1.
Von Rechtsnorm und Normtext zur abstrakten Normbeschreibung ^
Diese Sicherheit der einfachen und eindeutigen Verbindung von Text und Norm wird im Europa- und Völkerrecht2 oder bei internationalen Verträgen erschüttert. Mehrere Sprachfassungen, die alle in gleicher Weise verbindlich sind (Abb. 2), können bzw. müssen herangezogen werden, um den tatsächlichen Inhalt der Rechtsnorm zu erschließen. Auslegungsprobleme auf Grund sprachlicher Unterschiede und daher voneinander abweichender Sichtweisen auf die Norm sind unvermeidbar.
Wenn in diesem Zusammenhang bis jetzt von Normtexten gesprochen wurde, dann deshalb, weil die «tief in die Papierkultur zurückreichende Tradition»3 der Rechtsetzung kaum andere Darstellungsformen kennt. Auf Grund der traditionellen Verknüpfung von Norm- und Texterzeugung scheint es kaum möglich, sich andere Darstellungsformen als die textuelle im legistischen Prozess vorzustellen.4 Norm und Normtext bilden für den Juristen eine gedankliche Einheit5.
Will man jedoch ein wirklich allgemeines Modell der Beziehung von Rechtsnorm und ihrer Darstellung entwickeln, so ist es notwendig, diese paradigmatische Gleichsetzung6 von Normdarstellung und Text hinter sich zu lassen und auch andere Formen der Darstellung von Norminhalten zuzulassen. Diese Darstellungen können natürlich auch textuell7 sein, müssen es aber nicht.
Gerade die Informatik und damit auch die Rechtsinformatik hat eine lange Tradition der abstrakten Beschreibung von Inhalten und Strukturen durch nicht bzw. nur eingeschränkt textbezogene Methoden. Diese reichen von formallogischen8 Darstellungsformen über visuelle bzw. multimediale Ansätze9 über Formulare10 bis hin zum Einsatz von Modellierungssprachen11 und Ontologien12 zur Darstellung semantischer Zusammenhänge.
Technisch ist daher eine Erweiterung des Begriffs des Normtextes auf eine allgemeine Normbeschreibung problemlos. Dass sie für den Bereich der Rechtsetzung nicht nur prinzipiell, sondern auch praktisch umsetzbar wäre und damit der Weg zu modell-getriebenen Methoden13 in der Legistik (Model-Driven Legislation) frei ist, wird im Folgenden dargestellt.
2.
Modell, Sprachschicht und Sprachvorlagen ^
Ausgangspunkt der Darstellungen ist § 75 StGB, der sich durch seinen einfachen Aufbau als «Versuchsobjekt» gut eignet:
§ 75. Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.
Jeder juristische Text kann als Konstrukt, das aus mehreren Schichten14 besteht, angesehen werden. An dieser Stelle sind
– die Sprachschicht und
– die Modellschicht
von Bedeutung. Wenn es möglich ist, diese beiden Schichten zu trennen und als in einander überführbar zu gestalten, dann können beide Darstellungsformen für die Interpretation herangezogen werden. Bei der Bearbeitung bzw. Interpretation kann die jeweils adäquate (maschinelle Verarbeitung = Modell; Bearbeitung durch Menschen = Sprachschicht) Beschreibungsform genutzt werden.
2.1.
Modell ^
Die Modellschicht enthält die semantische Beschreibung der einzelnen Normelemente und ihrer Zusammenhänge. Das Modell15 – in diesem Fall die Norm – kann durch unterschiedliche Darstellungsformen oder Formalismen beschrieben werden.
Gerade die unterschiedlichen Formen der Darstellung einer Normstruktur sind bereits Gegenstand intensiver Diskussionen, weshalb an dieser Stelle nur 2 Beispiele für Modelldarstellungen angeführt werden:
- ein formales: tötet(X, Y) bestrafen(X)
- und ein grafisch-visuelles16
Die einzelnen Modelle können, soweit sie vollständig und syntaktisch korrekt sind, problemlos in einander übergeführt werden. Für die interne Repräsentation von Datenstrukturen in EDV-Systemen sind formale Modelle besser geeignet, für grafische Benutzeroberflächen werden grafisch-visuelle bevorzugt eingesetzt.
