwendung von ästhetischen Objekten im digitalen Ordnungsdenken (Peter Koval und Reinhard Riedl, Aufsatz) ^
«Rechtsinformationsflut» und «Komplexität des Rechts» stellen Attribute oder vielmehr Probleme des (modernen) Rechts dar. Probleme, mit denen nicht nur die Laien, sondern auch die Rechtsakteure selber sich schwertun. Seit Längerem versucht namentlich die Rechtsinformatik, technical coping strategies zu entwickeln, um einen Umgang mit den besagten Problemen zu finden. Innerhalb der Rechtsinformatik stellt sich ihnen auch die E-Government-Wissenschaft, die ein besonderes Interesse daran hat, dass der Staat rechtliche Inhalte (Rechtsinformationen) auf eine verständliche und die Aufnahme- und die Verarbeitungskapazität der Rezipienten nicht überfordernde Weise repräsentiert und kommuniziert. Bis anhin unternahmen diese Disziplinen nur wenige Anstrengungen in diese Richtung. Disziplinen, welche neben Ansätzen des Legal Knowledge Management, des Legal Information Management und der Legal Knowledge Representation auch solche des Visuellen Rechts integrierten. Der Aufsatz von Koval/Riedl unternimmt es, damit fortzufahren, diese Forschungslücke zu füllen. Eine der Schlüsselfragen, mit welcher sich dieser Beitrag befasst, besteht darin, ob beispielsweise Polyeder im E-Government verwendet werden könnten, um rechtliche Inhalte zu vermitteln. Die Antwort der Autoren fällt ebenso zwiespältig wie vorsichtig aus. Einerseits berufen sie sich auf die – überzeugende – Feststellung Luhmans, wonach Komplexität letztlich nur durch eine andere Komplexität reduziert werden kann. Wenn auch von den Autoren nicht explizit formuliert: Indem das Visuelle Recht die Komplexität des Rechts durch Rechtsvisualisierung reduziert, erzeugt es gleichzeitig eine neue, nämlich seine eigene. Andererseits schlagen die Autoren vor, den Einsatz von Polyedern im EGovernment zwecks Vermittlung rechtlicher Inhalte weiter zu prüfen. Insofern fragt es sich, welche rechtlichen Inhalte des E-Governments sich konkret dafür eignen würden, mit Polyedern visualisiert zu werden. Eine Frage, welche uns die Autoren, wie wir hoffen, später beantworten werden.
2.7.
Über das Verbale hinausgehende rechtliche Willensbekundungen durch Personen mit Sprachstörungen (Georg Newesely, Abstract) ^
Die neuen multimedialen und multikodalen Informations- und Kommunikationstechnologien sprechen mehr als nur einen Sinn an. Dies wirkt sich ebenfalls auf das Recht aus. Ungeachtet dessen klammert sich die traditionelle deutschsprachige Rechtstheorie immer noch an das verbozentrische Paradigma «Recht ist Sprache»15 oder – noch schlimmer – «Es gibt kein Recht außerhalb der Sprache»16. Diese Überzeugung, die bei manchen Juristinnen und Juristen beinahe wie ein Glaubensbekenntnis daherkommt, mutet geradezu zynisch an angesichts der Tatsache, dass es Menschen gibt, die im Rahmen der Rechtskommunikation nicht (mehr) fähig sind, sich der Sprache zu bedienen. Die verbozentrische Rechtspraxis bot bzw. bietet solchen Menschen bis anhin keine oder nur wenig Möglichkeiten, rechtliche Inhalte zu kommunizieren. Es ist deshalb überaus verdienstvoll, dassNewesely die Frage behandelt, welche nonverbalen kommunikativen Möglichkeiten Personen erhalten bleiben, die beispielsweise infolge einer Hirnschädigung unter Aphasie leiden. Der Autor erörtert diese Frage speziell im Hinblick auf die rechtsgültige Abgabe von Willenserklärungen. Nach Newesely gehören zu den verbliebenen kommunikativen Möglichkeiten: Gestik und Mimik, Handlungen mit Hilfe von Symbolzeichensystemen, Verwendung von Kommunikationshilfen und von Sprachcomputern. Der in Neweselys Beitrag angesprochene Themenkomplex geht weit über das Visuelle Recht hinaus, berührt er doch ebenfalls den Gegenstand und das Erkenntnisinteresse des Taktil-Kinästhetischen Rechts. Mit seinen multisensorischen Forschungsanliegen lässt sich Neweselys innovativer Beitrag unter das Multisensorische Recht (Multisensory Law) «subsumieren».
