Jusletter IT

Zum Umgang mit der Unschärfe des Rechts

  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: , Zum Umgang mit der Unschärfe des Rechts, in: Jusletter IT 22 February 2011
Ambiguity and uncertainty in the field of legal practice leed to concepts, legal principles and strategies to overcome these (partly unevitable) problems. On the level of law making for instance margins of discretion are left for the application of legal provisions, e.g.by using sweeping clauses in the wording of legal texts. On the level of application particularly the concept of legal proceedings and a case law system help to channel the dealing with facts and corresponding legal questions to prepare the decision of the case. Several principles apply for both levels, in particular concerning the transparency of the legal discourse and the criteria for accepted truth in this field.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Unschärfe und Recht
  • 2. Konzepte und Strategien gegen Unschärfe
  • 2.1. Zur Gesetzgebung
  • 2.1.1. Kasuistik und Generalklausel
  • 2.1.2. Finale Programmierung
  • 2.1.3. Belassen von Spielräumen
  • 2.1.4. Regelungsabsicht
  • 2.1.5. Prozeduralisierung
  • 2.1.6. Entscheidungsverpflichtung
  • 2.1.7. Traditionalisierung
  • 2.1.8. Harmonisierung und Konkordanz
  • 2.1.9. Richtigkeitsabsicht
  • 2.1.10. Fehlerkalkül
  • 2.1.11. Zeitablauf
  • 2.1.12. Plausibilität und Schlüssigkeit
  • 2.1.13. Diskurs und Transparenz
  • 2.1.14. «Self-restraint»
  • 2.1.15. Mehrstufigkeit und Inklusion
  • 2.1.16. Institutionalisierung
  • 3. Konventionalismus und Theoriedefizit

1.

Unschärfe und Recht ^

[1]

Juristisches Beurteilen betrifft den Umgang mit Rechtsnormen. Zentral ist dabei die Erfassung des Normsinnes, des normativen Inhalts einer Vorschrift1 . Die Sinnerfassung ist regelmäßig verknüpft mit einem juristischen Entscheiden2 . Etwa, ob auf bestimmte Fakten «Sachverhalt» bestimmte Normen angewendet werden können, ob sich dann bestimmte Verpflichtungen, Berechtigungen, Ermächtigungen für bestimmte Personen ergeben. In der Regel wird dazu die (potentielle) Schaffung weiterer Rechtsnormen in den Blick genommen. Dabei geht es beispielsweise um den Abschluss von Verträgen oder die Erlassung behördlicher Individualakte auf dem Boden genereller Rechtsvorschriften, oder – davon bloß graduell abgesetzt durch einen weiteren Spielraum3  – die Erlassung eines Gesetzes durch den an die Verfassung gebundenen Gesetzgeber. Da die Normen einer Rechtsordnung hierarchisch gestuft erzeugt werden und innerhalb der Hierarchie mit unterschiedlicher Derogationskraft ausgestattet sind, erweist sich auch der normative Inhalt einer Rechtsordnung hierarchisch strukturiert .

[2]

Eine Entscheidung setzt die Kenntnis der einschlägigen Entscheidungsgrundlagen voraus. Für juristische Entscheidungen bedeutet das, dass der Inhalt der rechtlichen Regelungen sowie die entscheidungserheblichen Fakten miteinander koordiniert aufbereitet werden. Der (zirkuläre) Vorgang der Entscheidungsfindung orientiert sich an einem dialektischen «Hin und Herwandern» des Blickes zwischen Sachverhalt und Rechtsnormen, wobei die Entscheidung – ex post – (linear) als subsumptionsartiger Schluss präsentiert wird. Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidungsgrundlagen betreffend Rechtsnormen und Fakten möglichst präzis erarbeitet werden müssen, um eine vorgabengerechte Entscheidung zu ermöglichen. Die auf Präzisierung angelegte Reduktion von Unschärfen besteht vor allem im Herausarbeiten von Abgrenzungen. Unschärfebeseitigung bedeutet so gesehen Grenzziehungsarbeit . Etwa Abgrenzungen zur Erfassung des Inhaltes von Rechtsnormen, Abgrenzungen zwischen normerheblichen und rechtsunerheblichen Fakten.

[3]

Diese Aufbereitung ist allerdings auf allen Normhierarchieebenen mit einer Reihe von unvermeidlichen Unsicherheitselementen ausgeliefert, die den Umgang mit Norminhalten belasten. Obwohl eine juristische Entscheidung an rechtliche Vorgaben gebunden ist, ist es doch unausweichlich, dass eine vollständige Determinierung fehlt. Wäre nämlich eine vollständige Determinierung gegeben, würde bereits die Vorgabe die konkrete Regelung enthalten, die erst durch die Entscheidung produziert werden soll; letztere wäre dann entbehrlich. Eine juristische Entscheidung verlangt daher nicht bloß die (kognitive) Erarbeitung von Entscheidungsgrundlagen, sondern eine volitive Entscheidung (d.h. einen Willensakt), die Setzung einer Norm, die zuvor so nicht bestand. Dieser Umstand stellt kein (verwirrendes) Paradoxon4 dar, sondern ein unverzichtbares Systemelement jeder hierarchisch gegliederten Rechtsordnung5 . Dieses Unsicherheitsmoment sollte nicht überbewertet werden. Es beschränkt sich nicht auf den Umgang mit Rechtsnormen, vielmehr ist unser Lebensraum ganz allgemein dahingehend gestaltet, dass Ereignisse in Raum und Zeit gebunden sind und zudem in ihrem Verlauf relativ offen erscheinen6 .

[4]
Ebenfalls nicht auf das Recht beschränkt, aber für dieses von besonderer Bedeutung erscheinen allerdings die folgenden drei Momente für Unschärfe.
[5]

Rechtsakte werden in aller Regel mit sprachlichen Zeichen zu Texten abgefasst, aus ihrer sprachlichen Fassung werden sie gedanklich reproduziert. Angesichts der in allen drei Dimensionen (Syntax, Semantik, Pragmatik) der natürlichen Sprache gegebenen Unschärfen ergibt der Normtext bei der Erfassung des Norminhalts einen mehr oder weniger großen Spielraum. Die Sprachabhängigkeit des rechtlichen Geschehens lässt sich nicht völlig aus der Welt schaffen.

