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Begründung der gerichtlichen Entscheidungen unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Slowenien

  • Category: Short Articles
  • Region: Slovenia
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: , Begründung der gerichtlichen Entscheidungen unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Slowenien, in: Jusletter IT 24 February 2011
Die Begründung einer gerichtlichen Entscheidung muss (müsste) immer wenigstens zwei Gesichter haben. Einerseits ist da die Überzeugung des Richters, dass er recht hat: Ein guter und verantwortungsvoller Richter überlegt und erwägt und sucht den Punkt, wo er und sein Gewissen beruhigt sind, dass er sich richtig entschieden hat. Das ist die sogenannte innere Begründung des Urteils, die nicht unbedingt auch nach außen wirken wird. Wenn jedoch der Richter diese innere Beruhigung und Begründung nicht hat, stellt sich die Frage, ob er überhaupt urteilen kann. Darüber muss jedermann mit sich selbst übereinkommen. Für die Parteien von größter Bedeutung ist die äußere Begründung, die in der schriftlichen Begründung des Urteils angeführt ist. In der äußeren Begründung soll es keine leeren Stellen und Flecke geben, also Stellen, die der Richter »rechtlich fühlt«, aber sie später nicht erklärt. Die Elemente der Rechtsentscheidung können nicht nur erkannt und aus dem Lebensfall und dem Gesetz rekonstruiert werden, diese Elemente müssen auch – manchmal mehr und manchmal weniger – (mit)geschaffen, als solche anerkannt und dann auch nach außen rechtlich begründet werden.
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Prozessnormen sagen zwar, was begründet werden soll, sie sagen jedoch nichts darüber aus, wie und mit welchen Argumenten begründet werden soll. Es handelt sich also nicht um eine kodifizierte »Technik« der Argumentation, sondern um eine Art der Begründung, die auf Kenntnissen, Erfahrungen, Tradition, anderen Umständen und insbesondere auf der Rechtskultur beruht, wobei die Letztere die »Technik« der Begründung sehr stark beeinflusst.1 In einer Vergleichsstudie, die sich mit der Begründung der Gesetzesauslegung (auf der Ebene der höchsten Gerichtshöfe) befasst, wurde beispielsweise festgestellt, dass die Begründungen des Urteils in drei Entscheidungen, die alle dieselbe Frage betrafen, von sehr unterschiedlicher Länge waren. In Frankreich umfasste die Begründung 300 Worte, in Deutschland 2000 Worte und in den Vereinigten Staaten 8000 Worte.2
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Die Vergleichsstudie, von der ich spreche, bezieht sich auf Begründungen in neun typischen Ländern (darunter beispielsweise in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten), der Gegenstand der Untersuchung waren jedoch nur die Auslegungsbegründungen der höchsten Gerichtshöfe. Dieser letzte Umstand macht es unmöglich, die Feststellungen zu verallgemeinern und sie auch auf niedrigere Gerichte zu erweitern. Trotzdem ist die Studie sehr interessant und legt offen, dass es zwischen den einzelnen Rechtssystemen große Unterschiede gibt. Das erste Extrem bildet der französische und das zweite der amerikanische Begründungsstil. Kurzgefasst kann man sagen, dass der französische Stil gar nicht auf das Auslegungsproblem eingeht und eine einzige mögliche Antwort sucht, mehr formelle als inhaltliche Gründe aufweist, keine wertende und schöpferische Rolle des Richters anerkennt, auf einer logisch-deduktiven Rationalität beruht, amtlich und autoritativ ist. Andererseits ist es für den amerikanischen Stil charakteristisch, dass er das Auslegungsproblem (das sogenannte alternative Lesen des Gesetzes) anerkennt, die Rationalität ist diskursiv und argumentativ offen, es gibt weniger formelle als inhaltliche Argumente, dem Richter (die männliche Form gilt durchgehend auch für das weibliche Geschlecht) erkennt er eine wertende und schöpferische Rolle zu, er ist argumentativ und dialogisch.3 Andere Systeme4 sind zwischen den beiden Extremen angeordnet, irgendwo in der Mitte befindet sich auch Deutschland, das bezüglich der Rechtskultur Slowenien am nächsten steht.5
