Jusletter IT

Zur Methodik der softwaregestützten juristischen Fallbearbeitung

  • Author: Bernd Schaudinn
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Advanced Legal Informatics Systems and Applications
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: Bernd Schaudinn, Zur Methodik der softwaregestützten juristischen Fallbearbeitung, in: Jusletter IT 24 February 2011
Die softwaregestützte juristische Fallbearbeitung wird in der fachlichen Diskussion mittlerweile als notwendiger Bestandteil der elektronischen Akte angesehen. Der Beitrag unternimmt am Beispiel der Tätigkeit des Strafverteidigers den Versuch, grundlegende methodische Fragen der softwaregestützten juristischen Fallbearbeitung zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Hierbei wird zwischen den methodischen Anforderungen an die juristische Fallbearbeitung als solche einerseits und den spezifischen methodischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der softgestützten Fallbearbeitung andererseits zu differenzieren sein.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Methode(n) der Rechtsanwendung
  • 2.1. Begriff und Arbeitsschritte der Rechtsanwendung
  • 2.2. Dominanz der Tatsachenfragen
  • 2.3. Verfahrensrechtliche Komponente der Sachverhaltsfeststellung
  • 2.4. Überwiegen des Indizienbeweises
  • 3. Methodik der Strafverteidigung
  • 3.1. Mehrzahl der Rechtsanwendungsmethoden
  • 3.2. Vollständige Bestandsaufnahme als Grundlage der Verteidigung
  • 3.3. Bewertung der Informationsbasis
  • 4. Methodik der softwaregestützten juristischen Fallbearbeitung?
  • 4.1. Anwendungsbeispiel «Hypothesen»
  • 4.2. Anwendungsbeispiel «Erfassung von Tatsachen»
  • 5. Fazit

1.

Vorbemerkung ^

[1]
Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und hiermit auch der elektronischen Akte hat in Deutschland in den letzten Jahren eine beachtliche Dynamik entwickelt. Mehrere Bundesländer arbeiten an der Umsetzung ehrgeiziger Projekte. Nach Durchführung einiger Workshops mit Teilnehmern der IT-Wirtschaft1 hat das Land Nordrhein-Westfalen am 06.12.2010 die Beschaffung eines «Prototyp-Systems für die ergonomische elektronische Führung von Gerichtsakten in Nachlasssachen » ausgeschrieben2 . Die Länder Hessen und Niedersachsen haben gemeinsam das Projekt «NeFa » ins Leben gerufen, das bereits Ende September 2011 eine pilotierungsreife Softwareversion für den Zivilprozess erster und zweiter Instanz bereitstellen soll3 . Alle Projekte sehen in der elektronischen Akte nicht nur eine ressourcenschonende Ablageform, sondern auch die Grundlage für die effektive Unterstützung der inhaltlich-juristischen Sacharbeit. Es gibt bereits mehrere ausgereifte Softwarelösungen zur spezifischen Unterstützung der juristischen Fallbearbeitung, so den «Normfall Manager » der Normfall GmbH4 (der offenbar in das o.g. Projekt «NeFa » eingebunden wird5 ), «Logos » der knowledgeTools International GmbH6 sowie das nach Vorgaben des Verfassers entwickelte Programm «NeBis » der Fallsoft GmbH7 .
[2]
Die fortschreitende elektronische Unterstützung der Rechtsanwendung in der Praxis wirft zahlreiche rechtliche und methodische Fragen auf. Dieser Beitrag unternimmt den Versuch einer ersten Skizzierung der methodischen Fragen, die sich dem Verfasser bei dem Einsatz des Programms «NeBis » zur Unterstützung seiner Tätigkeit als Strafverteidiger gestellt haben. Hierbei richtet sich der Blick auf die Methode(n) der Rechtsanwendung im Allgemeinen und der Tätigkeit des Strafverteidigers im Speziellen. Der Verfasser geht davon aus, dass die Annäherung an die spezifischen methodischen Fragen, die sich aus dem praktischen Einsatz von Software zur Unterstützung der juristischen Fallbearbeitung ergeben, erst gelingen kann, wenn die Methodik der «konventionellen» Fallbearbeitung berücksichtigt wird. Dies soll nicht bedeuten, dass diese Methoden der «konventionellen» Fallbearbeitung gleichsam für die softwaregestützte Fallbearbeitung zu übernehmen sind. Sie sind jedoch als Ausgangspunkt heranzuziehen, um die möglichen Unterschiede zur softwaregestützten Fallbearbeitung zu erarbeiten.