[6]

Ferner besteht im jedem Entscheidungsfall eine gewisse Faktenungewissheit : Weder lässt sich Vergangenes in einem rechtlichen Verfahren mit letzter Sicherheit ergründen, noch lassen sich mit einer von Rechtsnormen geforderten prognostischen Beurteilung zukünftige Ereignisse präzise erfassen. Notorisch ist der Umstand, dass infolge des Erfordernisses, in vertretbarem zeitlichen Rahmen Entscheidungen zu fällen, die Informationslage betreffend die entscheidenden Fakten zumeist nicht völlig erschöpfend aufbereitet werden kann, was die Erfassung von Entscheidungsalternativen beeinflussen mag.

[7]

Entscheidende Personen sind zudem Teil des Entscheidungsprozesses , was die Sicht auf die eigene Position im Kontext des Entscheidungsgeschehens nur beschränkt erkennen lassen wird. Dieser «blinde Fleck» kann auch die Sicht auf sachliche Zusammenhänge7 verstellen.

[8]

Zusammengefasst ergibt sich, dass juristische Entscheidungen – ungeachtet einer fallspezifischen besonderen Komplexität  – grundsätzlich von mehrfachen Momenten für Unschärfe belastet sind. Diesen Momenten vermag sich juristisches Beurteilen letztlich nicht zu entziehen.

2.

Konzepte und Strategien gegen Unschärfe ^

[9]

Diese Belastung lässt sich freilich durch bestimmte Konzepte zur Präzisierung der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen für die Entscheidungsfindung begegnen. Sie lassen sich als maßgeblicher Teil einer Funktionslogik des Rechts erfassen, die den inhaltlichen Umgang mit Recht strukturieren und determinieren.

[10]
Gemeinsam ist ihnen, die belastenden Unschärfenmomente bewusst zu machen. Mehr noch geht es freilich um die Vermeidung bzw. Reduktion von Unschärfen und Unklarheiten. Die Entscheidungsgrundlagen müssen derart aufbereitet werden, dass darauf juristische Entscheidungen schlüssig – das heißt überzeugend – aufgesetzt werden können.
[11]
Einschlägige Konzepte und Strategien sind vielfältig und können innerhalb des Modells des demokratischen Verfassungsstaates sachbereichsbezogen auch unterschiedlich ausgestaltet sein. Hier kann nur ein einleitender und ausschnittsartiger Überblick für einen Kernbereich skizziert werden. Die Skizze ist dreigeteilt: In Konzepte A) auf der Ebene der Gesetzgebung (der Erzeugung genereller Normen), B) auf der Ebene der individuellen Entscheidungen (insbesondere der Erzeugung von gerichtlichen Urteilen und Verwaltungsakten), und C) einige beide Ebenen übergreifend Konzepte betreffend die Struktur der Rechtsordnung und ihrer Umsetzung, betreffend die inhaltliche Gestaltung des Rechts (von Rechtsinstituten und Rechtsverhältnissen) und betreffend den Umgang mit Problemlagen.

2.1.

Zur Gesetzgebung ^

2.1.1.

Kasuistik und Generalklausel ^

[12]
Die Gesetzgebung (die Erzeugung genereller Normen) stößt beim Versuch, Lebenssachverhalte im Vorhinein rechtlich zu normieren, auf zwei grundlegende Schwierigkeiten. Zum einen entwickeln sich tatsächliche Lebensverhältnisse derart vielgestaltig, dass es von vornherein nicht erreichbar erscheint, ex ante alle gewünschten Sachverhaltskonstellationen zu erfassen.
[13]
Darauf bezieht sich die Diskussion um die hiezu adäquate legistische Regelungstechnik, nämlich ob ex ante vorstellbare Fallkonstellationen im Wege einer ausdifferenzierten Kasuistik oder doch durch eine weite Generalklausel erfasst werden sollen. Eine generalklauselartige Normierung tendiert dazu, eine ganze Reihe von Konstellationen einzufangen und ist insofern flexibler als eine kasuistische Normierung. Bloß kasuistisch determinierte Normengefüge entwickeln eine gewissen Eigendynamik dann, wenn sie sich auf die Regelung von Durchschnittsfällen beschränken, und in der Folge an Hand des Gleichheitssatzes (nicht selten durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes) die Varietät der eingefangenen Durchschnittsfallgruppen erhöht und vertieft wird, und sich darauf oft recht bald der Ruf nach einer bereinigenden Neufassung des Normtextes erhebt.
[14]
In der Praxis verbinden generelle Normsetzer daher häufig beide legistische Ansätze, indem sie kasuistisch gestaltete Konstellationskataloge durch (abrundende) Generalklauseln ergänzen, um unbeabsichtigte Regelungslücken (oder regelungsfreie Räume) zu vermeiden. Mit dieser Verbindung wird die mit beiden Ansätzen jeweils verbundene Unsicherheit (jedenfalls tendenziell) kompensiert.

2.1.2.

Finale Programmierung ^

[15]
Eine andere Dimension der Legistik betrifft die Technik der Verknüpfung zwischen den angeordneten Rechtsfolgen und den dafür rechtlich geforderten Voraussetzungen. Für bestimmte Fragen (wenn es etwa um behördliche Planungen, Prognosen oder auch um sicherheitspolizeiliche Tätigkeiten geht) sind konditionale Verknüpfungen nach dem «wenndannSchema» nicht geeignet. Jedenfalls in diesen Bereichen werden generelle Normierungen in der Regel durch Zielvorgaben gestaltet, regelmäßig verbunden mit der Regelung des Verfahrens, wie im Einzelfall die Entsprechung mit der Zielvorgaben erreicht werden sollen, und den dabei zu beachtenden rechtlichen Grundsätzen.

2.1.3.

Belassen von Spielräumen ^

[16]
Mitunter werden von der Gesetzgebung die Möglichkeiten zur Determinierung der Rechtsanwendung nicht vollständig ausgenützt. Dabei mögen zwei Motive eine Rolle spielen. Zum einen kann es opportun erscheinen, der Rechtsanwendung in Anbetracht der Grenzen der Programmierung mit sprachlichen Normtexten oder der Schwierigkeiten, die bei der Prognose der Entwicklung der einschlägigen Faktenlage ergeben, sachbezogen erhöhte Flexibilität einzuräumen. Zum anderen kann eine schwache Determinierung aber darauf basieren, dass auf der Ebene der Gesetzgebung kein Konsens über den Regelungsinhalt herstellbar war, die Norm aber dennoch erlassen werden soll. Die Unschärfen und Inkonsistenzen aus dieser Vorgangsweise belasten die Vollziehung insofern zusätzlich, als sie prozedural artikuliert letztlich von der ihr zu bereinigen sind und insofern gesetzgeberische Aufgaben suppliert werden müssen.

