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Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Q-Justice 2011
  • Citation: Lothar Philipps, Iustitia distributiva – ein Fall für die Experimentalphilosophie, in: Jusletter IT 29 June 2011
Lassen sich Fragen der Moral durch die Anwendung des Gesetzes der Großen Zahlen klären? Oder birgt der Versuch den Populismus (Referendum) in die praktische (Rechts-) Philosophie durch das Etikett des Empirismus einzuführen auch Gefahren? Und wo liegen die Grenzen und Möglichkeiten empirischer Ansätze in der Philosophie; oder anders gesagt, können tausende Ameisen und Schwärme von Fischen und Menschen sich nicht auch täuschen und was sagt dieses Bestreben letztlich über die Fristigkeit und Modeerscheinung von moralischen Grundsätzen aus?

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Was ist Experimentalphilosophie?
  • 2. Fragen zur iustistia distributiva
  • 3. Gerechte Antworten?

1.

Was ist Experimentalphilosophie? ^

[1]
Experimentalphilosophie ist ein sehr junger Versuch, auf philosophische Fragen intersubjektiv gültige Antworten zu finden, und zwar mit einer neuartigen Methode.1 Man legt die Fragen sehr vielen Menschen vor, aus sehr vielen Völkern, Kulturen, Religionen, Schichten und Berufen. Dies beruht auf der Erwartung, dass es Fragen gebe, die von Menschen aus den verschiedensten Kulturen in übereinstimmender Weise beantwortet werden, weil es hier um Denkweisen, Werte und Normen geht, die der menschlichen Natur innewohnen und invariant gegenüber der Kultur sind, man könnte sagen: um Inseln der Vernunft.
[2]
Ein paar Anmerkungen zu dieser Beschreibung:
  1. «Sehr viele Menschen» bedeutet in der Tat:sehr viele . Als der Bioanthropologe Marc Hauser sein Buch «Moral Minds» veröffentlichte, hatten an seinem Projekt über moralische Entscheidungen bereits 200.000 Menschen teilgenommen. Dieses Projekt sei hier für experimental philosophy als Beispiel angeführt.2
  2. «... aus den verschiedensten Kulturen». Die Fragebögen, die die Teilnehmer beantwortet hatten, wurden außer auf Englisch auch auf Arabisch, Chinesisch, Hebräisch, Indonesisch und Spanisch angeboten; soviel zu den «verschiedenen Kulturen». Wie sich die Antworten auf die verschiedene Sprachen und Länder verteilen, gibt Hauser leider nicht an.
  3. «Eine neuartige Methode». Bis vor kurzem hätte man sich weltumspannende Projekte dieser Art gar nicht vorstellen können; im Internet lassen sie sich mit verhältnismäßig geringem Aufwand realisieren.
  4. «Philosophische Fragen». In Hausers Projekt geht es um Notstandssituationen, wie sie schon von dem griechischen Philosophen Karneades überliefert sind. Feine Unterscheidungen zwischen ihnen werden von Laien überraschend leicht und klar erkannt; davon habe ich mich in einer Reihe von Gesprächen überzeugt.
  5. «Kulturunabhängige, invariante Werte und Normen». Wenn sich herausstellt, dass es dergleichen gibt, könnte das von ganz erheblicher Bedeutung sein. Man bedenke, wie fundamental die Trennung von verifizierbaren Fakten und nur diskutierbaren Werten in den Wissenschaften ist.
  6. «Sehr jung» ist experimental philosophy in der Tat. Ein bedeutender Experimentalphilosoph avant la lettre war aber Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der seine Studenten in Gemäldegalerien und Bibliotheken geschickt hat, um Bilderrahmen und Bucheinbände auszumessen, mit dem Ergebnis: solche Rechtecke tendieren stark zum Maßverhältnis des Goldenen Schnitts.
  7. Das Konzept der Experimentalphilosophie mag auf Kontinentaleuropäer dreist wirken; das kann ich nachempfinden, halte es aber nicht für stichhaltig. Ein Wissenschaftler sollte bereit sein, etwas zu wagen. Allerdings: Die Menschen, von deren Meinungsäußerungen das Konzept lebt, sollten kein Risiko eingehen müssen! Sie werden von Hausers Arbeitsgruppe beispielsweise nach ihrer Religion gefragt und danach, wie stark ihr Glaube sei. Solche Fragen sind sachgerecht. Aber kann man beispielsweise einem Moslem raten, sie ehrlich zu beantworten? Hausers Gruppe sichert den Teilnehmern Anonymität zu. Aber ist sie überhaupt in der Lage, solche Anonymität zu gewährleisten? Zumindest die amerikanische Homeland Security hat da doch wohl ein Wörtchen mitzureden. Fragen des Datenschutzes wird man auch in diesem Zusammenhang durchdenken müssen.