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In der Fortsetzung möchte ich mich den Urteilsbegründungen der slowenischen Gerichte zuwenden. Über diese Problematik habe ich oft vor Zivil-, Verwaltungs- und Strafrechtsrichtern referiert.6 Für jeden Vortrag habe ich in ungefähr dreißig erstinstanzliche Urteile und in etwa zehn Urteile des Obersten Gerichtshofs der Republik Slowenien Einsicht genommen. Es handelt sich natürlich um keine statistisch relevante Stichprobe, trotzdem kann man durch diese Stichprobe aufdecken, wo die Begründungsprobleme liegen. Ich spreche meine möglichen kritischen Anmerkungen und Glossen nichtex cathedra aus, sie sind gut gemeint und beruhen auf meiner festen Überzeugung, dass Praxis und Theorie Diskussionspartner sein sollten. Meine Feststellungen können in den folgenden Glossen zusammengefasst werden:
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Die erste Glosse lautet: »Eine knappe (bündige), doch nicht nur ‚subsumierende‘ (mechanische) Begründung. Argumentation und nicht lediglich Behaupten .« In relativ einfachen (»leichten«) Fällen sollte man die Sachen nicht unnötigerweise komplizieren. In »leichten« Fällen genügt es, den Rechtsschutzanspruch und die Prozessunterlagen kurz darzustellen und anschließend, wieder kurz, zu begründen, wie man den Sachverhalt und den Tatbestand festgestellt (überprüft) hat, sowie die Rechtsfolge, für die man sich entschieden hat, zu erklären. Am wichtigsten ist es, dass die Begründung wie eine Argumentation klingt, die, obwohl sehr knapp, die Argumente für die Entscheidung anführt, und nicht lediglich wie ein Behaupten, das die Angelegenheit darstellt, aus der selbsttätig hervorgehen sollte, dass das und das passiert ist und dass dieser und dieser Paragraph diese und diese Rechtsentscheidung begründet.
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Die zweite Glosse sagt: »Reflektierende, doch nicht nur nacherzählende Begründung .« Einige Begründungen erzählen nur mehr oder weniger detailliert das ganze Verfahren nach, während sie einsilbig und schweigsam sind, wenn man die Argumente für die wichtigsten Entscheidungen (bezüglich der Tatsachen, der Rechtsnormen und der Rechtsfolge) anführen sollte. Manchmal entsteht der Eindruck, als ob die Quantität (seitenlanges Zusammenfassen und Nacherzählen des Verfahrens) selbsttätig in die Qualität überspringen und sie durch diesen gedachten »Sprung« begründen würde. Eine wahrscheinliche Ursache für derartige Begründungen liegt darin, dass manchmal der Zeitabstand zwischen dem Ende der Hauptverhandlung und dem Schreiben der Begründung so groß ist, dass der Richter schon ein wenig vergessen hat, was in der konkreten Angelegenheit passierte, und seine Erinnerung notwendigerweise etwas auffrischen muss. In Zivilsachen wäre es sicher gut, wenn die Richter wie ihre Kollegen im Strafrecht die Urteile in der Regel gleich nach dem Ende der Hauptverhandlung erließen und verkündeten.
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Die dritte Glosse betont: »Mitteilsame und überzeugende, doch nicht ‚episch‘ langweilige Begründung. « Diese Glosse ist eine sinngemäße Fortsetzung der vorherigen und will freundlich sagen, dass die Begründung nicht »in die Breite gezogen«, inhaltlich »trocken« und sprachlich »karg« sein sollte. Vom persönlichen Geschmack und noch mehr von der Schwierigkeit und Komplexität der Angelegenheit hängt es ab, ob die Begründung auch »mitteilsam« und umfangreich sein wird. Es gibt Angelegenheiten, die man einfach nicht auf eine kurze Weise beschreiben und begründen kann (beweislich anspruchsvolle, umfangreiche und zusammengesetzte Lebensfälle, wenig übersichtliche und schlecht systematisierte gesetzliche Regelung, »schwerere« Rechtsfiguren, Sachverhalte und Tatbestände mit neuen Nuancen, noch unausgetretene Rechtsprechung oder deren stufenweiser Ausbau und Änderung usw.). In diesen und ähnlichen Angelegenheiten sind die Richter verständlicherweise »mitteilsamer« und die Begründungen können auch sehr umfangreich ausfallen; in solchen Fällen besteht die Gefahr, dass der Anteil des Begründens vermindert wird und somit der Anteil der Beschreibung an Geltung gewinnt. Wenn die Begründung gut ist, ist das Verhältnis entweder umgekehrt oder wenigstens ausbalanciert.