2.1.4.

Regelungsabsicht ^

[17]
Die letzte Überlegung verschaulicht, dass der Gesetzgeber seiner Aufgabe nur gerecht wird, wenn er eine Regelung, die er für erforderlich hält, auch ernsthaft und konsequent anstrebt. Da (sehr verkürzt) in einem pluralistischen Gemeinwesen dem Recht die herausragende Rolle zukommt, die Regelungen zur Verfügung zu stellen, die letztlich – trotz maßgeblicher Unterschiede in Orientierungen und Lebensumständen – für alle Mitglieder des Gemeinwesens Konflikte lösen lassen sollen, besteht einerseits an gesetzlichen Regelungen stets ein gewisser Bedarf, andererseits ist ihr Inhalt angesichts zahlreicher Interessensdivergenzen zumeist umstritten. Dass dies die Konsequenz bei der Rechtssetzung belasten kann, zeigt sich in der Praxis, wenn Formelkompromisse oder andere Defizite beklagt werden.

2.1.5.

Prozeduralisierung ^

[18]
Eine wesentliche Rahmenbedingung – nicht nur für Individualentscheidungen – bildet die Prozeduralisierung des rechtlichen Geschehens. Dabei werden die Rollen im Entscheidungsprozess klar verteilt (etwa: «Behörde» und «Parteien»), der Verlauf des rechtlichen Geschehens wird präzise reglementiert (durch Verfahrensrecht, dass das Verfahren in Abschnitte [etwa: Vorverfahren, Ermittlungsverfahren, Rechtsmittelverfahren] gliedert). Den Rollen werden auch ganz bestimmte Aufgaben bei der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen zugewiesen (etwa der Grundsatz der amtswegigen Verfahrensführung für die Behörde oder Postulationspflichten und Beweislasten für Parteien).
[19]
Damit wird der Weg zur Entscheidung gegliedert, die Ergebnisse der einzelnen Verfahrensabschnitte lassen sich getrennt voneinander aufbereiten, die Effizienz und Effektivität des Verfahrens (insbesondere zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts) werden gesteigert. Die prozedurale Gliederung ermöglicht nicht nur die Berechenbarkeit des Verfahrensfortganges, sondern ist auch Voraussetzung für die Kontrolle der Entscheidung durch ein Kontrollsystem. Die Prozeduralisierung erlaubt die Etablierung eines rechtssysteminternen Kontrollsystems sowohl für Individualentscheidungen als auch für die Erzeugung genereller Rechtsquellen. Individualentscheidungen sind in aller Regel in einem Instanzenzug überprüfbar, der typischerweise arbeitsteilig organisiert ist.
[20]
Prozeduralisierung erleichtert Akzeptanz und vertieft im Ergebnis die Legitimität der getroffenen Entscheidung. Es steht zur inhaltlichen Vorherbestimmtheit der Entscheidung in einem gewissen «trade off»Verhältnis: Eine geringere Vorgabenfixierung wird bei entsprechender erweiteter Prozeduralisierung eher als akzeptabel erachtet («Legitimation durch Verfahren»). Prozeduralisierung eröffnet den Rahmen für die gleichmäßige Anwendung des Rechts und stellt damit einen Eckpfeiler für die Rechtsgleichheit – die Umsetzung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz – dar.

2.1.6.

Entscheidungsverpflichtung ^

[21]
Verknüpft mit dem Konzept der Prozeduralisierung – als ein Element jeder rechtlichen Entscheidung im Einzelfall – ist das Verbot der Rechtsverweigerung. In jedem Individualfall muss – auch bei hoher Unschärfebelastung – eine rechtliche Entscheidung gefällt werden.
[22]
Der Entscheidungszwang stellt sich als Zwang zur Klarheit dar, als Zwang zur Überwindung von Unschärfen: Die Entscheidung verdrängt eine zuvor unscharfe Situation, und erleichtert als Problembewältigung den Anschluss für weitere Entscheidungsprozesse. Der Entscheidungszwang dient zudem zur Überwindung von SystemLücken, die durch Entscheidungen aufgefüllt werden. Bei der Rechtsanwendung sind (technische) Regelungslücken anhand der einschlägigen Methoden zu füllen. Der Verzicht auf die Ermächtigung zur Lückenfüllung würde insbesondere entweder die rechtlichen Entscheidungsgrundlagen der Inkonsistenz ausliefern oder dazu führen, dass der Einzelfall einem Gesetzgeber zur Lösung (bzw. zur Ergänzung der generellen Rechtsvorschrift) heranzutragen ist.
[23]
Neben den Entscheidungszwang treten zwei weitere fundamental funktionale Charakteristika der Gerichtsbarkeit: Ihre Bindung an das Recht, was in einem demokratischen Verfassungsstaat die Verwirklichung der Vorgaben des demokratischen Gesetzgebers sicher stellen soll, und die richterliche Unabhängigkeit, die die Rechtsanwendung exklusiv auf die rechtlichen Vorgaben fokussieren lässt und andere Fluchtpunkte (etwa [präsumtive] Erwartungen von Regierungen oder aus dem Bereich des politischen Tagesgeschehens) aus dem Entscheidungsprozess ausblenden lässt8 .

2.1.7.

Traditionalisierung ^

[24]
Eine gleichmäßige Vollziehung von Rechtsvorschriften verlangt die Beachtung der bisher nach diesen Rechtsvorschriften getroffenen Entscheidungen. Würde unter gleichen bzw. vergleichbaren Voraussetzungen eine gesetzliche Vorschrift unterschiedlich angewendet, würde man einer Norm bei gleichbleibendem Normtext einen unterschiedlichen Norminhalt unterstellen.
[25]
Entsprechend diesem Konzept9 erfolgt die Bedachtnahme auf Präjudizien im Wege des Fallvergleichs. Der zu entscheidende Fall wird mit schon bisher nach den einschlägigen Rechtsvorschriften gelösten Fällen verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Eine schon gefundene Lösung zieht auch für den neuen Fall, wenn sich weder bezüglich der maßgeblichen rechtlichen Entscheidungsvoraussetzungen noch der danach maßgeblichen Sachverhaltselemente wesentliche Unterschiede herauskristallisieren. Ein wesentlich rechtlicher Unterschied kann aber auch darin bestehen, dass ein neues, besseres – aber nicht lediglich gleich gutes – Argument eine neue Lösung – trotz gleichbleibendem Normtext – nahelegt. Dies ergibt sich aus der für rechtliche Entscheidungen (zumindest rekonstruktiv) einschlägigen «Logik des besseren Arguments », wonach der Entscheidungsalternative gefolgt werden soll, für die die besseren Argumente sprechen.
[26]