2.8.
Visualisierung juristischer Zusammenhänge mittels Web Ontology Language (Georg Schwarz, Abstract) ^
Eines der Kernanliegen der Rechtsinformatik ist es, theoretisches und praktisches Wissen bezüglich der elektronischen Bearbeitung von Fällen zu generieren, was für die staatliche und die private Rechtspraxis von Belang ist. Dank dieser Reflexionen entstanden user interfaces, mit deren Unterstützung diese Fallbearbeitung realisiert werden kann. Diese Benutzerschnittstellen sind überwiegend textuell, enthalten also praktisch keine Rechtsvisualisierungen. Aus diesem Grund wirft Schwarz die Frage auf, ob es möglich wäre, die elektronische Bearbeitung juristischer Fälle nicht nur textbasiert zu gestalten, sondern darin geradeso Rechtsvisualisierungen aufzunehmen. Laut Schwarz wird – damit lehnt er sich ähnlich wie Holzer an Lachmayers Begrifflichkeit an – auf einer sogenannten virtuellen Bühne eine Fallsituation aufgeführt. Rechtsvisualisierungstool ist die Web Ontology Language (OWL). Dabei visualisiere das System jene Elemente der Situation, die auf vertraglichen oder gesetzlichen Regeln beruhen. Dank dieser Rechtsvisualisierung ist es den Usern möglich, den anstehenden Fall intuitiv abzuwickeln. Schwarz hat dabei besonders die elektronische Fallabwicklung in der privaten Rechtspraxis vor Augen, nämlich jene in der Rechtsberatung sowie jene in Versicherungsunternehmen.
2.9.
Eine polysyntaktische Betrachtung der Kodierung von Semantik in Rechtsvisualisierungen (Hans-Georg Fill, Arbeit) ^
Die Bildwissenschaften setzten sich mit der visuellen Kodierung von Bedeutung auseinander. Desgleichen gilt dies für das Visuelle Recht, forscht es doch danach, ob und, wenn ja, wie der Inhalt und die Bedeutung von Rechtstexten visuell kodiert – visualisiert werden können. Die aus diesen Bemühungen resultierenden Rechtsvisualisierungen (Produkte) sind reich an Semantik und sollen zu einem besseren Verständnis verbal kodierter rechtlicher Inhalte beitragen. Gemäss Fill entspringt diesem wissenschaftlichen Kontext der Bedarf, noch mehr Wissen darüber zu generieren, wie die visuelle Semantikkodierung im Bereich des Rechts funktioniert. Dies kann nach Fill in Anlehnung an Konzepte und Methoden aus dem Bereich der Wirtschaftsinformatik passieren, die sich unter anderem mit der visuellen Darstellung von Unternehmensmodellen, wie zum Beispiel Geschäftsprozessmodellen, beschäftigt. Diese Geschäftsprozessmodelle umfassen neben wirtschaftlichen auch rechtliche Aspekte bzw. Inhalte. Ziel dieser – aus unserer Perspektive – Forschung extra muros ist es, mit dem neu geschaffenen Know-how eine Unterstützung durch die modernen Informationstechnologien zu kreieren, eine Unterstützung, die den Produzenten von Rechtsvisualisierungen gewährt werden könnte. Fill stellt daher die Frage, inwieweit die Verwendung von mehreren visuellen Syntaxen – gemeint sind zum Beispiel die Farb- und die Formsyntax – bei der Kodierung von Semantik in Rechtsvisualisierungen als