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Die vierte Glosse rät: »Argumente und Gegenargumente. Anführung und Bewertung der Gründe, die von den Parteien und anderen am Verfahren teilnehmenden Personen angegeben werden. Anführung und Bewertung von Rechtsschutz-, Beschwerde- und Revisionsgründen .« Der Schwerpunkt liegt auf der Wortverbindung »Argumente und Gegenargumente«, weil die weiteren Ausführungen die Besonderheiten des Zivil-, Verwaltungsstreit- und Strafverfahrens und innerhalb dieser Verfahren noch die Gerichtsinstanz, in der das Verfahren verläuft, berücksichtigen müssen. Diese »Besonderheiten« und »Nuancen« muss ich leider vernachlässigen; der gemeinsame Nenner wäre es, dass man möglichst schnell zur Sache (in medias res! ) kommen sollte. Selbstverständlich soll man die Angelegenheit darstellen und sagen, was der Inhalt des Rechtsschutzanspruchs ist, was die Parteien anführen und wie das Beweisverfahren gelaufen ist (in den Angelegenheiten in der ersten Instanz), doch sollte man, falls irgendwie ausführbar, möglichst viel »Material« für die Argumentation und Begründung selbst aufsparen. Manches, was von Bedeutung ist, kann auch innerhalb der Pro- und Kontra-Argumentation gesagt und beschrieben werden. In manchen Urteilen des Obersten Gerichtshofs sind die Beschwerdegründe am Anfang nur angedeutet und anschließend in dem zentralen Begründungsteil entsprechend unter die Pro- und Kontragründe eingeflochten. Ich leugne nicht, dass mir diese Art der Begründung am nächsten steht. Sie ist sicher schwerer als die »beschreibende« Art, doch sie ist auch schöpferisch, und nachdem die Begründung geschrieben worden ist, ist die Zufriedenheit wesentlich größer als bei der »beschreibenden« Begründung. Das gilt für die Argumentation in jeder Instanz. Die Unterschiede liegen nur in Nuancen: In der ersten Instanz wird es etwas mehr Beschreibung geben (noch besonders dann, wenn es sich um strittige Aussagen und Beweise handelt, die man ermessen und bewerten und anschließend rechtlich dorthin, wohin sie gehören, stellen muss), und in den Beschwerde- und Revisionsinstanzen wird es mehr Begründung geben, da auch die Eigenart des Beschwerde- und Revisionsverfahrens anders ist.
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Die fünfte Glosse erinnert: »Die goldene Regel in Rechtsstreitsachen (in der ersten Instanz): vom Unstreitigen über das Strittige zur Rechtsentscheidung .« Mit großem Genuss habe ich mehrere Zivilurteile (in Streitsachen) gelesen, die zunächst feststellen, was zwischen den Parteien unstreitig ist, dann zu den strittigen Fragen übergehen und sie auf eine »ständige« Weise lösen. Der Richter, der so handelt, hat wahrscheinlich zuerst versucht, die Parteien zu einem Vergleich zu bringen. Mit einer solchen Prozessleitung stimme ich gerne überein und frage mich nur »im Stillen«, was man tun könnte, damit die Anzahl der gerichtlichen Vergleiche wesentlich höher würde. Der Vergleich darf keineswegs aufgedrängt werden (etwa durch Vertagungen der Angelegenheit), es ist jedoch richtig, wenn der Richter durch rechtliche und menschliche Autorität hilft und dazu beiträgt, dass sich die Parteien vergleichen. Andererseits muss sich der Richter durchwegs bewusst sein, dass die Streitparteien die Trägerinnen des Antragsprinzips sind und dass das Recht auf gerichtlichen Schutz zu den bedeutendsten Grundrechten gehört; in diese zwei Rechte darf die Vergleichsempfehlung nicht eingreifen. Eine Vergleichsempfehlung ist nur dann und/oder solange zulässig, wenn die Möglichkeit des Vergleichs offen ist und wenigstens eine der Parteien (auch durch konkludentes Handeln) nicht erklärt hat, dass sie jeden Vergleich ablehnt. Wenn es zu keinem Vergleich kommt, soll die Angelegenheit weiter so verlaufen, wie es die »goldene Regel« rät.