In diesem Ansatz ist die regulative Idee des einzig richtigen Auslegungsergebnisses bzw. der einzig richtigen Fallentscheidung erkennbar10 . Zwar ist mit dem Modell der bloß regulativen Idee der Anspruch aufgegeben, dass es tatsächlich in jedem Fall nur eine richtige Entscheidung geben kann, aufrechterhalten wird damit aber das Bemühen, mittels des besseren Arguments die (vorläufig11 ) bessere Lösung zu erreichen. Daraus ergibt sich ein «Imperativ zum besseren Argument »12 . Dieser erschöpft sich nicht in einem auf die möglichst fachgerechte Interpretation der Normtexte zur Ermittlung des Inhalts der Normen gerichteten «hermeneutischen Imperativ»13 , sondern erfasst – diesen hierarchisch überwölbend –den gesamten, Fakten und Normen integrierenden Fall, der der pragmatischen Zielsetzung des Rechts entsprechend zu entscheiden ist14 .

[27]
Die Aufarbeitung von Falllösungsmodellen erfolgt durch die Rechtsdogmatik, die diese in ihre auf die systematische Darstellung und Erfassung der Rechtsvorschriften gerichteten Überlegungen einbezieht15 . Der so erstellte Thesaurus von Falllösungen16 trägt im Einzelfall zur Entlastung von Unschärfen oft ganz maßgeblich bei. Durch die Verwendung von Präjudizien lassen sich inhaltliche Unklarheiten der Rechtslage reduzieren, die bisher erarbeiteten Lösungen lassen erkennen, in welchem rechtlichen Kontext eine Rechtsvorschrift bislang verordnet wurde.

2.1.8.

Harmonisierung und Konkordanz ^

[28]
Unschärfen entstehen auch daraus, dass mehrere für eine Falllösung einschlägige Rechtsvorschriften miteinander in einem Spannungsverhältnis oder gar in einem Widerspruch stehen. Rechtsanwendung ist aber daran orientiert, dass die Entscheidungsgrundlagen ein konsistentes Ganzen bilden. Andernfalls wäre es nämlich schwierig, eine getroffene Entscheidung plausibel als die richtige darzustellen.
[29]
Zur Auflösung von Spannungsverhältnissen und Widersprüchen bestehen mehrere Techniken. Zum einen erfolgt die Rechtsanwendung – auch ohne ausdrückliche generelle Normierung – den Grundsätzen der lex specialis bzw. der lex posterior, die bei solchen Unklarheiten der spezielleren bzw. der später erlassenen Norm den Vorzug geben. Eine Spannungsverhältnisse zwischen höherrangigem und niederrangigem Recht auflösende Methode stellt die sogenannte rechtskonforme Auslegung dar, die niederrangiges Recht im Wege der Auslegung mit höherrangigem Recht in Einklang bringt, in dem der mit dem höherrangigen Recht konformen Auslegungsvariante der Vorzug gegeben wird.
[30]
Zu einer nachhaltigen Beseitigung solcher Unklarheiten führt ein Kassationssystem, das den Widerspruch durch Aufhebung einer widersprechenden Norm (etwa eines verfassungswidrigen Gesetzes oder eines rechtswidrigen Individualaktes durch Gerichte) beseitigt. Weniger klar wirkt ein Verdrängungssystem, wie es etwa im Unionsrecht durch das System des sogenannten Anwendungsvorrangs etabliert ist.
[31]

Im methodologischen Sprachgebrauch werden diese Harmonisierungsbestrebungen mit der regulativen Idee der Einheit der Rechtsordnung apostrophiert17 . Die Mehrschichtigkeit zeitgenössischer staatlicher Rechtsordnungen, die zudem durch generelles und partikuläres internationales Recht (etwa Unionsrecht) überlagert werden, lässt Spannungsverhältnisse und Widersprüche häufiger in Erscheinung treten, sie erweitert aber auch tendenziell die Argumentationsspielräume, um Spannungsverhältnissen und Widersprüchen begegnen zu können. Die Situation erinnert an die Analysen von Jürgen Habermas zur «neuen Unübersichtlichkeit»18 . Das Recht unserer Zeit deshalb als «nachpositiv » oder «postpositiv» zu qualifizieren greift aber zu kurz: Die ausgebaute bzw. vertiefte Mehrschichtigkeit ändert nichts daran, dass es sich bei den einzelnen Schichten jeweils um positiv gesetztes Recht handelt, das der Rechtsanwendung vorgegeben ist; ein Charakteristikum besteht aber darin, dass die konvergierende – um Konsistenz und Konkordanz bemühte – Zusammenschau der Schichten letztlich nicht vom Gesetzgeber, sondern nur von der Rechtsanwendung im einzelnen Fall geleistet werden kann19 .

2.1.9.

Richtigkeitsabsicht ^

[32]
Rechtsanwendung produziert selbst Unschärfe, wenn (bewusst oder aus Nachlässigkeit) unzutreffende Interpretationen von Rechtsvorschriften in Kauf genommen werden. Das führt zu bloßen «Fassadenbegründungen» von juristischen Entscheidungen. Sie präsentieren einen Fall nach außen (ganz) anders, als er wirklich liegt.
[33]
Die dazu gegenläufige «Richtigkeitsabsicht» – als Absicht, eine richtige Falllösung zu erzielen – stellt somit ein zentrales Element in der die Rolle der Rechtsanwendung steuernden Programm dar. Unschärfenbeseitigung und -reduktion bei der Produktion von rechtsumsetzenden Entscheidungen verlangt in diesem Sinne eine innere Disposition bei juristischen Entscheidungsträgern.
[34]
Dass eine Fassadenbegründung die Rechtfertigung und Akzeptanz der Entscheidung negativ zu beeinflussen vermag, liegt auf der Hand. Sie reduziert zudem die Verwertbarkeit der Entscheidung als Präjudiz. Eine unzutreffende Argumentation ist weder der entscheidenden Behörde noch – und das schon gar nicht – den von der Entscheidung betroffenen Parteien zuzumuten. Unterliegt das Abgehen von Präjudizien gesteigerten Erzeugungsbedingungen (wie etwa einer Entscheidung in einem verstärkten Senat), verschaffen Fassadenbegründungen dem Entscheidungsprozess zusätzliche Komplexität.
[35]
Unrichtige Rechtsinterpretationen können sich insbesondere unmittelbar auf die für die Entscheidung relevante Faktenlage auswirken. Unzutreffende Auslegungen lassen Faktenmomente als rechtserheblich erscheinen, die bei einer zutreffenden Interpretation im Hintergrund stehen. Aus diesen Erwägungen erscheint auch eine Entscheidung verfehlt, die (gleichsam «umgekehrt» zur in Kauf genommenen unzutreffenden Rechtsauslegung) die Faktenlage so zurecht legt, dass die Entscheidung – bei an sich zutreffender Interpretation der rechtlichen Vorgaben – zu einem (von vornherein) in den Blick genommenen Ergebnis führt. Auch eine solche Entscheidung leidet letztlich an einer Fassadenbegründung: Der Fall liegt anders, als die Begründung darstellt und Glauben macht20 .