2.

Methode(n) der Rechtsanwendung ^

2.1.

Begriff und Arbeitsschritte der Rechtsanwendung ^

[3]
Rechtsanwendung ist die «Herleitung und Begründung eines Einzelfall-Urteils aus der Rechts-ordnung »8 . Dies meint nicht nur die Rechtsanwendung durch den Richter, der ein Verfahren durch Urteil abschließt. Dem Begriff der Rechtsanwendung unterfallen auch die Tätigkeiten in anderen juristischen Berufen (z.B. Erstellung einer Klageschrift durch den Rechtsanwalt, Fertigung einer Einstellungsverfügung durch die Staatsanwältin, u.a.)9 .
[4]
Unabhängig von der konkret ausgeübten juristischen Tätigkeit vollzieht sich die Rechtsanwendung grundsätzlich in vier Arbeitsschritten10 , die allerdings fließend ineinander übergehen11 :

  • Feststellung des Sachverhalts
  • Aufsuchen der maßgeblichen Rechtsnorm(en)
  • Subsumtion
  • Ausspruch der Rechtsfolge
[5]
Diese Arbeitsschritte wurden nach dem bekannten Zitat von Karl Engisch mit dem «Hin- und Herwandern des Blicks » zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnormen beschrieben.

2.2.

Dominanz der Tatsachenfragen ^

[6]
In der juristischen Praxis dominieren die Tatsachenfragen. Nach rechtstatsächlichen Untersuchungen überwiegen im Zivilprozess mit ca. 55% die Fälle, in denen ausschließlich oder überwiegend streitige Tatsachen zu entscheiden sind, während nur ca. 20% der Fälle ausschließlich oder überwiegend von Rechtsfragen beherrscht werden; im Rest der Fälle sind Tatsachen- und Rechtsfragen etwa gleichgewichtig12 . Im Strafprozess sollen zweifelhafte Tatsachen sogar einen Anteil von über 90% der Fallbearbeitung ausmachen13 .

2.3.

Verfahrensrechtliche Komponente der Sachverhaltsfeststellung ^

[7]
Tatsachenfragen und damit die Feststellung des Sachverhalts haben in der forensischen Praxis stets eine verfahrensrechtliche Komponente. Die Tatsachenfeststellung ist an die jeweilige Verfahrens-ordnung gebunden14 . Nur die genaue Kenntnis des- – verfahrensrechtlich ordnungsgemäß feststellten- – Sachverhalts versetzt den Rechtsanwender in die Lage, zutreffend juristisch zu entscheiden15 .

2.4.

Überwiegen des Indizienbeweises ^

[8]
Zu berücksichtigen ist letztlich, dass in der forensischen Praxis der sog. Indizienbeweis weit überwiegt16 . Selten können die unmittelbar rechtlich erheblichen- – subsumierbaren- – Tatsachen direkt festgestellt werden. Meist werden hierfür Indizien benötigt, also Tatsachen, die für sich gesehen (materiell-)rechtlich bedeutungslos sind, die aber den Schluss auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen der unmittelbar rechtlich erheblichen Tatsachen erlauben. Die Komplexität des Falls steigt mit der Zahl der Indizien, insbesondere dann, wenn diese über mehrere Ebenen in die Tiefe gestaffelt sind (d.h. wenn das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Indizien erst über weitere Indizien einer tieferen Ebene erschlossen werden kann).

3.

Methodik der Strafverteidigung ^

3.1.