2.

Fragen zur iustistia distributiva ^

[3]
Natürlich kann hier und jetzt kein experimentalphilosophisches Projekt gestartet werden. Es gibt aber einen Fragenkomplex, bei dem ich testen möchte, ob gleiche Antworten zu erwarten wenigstens aussichtsreich ist.

(1) Das Konservatorium einer kleinen Stadt veranstaltet einen Klavierwettbewerb, und ein musikbegeisterter Bürger hat 5'000 Euro gestiftet, für den ersten und den zweiten Preisträger. Wie wird man das Geld gerecht auf die beiden Preise aufteilen?

Auf jeden Fall wird man glatte Beträge wählen, am ehesten wohl runde Tausender; ein Preisgeld in Höhe von beispielsweise 2'735 Euro würde sonderbar wirken. Dies vorausgesetzt, gibt es zwei Aufteilungen, die den Rangunterschied der Preise zur Geltung bringen:

4 zu 1
3 zu 2

Ich vermute, dass man sich für 3–2 entscheiden wird. Ob das zutrifft, darüber möge sich der Leser selber ein Urteil bilden, und er möge nun versuchen, in ein paar einfachen Gedanken- und Wertungsexperimenten, durch die der Ausgangsfall fortgesponnen wird, eine Entscheidung zu treffen.

(2) Als Nächstes sei angenommen, ein zweiter Bürger jener kleinen Stadt habe für eine Verdopplung der Summe auf 10'000 Euro gesorgt; die Veranstalter sind sich darüber einig, dass das Geld nunmehr auf drei Preisträger aufzuteilen sei. Mathematisch gesehen sind 4 Aufteilungen (mathematisch: «Partitionen») möglich, die die Rangordnung zwischen drei Preisgeldern wahren. Ist eine von ihnen gerechter als die anderen? Wenn ja, welche ist die gerechteste?

7 – 2 – 1
6 – 3 – 1
5 – 4 – 1
5 – 3 – 2

(3) Die großzügigen Spenden zweier Bürger haben einen tiefen Eindruck hinterlassen. Das Konservatorium ruft nun zu weiteren Spenden auf, und die für Preisgelder zur Verfügung stehende Summe beläuft sich bald auf 16'000 Euro. Es gibt 14 Möglichkeiten, 16'000 Euro in rangwahrender Weise auf drei Preise zu verteilen. Wenn eine von ihnen gerechter ist als die anderen 13, welche?

13 – 2 – 1
12 – 3 – 1
11 – 4 – 1
11 – 3 – 2
10 – 5 – 1
10 – 4 – 2
9 – 6 – 1
9 – 5 – 2
9 – 4 – 3
8 – 7 – 1
8 – 6 – 2
8 – 5 – 3
7 – 6 – 3
7 – 5 – 4

(4) Ein weiterer Bürger legt noch 2'000 Euro hinzu, unter der Bedingung, dass die Anzahl der Preisträger auf vier erweitert werde. Das wird von den Veranstaltern akzeptiert. (Ein junger Mann, der an dem Wettbewerb teilnehmen will, ist ein Neffe des Spenders, und man munkelt, dass auf diese Weise seine Chancen, einen Preis zu gewinnen, verbessert werden sollen.) Es gibt 13 rangwahrende Möglichkeiten, 18'000 Euro auf vier Preisträger zu verteilen. Ist eine die gerechteste?

12 – 3 – 2 – 1
11 – 4 – 2 – 1
10 – 5 – 2 – 1
10 – 4 – 3 – 1
9 – 6 – 2 – 1
9 – 5 – 3 – 1
8 – 5 – 4 – 1
8 – 5 – 3 – 2
7 – 6 – 3 – 2
7 – 5 – 4 – 2
7 – 6 – 3 – 2
7 – 6 – 4 – 1
6 – 5 – 4 – 3

3.