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Die sechste Glosse hält fest: »Die Begründung der subjektiven Seite der Straftat und der Entscheidung über die Strafsanktion. « In mehreren Fällen ist dieser Teil der Begründung schwächer und offensichtlich mechanisch geschrieben (wie eine Art Muster, worin Daten eingetragen werden müssen). Die Fragen der Schuld und der Entscheidung über die Strafsanktion sind empfindliche Fragen, die ebenso bedeutend wie die sogenannte objektive Seite der Straftat sind. Einige »schwächere Begründungen«, wenn ich sie so nennen darf, setzen die Schuld wenigstens teilweise voraus und sind nicht auf Nuancen aufmerksam (etwa die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit bei der Verursachung eines Verkehrsunfalls). Schwierigkeiten gibt es auch bei der Begründung der Strafsanktionen. Zurzeit steht im Vordergrund die gerechte Strafe, das ist die Strafe, die auf dem Prinzip der Proportionalität zwischen der Straftat und der Strafe basiert. Ich weiß viel zu wenig darüber, um Ratschläge zu geben. Vom Standpunkt der Begründung her wird man jedoch nicht um Maßstäbe (mildernde und erschwerende Umstände) herumkommen können, die sich auf das Prinzip selbst der Proportionalität konzentrieren werden (einschließlich der Tatsache, dass man auch die ständige Rechtsprechung berücksichtigen muss).
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Die siebte Glosse schlägt vor: »Die Begründung mit dem rechten Maß (von der knappen zur mitteilsamen, jedoch immer überzeugenden Begründung). « Diese Glosse fasst zusammen, was schon gesagt wurde: Die Art der Begründung wird in erster Linie durch die Art der Angelegenheit und den Begründungsstil des Richters (zusammen mit allen Umständen, die die Auswahl des Begründungsstils beeinflussen) bestimmt. Immer sollte es sich um eine Begründung »mit dem rechten Maß« handeln, die nicht steif und schablonisiert sein soll: Das rechte Maß sucht die Proportionalität zwischen der Art der Sache und dem Begründungsstil. Es gibt keine Angelegenheit, die selbsttätig den Begründungsstil bestimmte, und es gibt keinen Stil, der von der Begründungsangelegenheit unabhängig wäre. Zwischen den beiden Polaritäten und innerhalb dieses Kreislaufs gibt es einen breiten Handlungsraum, der der Kreativität des Richters überlassen ist.

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Zu den Glossen betreffend den Stil der Begründung von Rechtsentscheidungen möchte ich noch einige andere Reaktionen angeben, die mit den bereits angeführten Fragen wenigstens eine indirekte Verbindung haben. Zuerst: »Anführung von theoretischen Standpunkten .« In mehreren Begründungen (besonders in denen des Obersten Gerichtshofes) berufen sich die Urteile auch auf Fachliteratur und auf theoretische Standpunkte einzelner Autoren. Wenn ich Zivil- und Strafurteile vergleiche, kommt das öfter in Zivilsachen vor. Das Argument aus der fachlichen (wissenschaftlichen) Literatur ist einer der Gründe, der (entscheidend) zur Lösung einer konkreten Sache beiträgt. Wenn dieses Argument in einem bedeutenden Maße die Entscheidung beeinflusst und siede facto (innerlich) begründet, ist es vollkommen richtig, dass es in der Begründung auch angeführt wird. Darauf soll man sich auch berufen, wenn es sich um das Pro- und Kontra-Argumentieren handelt und das »fachliche (wissenschaftliche) Argument« ein Grund ist, der in einem bedeutenden Maße den Inhalt der Argumentation beeinflusst, ohne dass der Richter unbedingt mit ihm einverstanden sein müsste.
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Weiter: »Anführung der Rechtsprechung .« Die Rechtsprechung ist bindend, solange wir keine neuen und besseren Gründe haben, die eine Ergänzung und/oder Änderung der Rechtsprechung verlangen. Das Argument des rechtlichen Präzedens ist sehr oft ein Grund, der entscheidend die Entscheidung in einer konkreten Angelegenheit beeinflusst. Wenn es tatsächlich so ist, muss man dieses Argument in der Begründung auch anführen oder sich wenigstens entsprechend darauf berufen. Selbstverständlich ist es das Oberste Gericht, das sich am stärksten mit diesen Fragen befasst. Es ist ratsam, dass das Oberste Gericht und höhere Gerichte kurz auf Präzedenzstandpunkte, die in den behandelten Rechtsfragen bereits eingenommen worden sind, aufmerksam machen. Das kann man mit Sicherheit nicht vermeiden, wenn das Instanzgericht neue Wege einschlägt und neue Ableitungen sucht. Vom Standpunkt der positivrechtlichen Regelung gesehen gibt es sogar eine eigenartige Lücke, weil nur das Oberste Gericht ausdrücklich dazu verpflichtet ist, für eine einheitliche und ständige Rechtssprechung zu sorgen. Es liegt in der Natur der Sache, dass das Argument des rechtlichen Präzedensalle und nicht nur Instanzgerichte verpflichtet, die jedoch noch besonders dafür verantwortlich sind. Wenn niedrigere Gerichte bemerken, dass die Rechtsprechung in einzelnen Angelegenheiten uneinheitlich und nicht abgestimmt ist, müssen sie sofort das Oberste Gericht darauf aufmerksam machen.