Mehrzahl der Rechtsanwendungsmethoden ^

[9]
MitRüthers17 geht der Verfasser davon aus, dass es eine Mehrzahl von Rechtsanwendungs-methoden geben kann, die anhand folgender Kriterien zu differenzieren wären:

  • Rechtsgebiete
  • Verfahrensordnungen
  • Rechtsanwender (Rechtswissenschaft, Gerichtspraxis mit Verfahrensbeteiligten)
[10]
Hiernach kann auch eine Rechtsanwendungsmethode der Strafverteidigung postuliert werden, wie dies beispielsweise in § 13 der deutschen Fachanwaltsordnung für Rechtsanwälte ausdrücklich geschieht. Was sich hinter diesem Begriff verbirgt, ist erst in jüngster Zeit Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion. Methodische Grundsatzfragen der deutschen Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft sind über einen langen Zeitraum vernachlässigt worden18 . Auch zur Methodik der Strafverteidigung gab es bis vor Kurzem keine expliziten Veröffentlichungen19 .
[11]
Im Rahmen dieses Beitrags sollen nur wenige wesentliche Aspekte zur Methodik der Strafverteidigung aufgegriffen werden20 :

  • Im Gegensatz zum Strafrichter entscheidet der Strafverteidiger den Fall nicht in retrospektiver Betrachtung, sondern versucht zukunftsbezogen, zugunsten des beschuldigten Mandanten gestaltend auf die richterliche Entscheidung einzuwirken. Damit enthält die Strafverteidigung planerische und prognostische (insbesondere auf die mögliche richterliche Entscheidung bezogene) Bestandteile.
  • Die Tätigkeit des Strafverteidigers ist nicht nur an der Wertekategorie der Rechtmäßigkeit, sondern auch der Zweckmäßigkeit ausgerichtet.

3.2.

Vollständige Bestandsaufnahme als Grundlage der Verteidigung ^

[12]
Zentrale Grundlage für die Tätigkeit des Strafverteidigers ist zunächst eine vollständige Bestandsaufnahme; hierzu stehen ihm folgende Informationsquellen zur Verfügung21 :

  • Verfahrensakten und Beweisstücke
  • Mandant
  • Eigene Ermittlungen
  • Eigene Wahrnehmungen und Kontakte
[13]
Die gewonnenen Informationen müssen gründlich und vollständig zur Kenntnis genommen sowie so aufbereitet und dokumentiert werden, dass der Strafverteidiger sie auch tatsächlich beherrscht22 . Das Beherrschen der Informationen beinhaltet nach den beruflichen Erfahrungen des Verfassers zwei wesentliche Komponenten:

  • Es kommt nicht nur auf die Erfassung der einzelnen Informationen an, sondern vielmehr auch auf die – mitunter mannigfaltige – Vernetzung der Informationen untereinander (Beziehungsgeflechte: z.B. Mehrfachrelevanz von Indizien und der zugehörigen Beweismittel).
  • Das Beherrschen der Informationen muss über die gesamte Verfahrensdauer gewährleistet sein, was Aspekte des schnellen Zugriffs ebenso umfasst wie eine schnelle Wiedereinarbeitung nach einem Verfahrensstillstand sowie die kontextbezogene Einarbeitung neu hinzukommender Informationen.
[14]
Es liegt auf der Hand, dass die konventionelle Bearbeitung der Informationen (Markierungen, Unterstreichungen, gelbe Zettel, interne Verweise, Verzeichnisse, u.a.23 ) schnell auf Grenzen stößt, wenn die Tatsachengrundlage ein gewisses Ausmaß erreicht. Der Grund für die Begrenzung liegt in der Zweidimensionalität der konventionellen Bearbeitung, die es nicht erlaubt, die Vernetzung der in mehrfacher Hinsicht voneinander abhängigen Informationen sowie die hiermit verbundenen Perspektivenwechsel hinreichend abzubilden. An dieser kritischen Stelle erweist sich der Einsatz des Computers daher als Quantensprung, da die vollständige Erfassung der Informationen sowie ihrer Abhängigkeiten untereinander mit den gegebenen technischen Möglichkeiten (z.B. relationale Datenbanktechnik) die zweidimensionale Beschränkung aufhebt und die sekundenschnelle Darstellung der Informationen aus jeder beliebigen Perspektive ermöglicht. Nicht ohne Grund hatNack daher bereits früh gefordert, dass der EDV-Einsatz bei der Fallbearbeitung insbesondere die Arbeit am Sachverhalt unterstützen soll24 .

3.3.