2.1.10.

Fehlerkalkül ^

[36]
Ein Konstruktionsgrundsatz zur Vermeidung von Unschärfe geht dahin, fehlerhafte Individualrechtsakte trotz eines Fehlers bestehen zu lassen. Damit sind nicht alle rechtswidrigen Hoheitsakte absolut nichtig21 . Um dies zu erreichen, ist es erforderlich, dass die Rechtsordnung die Konsequenzen bestimmter Fehler genau fixiert («Fehlerkalkül»). Der Fehlerkalkül enthält einen Spielraum, in dessen Rahmen Fehler keine Abänderungs bzw. Beseitigungspflicht nach sich ziehen.
[37]
Fehlerhafte Rechtsakte werden in der Regel im Wege des Zeitablaufs (etwa Verstreichenlassen einer Rechtsmittelfrist, Durchlaufen des Kontroll(instanzen)zugs) auch dann (relativ) fixiert (rechtskräftig), wenn sie mit Fehlern behaftet sind. Nur ganz gravierende Mängel führen zur absoluten Nichtigkeit, das heißt zu einem gar nicht in rechtlicher Geltung getretenen Akt. Abgesehen davon bleibt ein Rechtsakt, der im Instanzenzug nicht geändert bzw. vernichtet wird, insoweit bestehen. Dieses Konzept dient sichtlich der Rechtssicherheit, indem Rechtsakte trotz Fehlerhaftigkeit nicht beiseite geschoben werden können. Auch rechtswidrige, aber rechtskräftige Entscheidungen sind zu befolgen. Eine gewisse Relativierung besteht darin, dass rechtskräftige Akte den Status quo im allgemeinen nur relativ versteinern: Ändern sich die Sach oder die Rechtslage grundlegend, eröffnet dies in der Regel einen Weg für eine neuerliche Entscheidung.

2.1.11.

Zeitablauf ^

[38]
Von vergleichbaren Überlegungen getragen sind rechtliche Regelungen (Rechtsinstitute), bei denen (unter gewissen Voraussetzungen) Rechtspositionen durch Zeitablauf entstehen oder verschwinden (Ersitzung, Verjährung, udgl.). Auch generelle Normen können – sofern in einer Rechtsordnung als Rechtsquelle vorgesehen – durch Zeitablauf als Gewohnheitsrecht entstehen. Ferner können in gesetzlichen Regelungen sich im Lauf der Zeit ergebende faktische Veränderungen durch flexible Textierungen eingefangen werden. Dazu dienen unbestimmte Rechtsbegriffe, das die Einräumung von Entscheidungsspielräumen (Ermessen), oder das Abstellen auf eine «Verkehrssitte». Die Textflexibilität ermöglicht Entscheidungsflexibilität. Weiterentwicklungen faktischer Verhältnisse im Lauf der Zeit, die auf die «Feinsteuerungsebene» durchschlagen können, verlangen damit keine Änderung des Normtextes. Freilich stellt sich hier das Problem, dass die Bindung an das Gesetz durch «Auslegungsakrobatik»22 konterkariert werden kann. Einen gewissen Schutz gegen völlig überraschende Auslegungsergebnisse bieten diesbezüglich die beschriebenen Mechanismen von Prozeduralisierung und Traditionalisierung.

2.1.12.

Plausibilität und Schlüssigkeit ^

[39]
Juristische Argumentations und Denkprogramme tragen Unschärfen bei rechtlichen Beurteilungen und Entscheidungen schon dadurch Rechnung, dass an das Kriterium für «juristische Wahrheit» – wann eine Interpretation von Rechtsnormen bzw. eine damit korrespondierende Beurteilung von Sachverhalten als zutreffend bzw. richtig erachtet wird — keine zu weitgehenden Anforderungen gestellt werden. Für den Bereich der juristischen Auslegung von Rechtstexten fehlt eine mathematische Beweismethode, ferner lassen sich (wie erwähnt) Sachverhalte zum Entscheidungszeitpunkt weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft mit letzter Sicherheit beurteilen23 .
[40]
Die Reduktion des Anforderungsprofils liegt in der Fokussierung auf die Überzeugungskraft der Beurteilung im Sinn der Plausibilität einer Auslegung bzw. der Schlüssigkeit von Sachverhaltsfeststellungen. Auch diesbezüglich stabilisieren die Konzepte der Prozeduralisierung bzw. Traditionalisierung. Letztere ist vor allem für die Auslegung von Rechtsnormen relevant. Von einer bisher eingeschlagenen Auslegung wird in aller Regel eben nur abgegangen, wenn bessere (nicht lediglich: gleichgute) Argumente für eine neue Interpretation von Rechtsvorschriften sprechen. Bezüglich des entscheidungsrelevanten Sachverhalts ist vor allem das Konzept der Prozeduralisierung einschlägig: Die Beteiligung der betroffenen Parteien am Ermittlungsverfahren soll Ermittlungsfehler minimieren24 .

2.1.13.