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Weiter: »Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis .« Schon die Alten wussten es:Theoria sine praxi rota sine axi sowiePraxis sine theoria caecus in via . Wenn also die Theorie eine Achse haben soll und die Praxis nicht blind sein soll, müssen sie zusammenarbeiten. Beide sind stärker, wenn sie auf eine vernünftige Weise kritisch zueinander sind, einander ergänzen und bereit sind, sich argumentiert zu unterhalten. Es ist produktiv, dass die Praxis nach Bedarf die Theorie anführt und dass auch die Theorie die Praxis (Rechtsprechung) begleitet, analysiert, kommentiert und problematisiert. Ein leuchtendes Vorbild sind Zivilrechtstheoretiker, darunter ganz besonders der verstorbene ProfessorStojan Cigoj (1920-1989)7 , der auf Präzedenzrecht aufbaute und dazu auch aktiv beisteuerte.
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Weiter: »Anwendung von ‚schwereren‘ Rechtsfiguren « (Rechtsprinzipien, die Frage des milderen Gesetzes,analogia iuris, analogia legis, argumentum a fortiori , Konflikt der Grundrechte, Missbrauch des subjektiven Rechts usw.). Diese und andere »schwerere« Figuren schimmerten auf, als ich die Urteile las. Als Theoretiker freute ich mich über sie, als ehemaliger Richter weiß ich, dass man den Fall lebensnah und ohne unnötige Komplikationen lösen sollte. Aber trotzdem. Es gibt Fälle, wo man »schwerere« Figuren nicht vermeiden kann, noch mehr, es ist sogar sehr richtig und mehr als wohlbegründet, dass man sie anwendet. Ob man sich für sie entscheidet, darf nicht nur von uns und unserem »theoretischen« Gehör abhängen, sondern wird insbesondere durch den Charakter der Sache, die zu lösen wir im Begriff sind, bestimmt. Wenn die Daten, die ich kenne, richtig sind, gibt es noch viel Platz für eine ganze Reihe von Figuren (für fast alle Auslegungsargumente, die mit diesem Namen »schlechter« registriert und im Rechner gespeichert sind).
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Weiter: »Vernünftiges und ruhiges »Herausfordern« des (höheren) Beschwerdegerichts .« Es ist richtig, dass niedrigere Gerichte in der Regel den von Instanzgerichten eingenommenen Rechtsstandpunkten folgen. Doch die Pflicht der niedrigeren Gerichte ist es auch, neue Gesichtspunkte und Nuancen zu suchen, die die höheren (obersten) Gerichte noch nicht wahrgenommen haben. Man sollte nicht vergessen, dass das richtig ganzheitliche Rechtsleben in der ersten Instanz stattfindet – bei Gerichtsterminen, Vernehmungen, Besichtigungen ... und schließlich bei der Hauptverhandlung. Die Gerichte der ersten Instanz befinden sich, wie der Schriftsteller Ivan Cankar sagen würde, in der Arena des Lebens. Und wer sich hier an dieser Drehscheibe befindet, soll auch die Möglichkeit ausnutzen, das (höhere) Beschwerdegericht vernünftig und ruhig »herauszufordern«. »Hippokrates’ Regel« sagt, dass dieses »Herausfordern« den Parteien nicht schaden darf. Eigentlich handelt es sich um die suchende Rolle des Juristen, die keineswegs im Gegensatz dazu steht, dass die Rechtsprechung einheitlich und ständig sein muss. Neue und bessere Lösungen zu suchen heißt nicht, dass niedrigere Gerichte hemmend wirken. Wenn dieses Suchen fachlich durchdacht und begründet ist, gibt es darin neue Horizonte und neue Ableitungen, die von höheren (obersten) Gerichten noch nicht wahrgenommen worden sind. Der schöpferische Ansatz überprüft, ob und in welchem Maße die ständige Rechtsprechung geändert, ergänzt oder neu gestaltet werden soll. Und das ist nicht nur die Aufgabe der höheren Gerichte und des Obersten Gerichtshofs, das ist auch die Aufgabe desjenigen, der sich in der »Arena des Lebens« befindet.