Produkte eine Rolle spielt bzw. welche Konsequenzen sich aus einer derartigen polysyntaktischen visuellen Kodierung ergeben. Fill beantwortet diese Frage anhand eines Beispiels aus dem Bankenbereich: Geschäftsprozess «Eröffnung eines Bankkontos». In diesem Geschäftsprozess spielen, wie bereits angedeutet, neben wirtschaftlichen Inhalten auch rechtliche (beispielsweise die bankenrechtlich geforderte Identitätsprüfung des Kunden) eine Rolle. Diese heterogenen Inhalte müssen visualisiert werden. Fill realisiert diese (Rechts-)Visualisierung auf der Basis eines Metamodellierungsansatzes und mit Hilfe der visuellen Modellierung. Diese Arbeit bringt uns zum Bewusstsein, dass das Visuelle Recht ebenfalls Schnittstellen mit der Wirtschaftsinformatik aufweist. Die Erkenntnisse der Wirtschaftsinformatik lassen sich wohl auf andere Kontexte übertragen. Im Speziellen dürften sich für einen solchen Know-how-Transfer die normbasierten Geschäftsprozesse in der Verwaltung (Stichwort «E-Government») und bei den Gerichten (Stichwort «E-Justice») eignen.
3.
Schlussbemerkungen ^
Die kommentierenden Streifzüge durch die mentalen uni- und multisensorischen Rechtslandschaften der Beitragenden zum Multisensorischen Recht sollten vor Augen geführt haben, dass diese Landschaften, wie unterschiedlich ihr Gepräge auch ist, es wert sind bzw. wären, einem breiteren Publikum innerhalb und ausserhalb der Rechtswissenschaft erschlossen zu werden. Da die rechtswissenschaftliche Disziplin des Multisensorischen Rechts noch am Anfang steht, stellen sich zahllose weitere Probleme und Fragen, die der Lösung harren. Dies bildet eine dankbare und reizvolle Aufgabe, die auf die Teilnehmenden der künftigen IRIS-Sessionen zum Multisensorischen Recht sowie auf jene der weiterhin stattfindenden (Münchner) Tagungen zum Multisensorischen Recht wartet. Wer sich dafür interessiert, auch ausserhalb dieser wissenschaftlichen Veranstaltungen daran mitzuarbeiten, diese Aufgabe zu bewältigen, oder auch nur mitverfolgen möchte, wie versucht wird, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen, sei dazu eingeladen, der Beck-Community «Multisensory Law»17 beizutreten. Auf die kommenden Entwicklungen kann man jedenfalls gespannt sein.
4.
Literatur ^
Baumann, M., Die sinnliche Justitia, Streifzüge durch die Sensorik des Rechts, Schulthess Polygraphischer Verlag, Zürich (1996).
Beck-community «Multisensory Law», http://community.beck.de/gruppen/multisen sorylaw; Zugriff 1. Februar 2010.
Boehme-Nessler, V., Unscharfes Recht, Duncker & Humblot, Berlin (2008).
Boehme-Nessler, V., BilderRecht, Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts, Wie die Dominanz der Bilder im Alltag das Recht verändert, Springer, Berlin (2010).
Brunschwig, C., Legal Design – ein Bilderbuch für den Rechtsunterricht, in: Rechtsgeschichte Interdisziplinarität, Festschrift für Clausdieter Schott zum 65. Geburtstag, Hg. Marcel Senn und Claudio Soliva, Peter Lang, Bern [u.a.] (2001), S. 361-371.