Bewertung der Informationsbasis ^

[15]

Bevor der Strafverteidiger Verteidigungsmaßnahmen ergreifen kann, muss er die Informationen bewerten. Auch bei der Bewertung handelt es sich nicht um einen eigenständigen und formal abgegrenzten Arbeitsschritt, vielmehr fließt sie mit der Aufnahme und Aufbereitung der Informationen zusammen. Dennoch wird man sagen können, dass es im Verlauf der Fallbearbeitung sicher Schwerpunkte gibt, in denen die Informationen vorrangig zur Kenntnis genommen werden und andere, in denen die Bewertung der Informationen im Vordergrund steht.

[16]

Losgelöst von dieser Frage besteht das methodische Erfordernis, bei der Bewertung Hypothesen zu bilden und die Informationen unter den abweichenden Perspektiven der jeweiligen Hypothesen zu betrachten; zumindest ist zwischen der amtlichen Version des Vorwurfs und der Darstellung des Mandanten zu unterscheiden25 . Aus informationstechnischer Sicht ist zu beachten, dass die Bildung von Hypothesen und die Anbindung relevanter Informationen eine zusätzliche und komplexe Vernetzung der Informationen bewirkt, aus der eine deutlich gesteigerte Komplexität des Sachverhalts resultiert, die wiederum an die Beherrschbarkeit besondere Anforderungen stellt.

[17]
Prüfer hat die konventionelle Vorgehensweise des Strafverteidigers bei der Arbeit mit Hypothesen sehr anschaulich beschrieben26 :

«...Vermutlich ist ein Computer bei dieser Arbeit nützlich. Wer wie ich übers Ringbuch nicht hinausgekommen ist, nimmt für jede Hypothese eine Ringbuchseite. Dort wird das gesamte Beweismaterial zu dieser Hypothese in Beziehung gesetzt, durch Stichworte, mindestens aber durch genaue Fundstellen. Als Ordnungsprinzip empfiehlt sich das Verhältnis, in dem das Material (z.B. die einzelne Aussage) zur einzelnen Hypothese steht, ob in Einklang oder Missklang. ...
...Die Eingliederung des ganzen Materials in die Hypothesen ist eine mühsame und zeitraubende Arbeit. Um diesen Aufwand nicht zu vergrößern, empfiehlt es sich, die Akten erst dann durchzuarbeiten, wenn die Hypothesen möglichst vollständig versammelt sind. Man sucht also zuerst das Material, das zur Hypothesenbildung oft etwas hergibt. ...
...Hat der Verteidiger diese Aktenteile gelesen, durchdacht und zur Formulierung von Hypothesen genutzt, dann sieht er die Akten vom ersten bis zum letzten Blatt durch und notiert alle Belegstellen auf den Hypothesenblättern. ...
...Das vollständige Durcharbeiten der Akten wird zweckmäßig gleich dazu benutzt, einen Datenlauf anzulegen. Alle Vorgänge nicht nur der Tat, sondern auch ihrer Vor- und Nachgeschichte und der Ermittlungsarbeit, besonders die Vernehmungen werden kurz vermerkt. Dazu ist ein Computer wohl besonders geeignet. Man kann auch kleine Zettel benutzen. Rechts oben werden Tag und Uhrzeit, in die Mitte wird das Ereignis und unten die Fundstelle notiert. Der ganze Haufen ist zuletzt chronologisch zu ordnen und links oben zu klammern. Seine Durchsicht erhellt manches und kann zu verblüffenden Einsichten führen. Er erleichtert auch das Auffinden bestimmter Aktenstellen. ...»
[18]
Dieses instruktive Wortzitat wurde aufgenommen, weil es sich um die einzige dem Verfasser bekannte Veröffentlichung handelt, die detailliert bis in die Ebene der Verwendung des «Handwerkszeugs» das Vorgehen des Strafverteidigers bei der Informationserarbeitung und -bewertung beschreibt27 .

4.

Methodik der softwaregestützten juristischen Fallbearbeitung? ^

[19]
Auf Basis der vorangehenden Ausführungen wird nunmehr anhand von zwei Anwendungs-beispielen im Programm «NeBis » aufgezeigt, dass einerseits bestehende Methoden der «konventionellen» Fallbearbeitung ohne Weiteres auf die softwaregestützte Fallbearbeitung übertragen werden können, andererseits der Softwareeinsatz spezifische methodische Fragen aufwirft, deren Formulierung und Beantwortung noch aussteht.

4.1.