Diskurs und Transparenz ^

[41]
Damit rücken zwei fundamentale Konzepte in den Blick, die für praktisch jedes juristische Geschehen Unsicherheiten und Unklarheiten in rechtlicher und faktischer Hinsicht hintanhalten sollen: Der Grundsatz, dass rechtliche Beurteilungen auf dem Diskurs aller Betroffenen aufbauen, und der damit korrespondierende Grundsatz, dass juristische Entscheidungen begründet werden müssen. In dieselbe Richtung geht das Prinzip, behördliche Entscheidungen durch (partei-)öffentliche und mündliche Verhandlungen vorzubereiten25 .
[42]
Im Verfahren lassen sich die vom Standpunkt der Beteiligten einschlägigen (teils gegenläufigen) Argumentationen entfalten, die die verschiedenen Aspekte eines Individualfalles ausleuchten lassen. Damit korrespondiert die Verpflichtung zur Begründung behördlicher Entscheidungen. Die mit der Begründung geschaffene Transparenz ist Voraussetzung dafür, dass die Entscheidung akzeptiert und kritisiert werden kann. Letzteres ist wiederum ein maßgebliches Element der unschärfebegegnenden Prozeduralisierung. Der Begründungszwang folgt einem erweiterten Konzept der Publizität: Bei Individualentscheidungen wird nicht nur die Rechtsnorm kundgemacht, sondern auch die der Entscheidung zu Grunde liegende Argumentation veröffentlicht. Konkretisiert werden beide Gesichtspunkte im Grundsatz eines «ordnungsgemäßen» bzw. «rechtsstaatlichen» Verfahren. Bei der Produktion von juristischen Entscheidungen im Einzelfall orientiert sich der argumentative Diskurs insbesondere am Standard, den die juristische Methodologie (mit Hilfe der gebräuchlichen Gesichtspunkte für die Auslegung) musterartig vorgibt.
[43]
Für den Bereich der Gesetzgebung wird dem Diskurs und Begründungserfordernis nicht nur durch die parlamentarischen Beratungen, sondern zumeist auch im Wege eines Begutachtungsverfahrens Rechnung getragen, das die betroffenen bzw. interessierten Institutionen und Kreise einbindet und die maßgeblichen Entscheidungsaspekte aufbereiten lässt.

2.1.14.

«Self-restraint» ^

[44]
Gerade bei Auseinandersetzungen zwischen rechtserzeugenden Organen (insbesondere Parlamenten und Gerichten) zeigt sich, dass das Bemühen, das Verhalten auf die jeweilige Rolle zu konzentrieren und die gegenbeteiligte Rolle zu akzeptieren, Konfliktlösungen erleichtern kann. Das verdichtet in der Regel auch die Kapazität zur Problemanalyse, was wiederum Problemlösungen tendentiell begünstigt.

2.1.15.

Mehrstufigkeit und Inklusion ^

[45]
Die Mehrschichtigkeit der Rechtsordnung steht zur Unschärfe des Rechts in einem ambiguitären Verhältnis. Einerseits können Unklarheiten und Unsicherheiten des Rechtsverständnisses auf der Ebene hierarchisch nachgeordneter Rechtsschichten mithilfe der vorgeordneten Schichten bereinigt werden. So kann eine verfassungskonforme Auslegung den Sinn einer mehrdeutigen gesetzlichen Regelung präzisieren. Andererseits erweitert Mehrschichtigkeit in der Regel den Argumentations- und Interpretationsspielraum ganz erheblich, wobei Unschärfen und Unklarheiten überhaupt erst generiert werden können. Eine verfassungsrechtliche Vorgabe mag zu einem «berichtigenden» Verständnis eines Gesetzes verleiten, das die üblichen Grenzen der Interpretation transzendiert, sich insofern außerhalb des juristischen Diskurses stellt und dadurch letztlich Unsicherheiten schafft26 . Die Zusammenschau des in sich mehrschichtigen Unionsrechts mit nationalen Rechtsvorschriften verlangt von der Rechtsanwendung – die die Rechtslage nicht mehr einfach dem ordnungsgemäß kundgemachten innerstaatlichen Recht entnehmen kann – die Kreation von mitunter komplizierten Konstruktionen, um zu einem Entscheidungsmaßstab zu gelangen, der den Vorgaben beider Rechtsordnungen entspricht27 .
[46]

Der Weg der Inklusion wird beschritten, wenn in Rechtsnormen an außerrechtliche Standards angeknüpft wird. Das kann insbesondere durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe oder durch ausdrücklichen Verweis auf eine «Verkehrssitte» (oder Vergleichbares) erfolgen. Inklusion führt damit zu einer gewissen Flexibilisierung des Norminhaltes, die (wie erwähnt) die Norm ohne Änderung ihres Textes für geänderte Verhältnisse anwendbar macht.

[47]

Eine besondere Art von Inklusion stellen die Grundrechte dar28 . Sie repräsentieren rechtliche Positionen, in die andere Rechtsvorschriften nicht oder – nach dem grundrechtseigenen Gesetzesvorbehalt29 – nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen eingreifen dürfen. Ihrem Inhalt nach sind sie Grundwerte, an denen sich die Rechtsordnung insgesamt ausrichtet. Entwickelt wurden sie wesentlich im Bereich der politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie30 . Sie erlauben es, individuelle Rechtspersönlichkeit vor und gegen den Staat (die souveräne öffentliche Gewalt) in Anschlag zu bringen. Mit der Übernahme in das Völkerrecht und das nationale (Verfassungs-) Recht wurden damit (als «präpositive Strukturelemente»31 ) Grundsatzpositionen in die Rechtsordnungen inkorporiert, die insbesondere auch die Ebene von existentieller Sinngebung für die Sozietät und ihre Mitglieder betreffen32 . Die letztlich rechtsdogmatisch durch die gerichtliche Anwendungspraxis und die Rechtswissenschaft entfaltete Inklusion relativiert den (auf rechtstheoretischer Ebene pointierten) Gegensatz zwischen positivem Recht und Naturrecht. Außerdem ermöglicht die Grundrechtsschicht dem Recht einen inhaltlichen Austausch mit anderen normativen Ordnungen mit vergleichbarem Anspruch (etwa der Ethik), was Spannungen zwischen Rechtsordnung und den daran angelegten außerrechtlichen Maßstäben und sich daraus ergebende Unsicherheiten entgegenwirken kann. Die rechtspraktische Entfaltung der Grundrechte ist im Übrigen ihrerseits wiederum durch mannigfaltige Inklusionen von normativen Konstruktionen charakterisiert. Dafür zwei Beispiele: Der für die Operationalisierung der Grundrechte zentrale Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stammt aus einem anderen Bereich des öffentlichen Rechts, nämlich dem (Sicherheits-)Polizeirecht. Wenn dem allgemeinen Gleichheitssatz gerichtlich auch die Dimension der «Sachgerechtigkeit» zugeschrieben wird, wird eine Denkfigur aus der «Natur der Sache»33 ins positive Recht verortet, die sich einer konkreten Positivierung entziehen dürfte.

2.1.16.

Institutionalisierung ^

[48]
Konzepte und Strategien gegen Unschärfe verlangen, um erfolgreich sein zu können, institutionelle Realien wie Personal, entsprechende Organisation und Sachausstattung34 . Zwischen den praktisch-normativen Konzepten und Strategien und den Realien besteht ein Wirkzusammenhang: Fehlen letztere oder sind sie ungenügend, laufen erstere leer.