2.2.
Sprachschicht ^
Die Sprachschicht einer Rechtsnorm enthält die konkrete Formulierung des Normtextes. Sie ist von der gewählten Sprache und dem gewählten Sprachstil abhängig. Da in der juristischen Sprachschicht eine Fachsprache verwendet wird, kann der Variantenreichtum der Formulierungen als begrenzt angesehen werden. Es ist sogar möglich, Sprachvorlagen zu definieren, die z.B. in einem Vertrag oder Gesetz zu durchgängig einheitlichen Formulierungen und Satzstrukturen führen.
kann problemlos die Sprachvorlage
Wer
abgeleitet werden.
3.
Automatisierte Normtextgenerierung ^
Unter Verwendung des Frameworks GF17 wurden zwei Sprachvorlagen als abstrakte und konkrete deutsche Grammatiken implementiert. Die erste Sprachvorlage ist die oben dargestellte, die zweite beruht auf einer verallgemeinerten Fassung des § 211 dStGB:
Über die Definition einer abstrakten Grammatik, die gleichzeitig als Ontologie18 für diese Grammatik interpretiert werden kann, wurden die beiden Sprachvorlagen abgebildet.
Norm1 : Tat -> TaeterBezeichnung -> Strafrahmen -> TatMotiv -> NormText; Norm2 : Tat -> TaeterBezeichnung -> Strafrahmen -> NormText;
wobei Norm1 dem Stil des dStGB und Norm2 dem Stil des StGB entspricht.
Über entsprechende Lexika und Konkretisierungen der Grammatik konnten dann aus abstrakten Modellbeschreibungen der Rechtsnorm ähnliche19 Normtexte in den gewünschten Sprachstilen erzeugt werden.
Eine Konkretisierungsfunktion für Norm2 lautet z.B.: Norm2 tat taeter strafe = mkText ( mkPhr (mkS if_then_Conj (mkS ( mkCl (mkNP wer_N) tatausfuehren_V2 (mkNP someSg_Det anderen_N))) (mkS (mkCl (mkNP er_N) (passiveVP bestrafen_V strafe)))) );
Aus der abgeleiteten Modellbeschreibung Norm1 TatName Taeter (Strafe (StrafeVonBis StrafeJahr10 StrafeJahr20) StrafeLebenslang) ohneMotiv
konnte folgender Normtext erzeugt werden: der Mörder wird durch Freiheitsstrafe von zehn Jahren und Freiheitsstrafe bis zu zwanzig Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe bestraft. es ist der Mörder der einen Menschen tötet.
Analog ergab Norm2 TatName Taeter (Strafe (StrafeVonBis StrafeJahr10 StrafeJahr20) StrafeLebenslang) den Normtext wenn jemand tötet einen Anderen dann er wird durch Freiheitsstrafe von zehn Jahren und Freiheitsstrafe bis zu zwanzig Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe bestraft.
4.
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- 1 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael, Rechtstext und Textarbeit, S. 19f.
- 2 Zu den Fällen, in denen mehrere Normtexte – u.U. in Konkurrenz zu einander – Normen repräsentieren vgl. z.B. Kjaer, Anne Lise, «Eurospeak» – «Eurotexte» – «Eurobegriffe»: Zur Pluralität von Sprachen und Rechten bei der Produktion und Rezeption gemeinschaftsrechtlicher Texte, S. 127ff;. Ivanov, Daniela/Roth, Marius, Sprache und Recht in mehrsprachigen Rechtsordnungen – einige Gedanken aus schweizerischer Sicht, S. 45ff.).
- 3 Schefbeck, Günther, Workshop «Elektronische Rechtsetzung», S. 387.
- 4 Vgl. 1979 Orlicek, Anton, Integrierte Textverarbeitung bei der Publikation von Gesetzestexten, S. 193: «Am System des technischen Ablaufs der Textverarbeitung im Rechtserzeugungsprozeß – vom Projekt einer Rechtsnorm bis zu deren Publikation – hat sich seit der Existenz eines gedruckten Publikationsorgans nichts Grundsätzliches geändert.». Diese Feststellung würde auch heute noch – bis auf den Wechsel von einer Publikation auf Papier zu einer Publikation im Internet – trotz der technischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte noch zutreffen. Legistische Arbeit ist Arbeit mit Textverarbeitungsprogrammen.