Anwendungsbeispiel «Hypothesen» ^

[20]
Dieses Beispiel belegt, dass eine bereits bestehende Methode der «konventionellen» Fallbearbeitung ohne Änderungsbedarf auf die softwaregestützte Fallbearbeitung übertragen werden kann. Ausgangspunkt sind die Ausführungen unter Ziffer 3.3 dieses Beitrags, in denen die Bewertung der Informationsbasis durch den Strafverteidiger anhand von Hypothesen erfolgt.
[21]
«NeBis » ermöglicht dem Anwender einen schnellen Wechsel der Perspektive, wenn er die erfassten Indizien in Relation zu den erfassten Hypothesen betrachten will. Hierzu reicht ein Mausklick auf die gewünschte Hypothese sowie die Auswahl der Eigenschaft «Einklang », «Missklang » oder «Ambivalent »:
[22]
Die Auswahl einer bestimmten Eigenschaft aktualisiert jeweils die Anzeige im Teilfenster «Indizien »28 , so dass der Anwender auf Mausklick sekundenschnell überblicken kann, welche Indizien für oder gegen eine bestimmte Hypothese sprechen oder zu ihr ambivalent sind, weil sie sich auch mit anderen Hypothesen vereinbaren lassen. Hier wurde somit methodisch unverändert umgesetzt, wasPrüfer29 anschaulich für die konventionelle Bearbeitung beschrieben hat. Der Unterschied zur softwaregestützten Bearbeitung besteht darin, dass diese deutlich leistungsfähiger und flexibler ist.
[23]
Die Zuordnung eines Indizes zu einer Hypothese ist äußerst anwenderfreundlich gelöst; der Anwender muss in dem entsprechenden Dialogfenster lediglich zur jeweiligen Hypothese die gewünschten Haken in die Checkboxen gemäß seiner inhaltlichen Entscheidung setzen.

4.2.

Anwendungsbeispiel «Erfassung von Tatsachen» ^

[24]
Das unter Ziffer 2.2 beschriebene Aufbereiten und Dokumentieren der erarbeiteten Informationen erfolgt bei der «konventionellen» Fallbearbeitung durch Erstellung eines Aktenauszuges. Hierbei werden überwiegend Stichpunkte und Fundstellen erfasst, während die Ausformulierung der einzelnen Tatsachen i.d.R. unterbleibt. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Sprache tendenziell ungenau ist, während die Rechtsanwendung auf eine hinreichend genaue Sprache angewiesen ist30 . Für die Präzisierung von Rechtsbegriffen behilft sich die Rechtsanwendung mit Definitionen und – bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln – mit Fallgruppenbildung. Demgegenüber sind keine methodischen Ansätze erkennbar, bei der Ermittlung des Sachverhalts eine sprachliche Präzisierung der Tatsachen durch den Rechtsanwender zu erreichen.
[25]
Demgegenüber setzt die softwaregestützte Fallbearbeitung in «NeBis » voraus, dass der Anwender die relevanten Tatsachen mit einer aussagekräftigen Kurzbezeichnung versieht und optional auch eine präzise Umschreibung erfasst:
[26]
Hieraus ergeben sich diverse methodische und rechtliche Fragen:

  • Können die – teils umgangssprachlichen – Verfahrensinformationen für die Rechtsanwendung systematisch präziser formuliert werden?
  • Ist die Umformulierung durch den Rechtsanwender zulässig und opportun31 ?
  • Führt eine präzisere Formulierung der Verfahrensinformationen zu einer tatbestands-orientierteren und damit effektiveren Fallbearbeitung?
[27]
Das Anwendungsbeispiel «Erfassung von Tatsachen» ist ein Beleg dafür, dass es wesentliche Bereiche bei der softwaregestützten Fallbearbeitung gibt, die einer grundlegenden methodischen Aufarbeitung bedürfen.

5.