Hoekstra, R., BestPortal: Lessons Learned in Lightweight Semantic Access to Court Proceedings, in: Legal Knowledge and Information Systems, JURIX 2009: The Twenty-Second Annual Conference, Bd. 209, Frontiers in Artificial Intelligence and Applications, Hg. G. Governatori, Amsterdam (2009), S. 69-78.
Rekola, K., Service Design as a basis for successful contracting, in: Contracting Excellence, Newsletter Summary, December 2007, Hg. International Association for Contract and Commercial Management, http://www.iaccm.com/contractingexcel lence.php?id=67; Zugriff 1. Februar 2010.
Rüthers, B., Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 4., überarbeitete A., C.H. Beck, München (2008).
Collete Brunschwig, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliches Institut, Zentrum für Rechtsgeschichtliche Forschung, Abteilung Rechtsvisualisierung
Rämistrasse 74/52, 8001 Zürich CH, colette.brunschwig@rwi.uzh.ch
- 1 Vgl. Internationales Rechtsinformatik-Symposion 2003, www.univie.ac.at/ri/IRIS2003/; Zugriff 1. Februar 2010.
- 2 Die Websites der vergangenen IRIS-Konferenzen, aus denen diese Tatsachen hervorgehen, sind auf der je aktuellen IRIS-Website abrufbar. Vgl. also Internationales Rechtsinformatik-Symposion 2010, www.univie.ac.at/RI/IRIS2010/; Zugriff 1. Februar 2010.
- 3 Internationales Rechtsinformatik-Symposion 2010, www.univie.ac.at/RI/IRIS2010/; Zugriff 1. Februar 2010.
- 4 Diese triviale Erkenntnis geht zuweilen verloren, da der Gesichtssinn in unserer Kultur die anderen Sinne dominiert, das heißt in ihrer Hierarchie zu oberst steht.
- 5 Vgl. Beck-Community «Multisensory Law», http://community.beck.de/foren/multisensory-law; Zugriff 1. Februar 2010.
- 6 Vgl. zum Beispiel help.gv.at, www.help.gv.at/Content.Node/index_buerger.html, und das Schweizer Portal, www.ch.ch/private/index.html?lang=de; Zugriff 4. Februar 2010.
- 7 Vgl. Hoekstra, BestPortal, 71f. und 77f.
- 8 Haapio umgeht das Wort «Laien» bewust, weil ihrer Meinung nach die Juristen in manchen Vertragsfragen Laien sind.
- 9 Zur fehlenden visuellen Hermeneutik in der Rechtstheorie und der Rechtsdogmatik vgl. Baumann, Die sinnliche Justitia, S. 27 (1996); zu ersten Ansätzen einer visuellen Rechtsinterpretation vgl. Brunschwig, Legal Design, S. 365ff. (2001); Boehme-Nessler, Unscharfes Recht, S. 338ff. (2008), und Boehme-Nessler, BilderRecht, S. 199ff. (2010).
- 10 Siehe oben Ziffer 2.2.
- 11 Vgl. Rekola, Service Design as a basis for successful contracting, www.iaccm.com/contractingexcellence.php?storyid=374&PHPSESSID=4356f0c60ab3bd416918357c71f9bfa9; Zugriff 1. Februar 2010.
- 12 Vgl. MootCourtInSecondLife, www.jurawiki.de/MootCourtInSecondLife; Zugriff 1. Februar 2010.
- 13 Vgl. Second Life Recht, www.jurawiki.de/SecondLifeRecht; Zugriff 1. Februar 2010.
- 14 Vgl. Virtuelle Welt, http://de.wikipedia.org/wiki/Virtuelle_Welt; Zugriff 1. Februar 2010.
- 15 Rüthers, Rechtstheorie, S. VIII (2008).
- 16 Vgl. Rüthers, FN 15, S. 106, Rn. 150.
- 17 Vgl. beck-community «Multisensory Law», http://community.beck.de/gruppen/multisensorylaw; Zugriff 1. Februar 2010.