Gerechte Antworten? ^

[4]
Ich habe diese vier Fragen an Teilnehmer des «Donnerstag-Seminars» gemailt, einer Münchner rechtsphilosophischen Diskussionsrunde, und gleich am nächsten Tag erhielt ich die Antwort, die ich erhofft und erwartet hatte:3

(1) Verteilung von 5(ooo) auf zwei Personen 3–2
(2) von 10 auf drei Personen 5–3–2
(3) von 16 auf drei Personen 8–5–3
(4) von 18 auf vier Personen 8–5–3–2
[5]
Was mich besonders freute: Der Einsender hatte die Zahlenfolgen durch reine Wertung gefunden, ohne zu erkennen, dass ihnen ein Algorithmus zugrundeliegt. Tatsächlich handelt es sich um Abschnitte aus der Reihe der Fibonacci-Zahlen, welche folgendermaßen beginnt:

0 – 1 – 1 – 2 – 3 – 5 – 8 – 13 – 21 ...
[6]
Das Konstruktionsprinzip der Reihe ist einfach: Eine Fibonacci-Zahl wird durch die Addition der beiden vorhergehenden Fibonacci-Zahlen gebildet.
[7]
Ist es nicht seltsam, dass die als gerecht empfundenen Aufteilungen sich aus dieser Zahlenreihe ergeben? Nicht gar so sehr, wenn man weiß, dass Fibonacci-Zahlen die ganzzahligen Schwestern des Goldenen Schnitts sind, bei dem sich ein Kleineres zu einem Größeren so verhält, wie das Größere zum Ganzen. So ist beispielsweise 3 die kleinere Fibonacci-Zahl gegenüber der nächst größeren Fibonacci-Zahl 5, und eben dem entspricht wiederum das Verhältnis von 5 zum Ganzen, zu 3+5, also zur Fibonacci-Zahl 8. Gewiss, 3/5 und 5/8 gleichen einander nur in grober Annäherung (0,6 und 0,6259), doch werden die Annäherungen umso genauer, je höher man in der Skala steigt: Sie nähern sich, oszillierend, der Zahl 0,618033..., einer Irrationalzahl und einer der Ausdrucksformen des Goldenen Schnitts.
[8]
Fibonacci-Zahlen und Goldener Schnitt spielen eine große Rolle in Architektur und bildender Kunst, ebenso in der Naturwissenschaft.4 Wie es kommt, dass man diese Maßverhältnisse als schön und richtig empfindet, darüber gibt es eine immense Literatur, die aber das Rätsel nicht völlig löst. Besonders rätselhaft scheint mir freilich, dass die Fibonacci-Zahlen und der Goldene Schnitt in der Rechtsphilosophie bislang nicht aufgetreten sind.5 Von der Platonischen Dreiheit der Guten, Wahren und Schönen her interpretiert, ist hier eine Stelle offengeblieben. Das wird auch noch eine Weile so bleiben, denn Maß wird in unserer Kultur nur noch als Ergebnis von Messungen verstanden und nicht mehr als Eigenwert.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de


  1. 1 Experimental Philosophy, Ed. Joshua Knobe & Shaun Nichols, 2008 (Oxford University Press); Kwame Anthony Appiah, Experiments in Ethics, 2008 (Harvard University Press).
  2. 2 Marc D. Hauser,Moral Minds, How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong. New York 2006 (Harper Collins). Die von Hausers Arbeitsgruppe gestellten Fragen findet man im Internet untermoral.wjh.harvard.edu .