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Undlast, but not least: »Unausgesprochene Argumente (»sich verstecken« hinter der Ziffer des Gesetzesparagraphen) .« Aus Gesprächen mit Richtern weiß ich, dass sie sich manchmal hinter der Paragraphennummer verstecken, ohne ganz ihre Argumente für diese oder jene Entscheidung zu sagen und anzuführen. Darüber müsste man eine besondere Abhandlung schreiben. In dieser kurzen These möchte ich nur andeuten, dass die Begründung immer wenigstens zwei Gesichter hat. Einerseits ist da die Überzeugung des Richters, dass er recht hat: Ein guter und verantwortungsvoller Richter überlegt und erwägt und sucht den Punkt, wo er und sein Gewissen beruhigt sind, dass er sich richtig entschieden hat. Das ist die sogenannte innere Begründung des Urteils, die nicht unbedingt auch nach außen wirken wird. Wenn jedoch der Richter diese innere Beruhigung und Begründung nicht hat, stellt sich die Frage, ob er überhaupt urteilen kann. Darüber muss jedermann mit sich selbst übereinkommen. Für die Parteien von größter Bedeutung ist die äußere Begründung, die in der schriftlichen Begründung des Urteils angeführt ist. In der äußeren Begründung soll es keine leeren Stellen und Flecke geben, also Stellen, die der Richter »rechtlich fühlt«, aber sie später nicht erklärt. Die Elemente der Rechtsentscheidung können nicht nur erkannt und aus dem Lebensfall und dem Gesetz rekonstruiert werden, diese Elemente müssen auch – manchmal mehr und manchmal weniger – (mit)geschaffen8 8, als solche anerkannt und dann auchnach außen rechtlich begründet werden.



Pravna fakulteta (Juristische Fakultät), Poljanski nasip 2, 1000 Ljubljana SI
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  1. 1 Vgl. entsprechende Stellen inRené David, Günther Grasmann (Träger): Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart. München 1988.
  2. 2 Michel Troper ;Christophe Grzegorczyk ;Jean-Louis Gardies , in:D. Neil MacCormick; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991, S. 172.
  3. 3 SieheRobert S. Summers; Michelle Taruffo , in:D. Neil MacCormick; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991, S. 496 ff. Siehe auchMichel Troper; Christophe Grzegorczyk; Jean-Louis Gardies , in:D. Neil MacCormick; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991, S. 171 ff., undRobert. S. Summers , in:D. Neil MacCormick; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991, S. 407 ff.
  4. 4 Außer Frankreich und den Vereinigten Staaten umfasst die Studie noch die Rechtssysteme von Argentinien, Deutschland, Finnland, Italien, Polen, Schweden und dem Vereinigten Königreich [D. Neil MacCormic; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991]. – Was die verfassungsrechtliche Argumentation angeht, siehe auchPavel Holländer : 1. Ústavnĕprávní argumentace. Ohlédnuti po deseti letech Ústavního soudu (Verfassungsrechtliche Argumentation. Ansichten nach zehn Jahre am Verfassungsgericht). Praha 2003, und 2. Verfassungsrechtliche Argumentation – zwischen dem Optimismus und der Skepsis. Duncker & Humblot: Berlin 2007.
  5. 5 SieheRobert Alexy; Ralf Dreier , in:D. Neil MacCormick; Robert S. Summers (Hrsg.): Interpreting Statutes. A Comparative Study. Aldershot (etc.) 1991, S. 73-121. – Was Slowenien betrifft, sieheMarijan Pavčnik : 1. Juristisches Verstehen und Entscheiden. Wien, New York 1993, S. 104 ff., und 2. Argumentacija v pravu (Argumentation im Recht). 2. Aufl. Ljubljana 2004, S. 222 ff. und S. 285-311.
  6. 6 Vgl.Günther Kreuzbauer : Juristisches Argumentieren in der universitären Ausbildung. Theoretische Konzeption und praktische Erfahrung, in:Günter Kreuzbauer, Georg Dorn (Hg.): Argumentation in Theorie und Praxis. Philosophie und Didaktik des Argumentierens. Wien 2006, S. 221-238.
  7. 7 Siehe z.B.Stojan Cigoj : Komentar obligacijskih razmerij (Kommentar der Schuldverhältnisse). I-IV. Ljubljana 1984 (I, II), 1985 (III) und 1986 (IV).
  8. 8 8 Marijan Pavčnik: Das »Hin- und Herwandern des Blickes«. Zur Natur der Gesetzesanwendung, inRechtstheorie , 39 (2008) 4, S. 557-572.