3.

Konventionalismus und Theoriedefizit ^

[49]

Die Darstellung zeigt, dass sich mit der Perspektive der Funktionslogik gegen die Unschärfe das rechtliche Geschehen weitgehend erfassen lässt. Man mag versucht sein, sie als bloß konventionell abzutun, im Sinn von unoriginell und bar jener theoretischen Attraktivität, die üblicherweise zu scharfen Stellungnahmen Anlass und für Kontroversen Nahrung bietet. In der Tat ist sie praxisrekonstruktiv und bewegt sich insofern auf bekannten Bahnen. Sie hat allerdings den Vorzug, eine Funktionslogik abzubilden, der unsere Rechtssysteme weitgehend folgen. Ihre Attraktivität liegt insofern in ihrem hohen Erklärungswert und damit in ihrer Utilität.

[50]
Die Bedeutung dieser Funktionslogik greift aber weiter, als ihre Elemente – ungeachtet ihrer Umsetzung im zeitgenössischen positiven Recht – ganz allgemein eine maßgebliche Grundlage für das Vertrauen in ein effektives und effizientes Rechtssystem auf der Basis der Grundrechte darstellen. Sie erlauben rationale Formen des empirischen und logischen Beweises, der auf Überzeugung angelegten Argumentation und der Erkenntnis durch Untersuchung und Erkundung35 .
[51]

Juristisches Geschehen dabei ist argumentativ36 : Es sind jeweils Gründe, d.h. Argumente, die eine rechtliche Beurteilung erzielen bzw. einen bestimmten Sachverhalt annehmen lassen. Der damit einhergehenden Offenheit für Unschärfe und Unklarheiten wird im juristischen Bereich gerade mit der Strukturierung des Argumentationsgeschehens (etwa Prozeduralisierung und Traditionalisierung) begegnet. Die Alternative zur juristischen Argumentation wäre Dezision ohne Rechtfertigungszwang37 .

[52]
Ein rechtstheoretisches Modell, dass sich reduktiv auf bestimmte Einsichten in die Struktur von Rechtsordnungen zurückzieht, vermag gewiss einen Beitrag zur Erklärung des rechtlichen Geschehens zu leisten. Werden aber bestimmte Bereiche (etwa die Denkvorgänge zur Erzielung einer juristischen Entscheidung im Einzelfall) ausgehend von einem wissenschaftstheoretischen Vorverständnis ausgeblendet, wird damit nicht nur der praktische Gebrauchswert, sondern der Erklärungswert des Modells auf theoretischer Ebene limitiert.
[53]
Die Verortung der Beschränkung in einem wissenschaftstheoretischen Konzept lässt dieses Konzept selbst fragwürdig erscheinen, wird doch damit der rationalen, analysierenden und systematisierenden Beschreibung eine Absage erteilt, die es braucht, um das gleichermaßen komplexe und komplizierte Geschehen bei der Normproduktion insgesamt – auf den Linien der Funktionslogik – zu erfassen. Einen derart beschränkten Ansatz erhält man für das Recht etwa dann, wenn man ihn im Rahmen der Denkansätze aus Kants Kritik der reinen Vernunft hält, die Kantsche Kritik der praktischen Vernunft oder seine Metaphysik der Sitten aber – entgegen der praxisbezogenen Eigenart des Rechts – im Wesentlichen ausblendet. Wesentlichen Aspekten der Rechtsanwendung wird die Eignung abgesprochen, Gegenstand von rechtswissenschaftlicher Erkenntnis sein zu können38 . Die wissenschaftliche Beschreibung dieser Vorgänge ist aber insofern rechtswissenschaftlicher (und damit weder lediglich soziologischer noch lediglich psychologischer) Provenienz, als es um die argumentative Erzeugung von Rechtsnormen und ihren Normtexten auf dem Boden der jeweiligen rechtlichen Vorgaben geht. Ein dem nicht gerecht werdendes limitiertes Modell erlaubt weder in rechtspraktischer noch in rechtstheoretischer Hinsicht eine Erklärung des Erkenntnisobjektes Rechts.



Meinrad V. Handstanger, Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes, Honorarprofessor an der Universität Innsbruck, Judenplatz 11, 1014 Wien,meinrad.handstanger@vwgh.gv.at

Dieser Beitrag wurde bei IRIS 2010 – dem 13. Internationalen Rechtsinformatik Symposium in Salzburg im Februar 2010 – in verkürzter Form präsentiert. Damit ist er dafür prädestiniert, dem Jubilar – eine für IRIS zentrale Persönlichkeit – gewidmet zu werden.