Fazit ^

[28]
Die softwaregestützte juristische Fallbearbeitung steht ganz am Anfang. Unterstützung findet der Rechtsanwender zwar seit einiger Zeit bei der formalen Unterstützung seiner Arbeit32 . Die weitgehende Unterstützung der inhaltlich-juristischen Sacharbeit unter Einbeziehung methodischer Aspekte hat jedoch gerade erst begonnen.
[29]
Aus Sicht des Verfassers ist eine systematische methodische Aufarbeitung der Rechtsanwendung wie folgt erforderlich:

  • Klärung der Rechtsanwendungsmethoden anhand der unter Ziffer 3.1 genannten Kriterien.
  • Ermittlung und/oder Entwicklung sowie Dokumentation der Methoden der «konventionellen» Fallbearbeitung einschließlich übergreifender Gemeinsamkeiten.
  • Abgleich, Übertragung und Anpassung der Methoden der «konventionellen» Fallbearbeitung auf die softwaregestützte Fallbearbeitung sowie ggf. Entwicklung eigener spezifischer Methoden.
[30]
Die derzeit zu beobachtende Eile bei der Implementierung neuer Lösungen dürfte sich möglicherweise als kontraproduktiv erweisen, wenn die – vorher nicht hinreichend konsultierten Anwender – die eingeführten Lösungen mehrheitlich nicht akzeptieren, weil die Arbeitsweisen der Anwender und die jeweils zugrundeliegende Methodik unzureichend einbezogen wurden.



Bernd Schaudinn, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, Advocatio Rechtsanwälte
Innere Wiener Str. 13, 81667 München, DE
schaudinn@advocatio.de ;www.advocatio.de


  1. 1 www.justiz.nrw.de/WebPortal/Online_verfahren_projekte/projekte/ergonomie_elektr_akte/index.php – Abruf am 25. Januar 2011.
  2. 2 www.marketing-boerse.de/Ausschreibungen/details/ProjektSoftware-Entwicklung---ergonomische-elektronische-Akte – Abruf am 25. Januar 2011.
  3. 3 www.mj.niedersachsen.de/live/live.php?navigation_id=5784&article_id=16128&_psmand=13 – Abruf am 25. Januar 2011.
  4. 4 www.normfall.de – Abruf am 25. Januar 2011.
  5. 5 www.normfall.de/unternehmen/aktuelles/aktuelles.html%23Sept2010 – Abruf am 25. Januar 2011.
  6. 6 www.knowledgetools.de/index.htm – Abruf am 25. Januar 2011.
  7. 7 www.fallsoft.de/ – Abruf am 25. Januar 2011.
  8. 8 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Auflage 2010, S. 418, Rn. 657.
  9. 9 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Auflage 1963, S. 3 f.
  10. 10 Rüthers/Fischer, a.a.O., S. 420, Rn. 665.
  11. 11 Rüthers/Fischer, a.a.O., Rn. 666.
  12. 12 Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band I, 2. Auflage 1995, Vorwort.
  13. 13 A.a.O.
  14. 14 Rüthers/Fischer, a.a.O., S. 423, Rn. 671.
  15. 15 Rüthers/Fischer, a.a.O., S. 421, Rn. 669.
  16. 16 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Auflage 2005, S. 58.
  17. 17 Rüthers/Fischer, a.a.O., S. 424 ff.
  18. 18 Rüthers/Fischer, a.a.O., S. 408, Rn. 640.
  19. 19 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, 2007, S. 174, Rn. 15.
  20. 20 Vgl. Barton, a.a.O., S. 167 ff.
  21. 21 Barton, a.a.O., S. 189 ff.
  22. 22 Barton, a.a.O., S. 192, Rn. 8.
  23. 23 Barton, a.a.O.
  24. 24 Nack, Anforderungen an die Informationstechnik am Arbeitsplatz von Richtern- – Die Arbeit am Sachverhalt- – in: Informationstechnik am Arbeitsplatz von Juristen..., Köln 1989.
  25. 25 Barton, a.a.O., S. 202 ff.
  26. 26 Prüfer StV 1993, 602, 603 f.
  27. 27 Vgl. für die zivilrichterliche Tätigkeit: Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Auflage 1994, S. 3 ff
  28. 28 Im Zusammenhang mit Hypothesen sind ausschließlich Indizien relevant.
  29. 29 Vgl. Ziffer 3.3.
  30. 30 Rüthers/Fischer, a.a.O., insb. S. 132, Rn. 186.
  31. 31 Vgl. z.B. § 273 III StPO und die polizeiliche Praxis bei der Erstellung von Vernehmungsprotokollen.
  32. 32 Z.B. Lesezeichen im PDF-Reader.