  3. 3 Dr. Marc Teller, der Einsender, ist in der Bayerischen Versicherungskammer tätig und von daher wohl in der Lage, einer Zahlenfolge mit größerem Mut gegenüberzutreten als die meisten Juristen. Er vertritt trotz aller Übereinstimmung eine andere Theorie als die von mir angedeutete. «Eigentlich finde ich die Idee, experimentell und statistisch Antworten auf philosophische und moralische Fragen zu finden, gut. Ich glaube aber nicht, dass man so tatsächlich einen genetisch verankerten, nicht kulturellen Kern finden kann. Allein schon die Kommunikationsmethode, das Internet, beruht auf einer immensen Infrastruktur, die ein ganz wesentlicher Teil der Kultur ist. Die Tatsache, dass ein großer Teil der Menschheit in der Lage ist, per Internet zu kommunizieren, zeigt, dass wir eine Weltkultur haben, die auf der ganzen Welt Technik, Infrastruktur und Lebensbedingungen vereinheitlicht. Und sicherlich auch die Werte der Menschen beeinflusst. Auch wenn alle Teilnehmer eines solchen Experimentes ähnlich antworten sollten, beweist dies nicht, dass die Antworten nicht kulturell beeinflusst sind.» Ich finde diesen Einwand beeindruckend, zumal da ich mich noch gut an die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre erinnere, als viele Europäer überzeugt waren, dass nichtabendländische Völker ein prekäres Verhältnis zur Technik hätten. In einer Erzählung von Curzio Malaparte hatten die Russen die Schweiz erobert und Unmengen von Uhren erbeutet. Da diese Uhren aber nicht synchron liefen, war jeder Russe mit dem Phänomen der je eigenen Zeit konfrontiert, und die Sowjetunion brach zusammen. Ernst Jünger hatte eine Zeitungsnotiz gelesen, nach der die kriegführenden Japaner Ballons mit Brandbomben dem Wind anvertrauten, der in Richtung USA wehte, in der Hoffnung, er werde dort Weizenfelder in Brand setzen. Jünger schloss daraus auf eine grundsätzlich andere Einstellung der Asiaten zur Technik. Natürlich war das damals Ideologie, aber diese Ideologie hat Glauben erwecken können; heute wirkt sie nur noch grotesk. Was mich daran hindert, Marc Tellers Gedanken zu übernehmen, sind einige gute Gründe dafür, dass die Zahlenfolgen im Text archetypische Strukturen ausdrücken.

    RA Georg Jakob, ein anderer Einsender, beruft sich auf Rawls und das Maximin-Prinzip: Man wähle diejenige Verteilung, bei der der Empfänger des niedrigsten Preisgeldes am besten abschneidet. Das Maximin-Prinzip ist zwar für Situationen des Handelns unter Ungewissheit erfunden worden, aber warum sollte es nicht auch bei anderen Gelegenheiten passen? Immerhin decken sich Jakobs Resultate in den ersten beiden der vier Fälle mit denen des von mir verwendeten Fibonacci-Algorithmus. Für den vierten Fall gibt Herr Jakob sein Prinzip selbst auf, weil er der Ansicht ist, dass die Höhe der Preisgelder nicht kontinuierlich absinken dürfe, sondern gelegentlich – zuerst nach dem Spitzenplatz – ein größerer Sprung abwärts erfolgen müsse. Da hat er auch völlig recht. Wenn man den Fibonacci-Algorithmus anwendet, sieht man sofort, dass mit zunehmender Anzahl der Preisgelder immer wieder neue Sprünge abwärts erfolgen und die schon vorhandenen sich vergrößern.

    Herzlichen Dank auch an Dr. Joachim Eiden, der mir eine Liste der für 2008 vorgesehenn Literaturpreise zugemailt hat. Von 26 Ausschreibungen enthalten 12 eine Fibonacci-Trias für die ersten drei Preise. (Eine solche Trias ist «50 – 100 – 150» ebenso wie «100 – 200 – 300»; es kommt auf die Proportionen an.) Eine völlig fibonaccifremde Trias gibt es in der Liste nur einmal: 1750 – 1000 – 250 («Irseer Pegasus»).
  4. 4 Vgl. dazu Ian Stewart, Die Zahlen der Natur – Mathematik als Fenster zur Welt (Nature’s Numbers), 2001 (Spektrum Akademischer Verlag). Vgl. auch das unglaublich schöne Buch von Friedrich Cramer, Chaos und Ordnung – die komplexe Struktur des Lebendigen, 3. Aufl. 1989 (Deutsche Verlags-Anstalt).
  5. 5 Sofern ich von ein paar eigenen Versuchen absehe: Fibonacci und die distributive Gerechtigkeit, Festschrift für Nikolaos K. Androulakis, S. 545–553, Athen 2003 (Ant. N. Sakkoulas); Fibonacci y Kepler: La justicia como armonía y medida sin commensurabilidad, El derecho en red, Estudios en Homenaje al professor Mario G. Losano, Madrid 2006 (Dykinson, S.L.); Räuber und Gerechtigkeit, P.M. Magazin 04/2008 S.55. Das Auftreten von Fibonacci-Reihen in moralischen Wertungen ebenso wie in der Kunst und in der Natur erkläre ich mir dadurch, dass so in allen diesen Bereichen auf diese Weise ein gutes Arrangement von Spannungen hervorgerufen wird.