  1. 1 Vgl dazu RÜTHERS, B./FISCHER, Ch., Rechtstheorie5, München 2010, Rz 640 ff.
  2. 2 Dies gilt für alle Perspektiven, aus denen Rechtsnormen betrachtet werden können (Teilnehmerperspektive, Gesetzgeberperspektive, Beobachterperspektive, vgl KOLLER, P., Theorie des Rechts, Wien 19972, 47 ff.
  3. 3 Pointiert KELSEN, H., Reine Rechtslehre1, 1934, 112 (zitiert nach der von JESTAEDT, M., herausgegebenen Studienausgabe, Tübingen 2008).
  4. 4 Vgl. LUHMANN, N. Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt aM 1993, 307 ff.
  5. 5 Dies gilt wohl für jede Rechtsordnung, bei der die Setzung aller Normen nicht bei einer Stelle konzentriert ist, welche anlässlich der Entscheidung eines individuellen Falls auch das generelle Recht für den Einzelfall abändern könnte.
  6. 6 Zum philosophischen Kontingenzbegriff vgl. SCHISCHKOFF, G., Philosophisches Wörterbuch22, Stuttgart 1991, 393.
  7. 7 Sowohl auf der Ebene der Rechtsnormen als auch der Faktenebene.
  8. 8 Vgl. LUHMANN, N., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt aM 1993, 297 ff, insbesondere 328 ff.
  9. 9 Das Konzept der gleichmäßigen Anwendung stellt wohl seit jeher ein zentrales (wenn nicht das zentrale) proprium rechtlicher Normensysteme dar. Die neuere, wesentlich auf das Zeitalter Aufklärung zurückgehende Errungenschaft besteht darin, dass für alle «Normunterworfene» gleiche Rechtsinhalte – d.h. nur eine Rechtsordnung – existiert und insofern Rechtsgleichheit herrscht.
  10. 10 S. etwa ALEXY, R., Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL Bd 61, Berlin 2002, 7, 22.
  11. 11 Angesichts der grundsätzlich immer offenen Möglichkeit des noch besseren Arguments besteht für ein Auslegungsergebnis stets die Möglichkeit der Falsifikation.
  12. 12 Dieser Imperativ erfasst die Rechtsanwendung in doppelter Hinsicht: Zum Einen geht es darum, das bessere Argument zu suchen. Zum Anderen wird verlangt, dem besseren Argument zu folgen; diese Beachtungsverpflichtung ergibt sich aus dem «zwanglosen Zwang», den die bessere Argumentation an Überzeugungskraft entfaltet (insofern besteht eine gewisse gegenseitige Anschlussfähigkeit zwischen der hier rekonstruierten Rechtsanwendungspraxis und der Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas (vgl. HABERMAS, J., Faktizität und Geltung4, Frankfurt aM 1994, insbesondere 238 ff.
  13. 13 S. in diese Richtung AUGSBERG, I., Die Lesbarkeit des Rechts, Göttingen 2009, insbesondere 173 ff.
  14. 14 So gesehen ist dem hermeneutischen Imperativ ein «pragmatischer Imperativ» übergeordnet.
  15. 15 Für die Weiterentwicklung der Entscheidungsstandards erweist sich im Übrigen eine kritische Stellungnahme zu behördlichen Entscheidungen wohl als fruchtbarer als eine bloß affirmative Nachzeichnung.
  16. 16 Rechtsdogmatisches Denken beginnt mit einem Vergleichsfall, vgl LEGE, J., Was Juristen wirklich tun, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt aM 2008, 207, 224; Rechtsdogmatik wird damit von Lehre und Rechtsprechung gleichermaßen betrieben.
  17. 17 Diese regulative Idee korrespondiert in gewisser Weise mit der regulativen Idee der oben behandelten einzig richtigen Fallentscheidung.
  18. 18 Habermas, Jürgen, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt aM 1985.
  19. 19 Ähnlich wie bei den juristischen Interpretationsmethoden werden sich diese Methoden bzw. Modelle der Zusammenschau nicht zur Gänze gesetzgeberisch determinieren lassen.
  20. 20 Allerdings verlangen solche Fassadenbegründungen eine oft eingehende Auseinandersetzung mit der komplexen Faktenlage (einschließlich der Beurteilung betreffend das Vorliegen der einzelnen Fakten [Beweiswürdigung]).
  21. 21 Vgl. KOLLER, P., Theorie des Rechts2, Wien 1997, 103, unter Hinweis auf A.J.Merkl.
  22. 22 RÜTHERS, B., Geleugneter Rechtsstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 2005, 2759.
  23. 23 Juristisches Denken arbeitet diesbezüglich daher weitgehend mit enthymemischen Schlüssen, in deren Rahmen die Untersätze nicht wahr, sondern bloß plausibel sind; vgl. ARISTOTELES, Rhetorica 1356b.
  24. 24 Diese Konzeption lässt insgesamt erkennen, dass es für die verfahrensmäßige Festlegung des juristisch «Wahren» einer entscheidenden Instanz bedarf, die alle Ebenen ihren jeweiligen Plausibilitätskonzepten entsprechend auswertet und in der Entscheidung «zusammenspielt». Diese verdichtete Abhängigkeit von einer rechtsprechenden Instanz findet eine gewisse Ausbalancierung aber darin, dass Entscheidungen routinemäßig der Kritik der rechtwissenschaftlichen – in den Fall nicht involvierten – Lehre ausgesetzt werden; so gesehen besteht ein gewisser dialektischer Dualismus der zwei Instanzen Rechtssprechung und Lehre.
  25. 25 Zur Diskurstheorie des Rechts vgl. (überblicksartig) etwa NIESEN, P. /EBERL, O., Demokratischer Positivismus: Habermas / Maus, in: Buckel, S. /Christensen, R. /Fischer-Lescano, A., Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, 3 ff; HILGENDORF, E., Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt aM 2008, 111; RÜTHERS, B.,/FISCHER, Ch., Rechtstheorie5, München 2010, Rz 586 ff.
  26. 26 HANDSTANGER, M., Zur Verfassungskonformität der verfassungskonformen Auslegung, in: Brünner u.a. (Hrsg), FS Manfred Prisching, Wien/Graz 2010, 969.
  27. 27 Vgl. jüngst VwGH 30.9.2010, 2009/03/0051, 0055; VwGH 16.9.2010, 2010/12/0126; VwGH 13.10.2010, 2010/12/0169.
  28. 28 Zur moralischen Begründung von Grundrechten vgl. FORST, R., Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt aM 2007; vgl. ferner Günther, K., Liberale und diskurstheoretische Deutung der Menschenrechte, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt aM 2008, 338, 347 ff.
  29. 29 Auf die Differenzierung zwischen Grundrechten mit Eingriffsvorbehalt und Grundrechten mit Ausgestaltungsvorbehalt kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu etwa ÖHLINGER, Th., Verfassungsrecht8, Wien 2009, Rz 710 ff, 902 ff.
  30. 30 Einen maßgeblichen Theoriestrang bildete etwa das Naturrecht, vgl. dazu und zum Folgenden MENKE, Ch./POLLMANN, A., Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007, 98 ff.
  31. 31 MARCIC, R., Der unbedingte Rechtswert des Menschen, in: FS Eric Voegelin, 1962, 360, 368.
  32. 32 Diese werden zT als universell (interkulturell) gültig angesetzt, vgl. etwa (unter Hinweis auf den Konfuzianismus) HÖFFE, O., Prinzip Menschenwürde, in: ders., Medizin ohne Ethik?, 2002, 58ff.
  33. 33 Vgl einführend KAUFMANN, A., Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 20047, 85.
  34. 34 Vgl WEINBERGER, O., Norm und Institution, Wien 1988, insbesondere 27 ff.
  35. 35 Vgl FOUCAULT, M., Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt aM 2003, 52 ff.
  36. 36 DWORKIN, R., Law’s Empire, Cambridge/M 1986, 13: «Legal practice, unlike many other social phenomena, isargumentative
  37. 37 NEUMANN, U., Theorie der juristischen Argumentation, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt aM 2008, 233, 260.
  38. 38 Auch für den Bereich des Juristischen gilt hier in einem übertragenen Sinn: «Der Gegensatz zu Komplexität ist aggressive Vereinfachung, nicht schlechthin Einfachheit. Der Preis für Vereinfachung ist Gewalt.» Vgl. HACKER, F., Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt, Wien 1971, 16.