- 5 Vgl. Handstanger, Meinrad, Konsolidierung von Rechtsbegriffen Juristische Terminologie in Legistik und Judikatur, S. 37: «Ob eine Rechtsnorm überhaupt existiert bzw. welchen Inhalt sie aufweist, ist nur auf Grund der sprachlichen Mitteilung erfassbar. … Rechtsnormen lassen sich von der Sprache nicht ablösen. Hermeneutische Probleme der natürlichen Sprache sind insofern auch Probleme des Rechts.»
- 6 Auch XML-Editoren (vgl. z.B. Biagioli/Francesconi/Spinosa/Taddei, A legal drafting environment based on formal and semantic XML standards) halten an der Gleichsetzung von Normdarstellung und Text fest.
- 7 Zu den Problemen textueller Darstellungen in Kombination mit Formatierungen vgl. Gantner, Felix, Der Stufenbau der Formatierungen und juristischer Diskurs.
- 8 Vgl. statt vieler: Joerden, Jan, Logik im Recht; Weinberger, Ota, Rechtslogik.
- 9 Čyras, Vytautas/Lachmayer, Friedrich, Distributive Multimedia and Multisensory Legal Machines; Fill, Hans-Georg, On the Technical Realization of Legal Visualizations; Fill, Hans-Georg, Towards Requirements for a Meta Modeling Formalism to Support Visual Law Representations; Kahlig, Wolfgang, Visualisierungstypologie des deutschen Privatrechts; Olbrich, Sebastian, Visualisierung von rechtlichen Rahmenbedingungen in Geschäftsmodellen; Wahlgren, Peter, Visualization oft he Law
- 10 Gantner, Felix, Theorie juristischer Formulare
- 11 Kahlig, Wolfgang, UML für juristische Anwendungen,
- 12 Schwarz, Georg, Visualisierung juristischer Zusammenhänge mittels OWL; Schweighofer, Erich, An Ontological Representation of EU Consular Law; Schweighofer, Erich/Liebwald, Doris, Konzeption einer Ontologie der österreichischen Rechtsordnung; Schweighofer, Erich/Liebwald, Doris, Projekt LOIS: Juristische Ontologien und Thesauri.
- 13 Vgl. dazu Off, Thomas/Horn, Erika/Lenk, Klaus, Transformation von Rechtsvorschriften in Softwareanforderungen, S. 311ff.
- 14 Lachmayer, Friedrich, Schichten juristischer Probleme.
- 15 Zur Dokumentmodellierung vgl. Lauritsen, Marc/Gordon, Thomas, Toward a general Theory of Document Modeling, S. 204ff.
- 16 Es wird die Notation von Čyras, Vytautas/Lachmayer, Friedrich, Distributive Multimedia and Multisensory Legal Machines, S. 567f, verwendet.
- 17 http://www.grammaticalframework.org/
- 18 Angelov, Krasimir, The Abstract Syntax as Ontology.
- 19 Der Schwerpunkt der Implementierung lag auf der Überprüfung der prinzipiellen Möglichkeit der Generierung von Normtexten aus einer abstrakten Normbeschreibung unter Verwendung einer definierten Grammatik. Es wurden die vorhandenen Sprachmodule ohne Erweiterung genutzt. Teilweise – wie an den Ergebnissen erkennbar – werden Satzstellungen und erzeugte Formulierungen nicht den Anforderungen der juristischen Sprache gerecht. Die notwendigen Programmierungen und Erweiterungen des Systems sind prinzipiell möglich, werden jedoch erst durchgeführt, wenn der Anforderungskatalog durch eine größere Zahl an Anwendungsfällen genauer definiert ist.
- 20 So ergibt das Modell Norm1 TatName Taeter (Strafe (StrafeVonBis StrafeJahr10 StrafeJahr20) StrafeLebenslang) (TatMotive MotivHabgier (TatMotive MotivGemeingefaehrlicheMittel MotivGrausam)) den Normtext der Mörder wird durch Freiheitsstrafe von zehn Jahren und Freiheitsstrafe bis zu zwanzig Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe bestraft. es ist der Mörder der einen Menschen aus Habgier oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder grausam tötet.