Thema des diesjährigen IRIS ist «Abstraktion und Applikation» oder das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Rechtsinformatik. In den mehr als 50 Jahren der Rechtsinformatik wurde ein beeindruckendes Theoriegebäude errichtet; viele Ideen wurden entwickelt und teilweise auch als Prototypen ausprobiert. Für die Nutzer sind hingegen die Anwendungen wichtiger. Die Komplexität des Rechts soll in eine handhabbare Form gebracht werden. Rechtsinformationssysteme, E-Government-, E-Justice- und E-Democracy-Anwendungen haben juristisches Arbeiten wesentlich erleichtert. Das Spannungsverhältnis und die Notwendigkeit einer Synthese sind jedoch geblieben.
1.
Die Sicht der Rechtstheorie ^
2.
Die Sicht der Rechtsinformatik ^
Die Wurzeln der Informatik liegen in der Mathematik – einer formalen und abstrakten Wissenschaft. Die Theoriebildung ist in der Informatik erst am Anfang. Coy stellt nach einem Diskussionsaufriss fest: «Wir brauchen eine Theorie der Informatik!»2 Als Felder der Theoretischen Informatik werden die Theorie formaler Sprachen, Automatentheorie, Berechenbarkeits- und Komplexitätstheorie, Graphentheorie, Kryptologie, Logik und formale Semantik genannt3. Die Informatik versteht sich aber nicht als rein formale Wissenschaft, sondern als Gestaltungswissenschaft mit zentraler Rolle von Sprache, Information, Wissen, System und Organisation. Zwischen formalem Modell und nichtformaler Wirklichkeit4 besteht ein Spannungsverhältnis, weil die Informatik nur mit Artefakten gestalten kann, die mehr oder weniger die Realität abbilden5.
Die Rechtsinformatik ist geprägt durch diesen Gegensatz. Rechtsinformationssysteme bilden die textuelle Realität des Rechts ab und erleichtern durch Suchtechnologien wesentlich den Zugang zum Recht. Juristische Informatik-Systeme hingegen abstrahieren vom Text und zielen auf die Bildung eines formalen Systems des Rechts, sei es durch logische oder begriffliche Strukturen. Seit einiger Zeit werden diese Bemühungen als Ontologien zusammengefasst. Diese sind eine explizite formale Spezifikation einer gemeinsamen Konzeptualisierung6. Kern jeder juristischen Ontologie ist die Beschreibung der realen Welt (des Weltwissens) sowie des Rechtssystems. Die Vernetzung der Begriffswelten des Weltwissens und des juristischen Wissens ist eine Zentralaufgabe der Ontologie. Begriffe, Typen, Instanzen und Klassen werden durch Relationen und Vererbung zur formalen Beschreibung und zur Darstellung der Beziehungen zwischen diesen Objekten verwendet. Dieses Modell ist vereinfachend, aber auch standardisierend, weil die Beschreibung vereinheitlicht und dadurch maschinentauglich ausgetauscht und wiederverwendet werden kann.
3.
Die Sicht der IRIS-Vortragenden ^
Die Spannung von Abstraktion und Applikation wird auch in den Beiträgen der IRIS-Vortragenden spürbar, wie an einigen Beiträgen aufgezeigt werden soll. Gerade im E-Government und E-Democracy werden praktische Anwendungen geschaffen und die Theoriebildung erfolgt später. Winter7 zeigt dies am Beispiel des Melderegisters, das von einer Fülle lokaler Anwendungen in eine standardisierte Form als Zentrales Melderegister gebracht wurde und sich als solches sehr bewährt hat. Die Herausforderung des E-Governments ist es, diese vielen Ideen und Anwendungen in Gesamtlösungen wie Bürgerportal, Unternehmensserviceportal und One-Stop-Shop einzubringen. Schefbeck8 versucht eine Abstraktion des Konsultationsverfahrens. Walser Kessel9 bringt das Potential der Visualisierung ins Spiel, womit das abstrakte Gesetz in eine leicht verständliche Form gebracht wird. Abstraktion dient hier zur Umformung komplexer Inhalte auf das Wesentliche zum einfacheren Verständnis. Blaha10 weist auf die Gefahren der Abstraktion hin. Diese ist für AGB durchaus zweckmäßig, aber bedarf der Konkretisierung im jeweiligen Leistungsvertrag. Knackstedt und Heddier11 wie auch Alber und Elzenheimer12 verwenden Modelle, um die jeweiligen Anforderungen und deren Lösung an die Abstraktion und die Realität anzutasten. Das Modell als Instrument der Planung soll garantieren, dass die IT-Lösung funktioniert und auch den jeweiligen Anforderungen genügt.
4.
Schlussfolgerungen ^
Friedrich Lachmayer, Professor, Universität Innsbruck.
Erich Schweighofer, Ao. Universitätsprofessor, Universität Wien, Arbeitsgruppe Rechtsinformatik (DEICL/AVR).
- 1 Schweighofer, E., Lachmayer, F., Ideas, Visualisations and Ontologies. In: LEGONT’97, Visser, P. R. S./Winkels, R. G. F. (Hrsg.), Proc. of the First International Workshop on Legal Ontologies, S. 7-14 (1997).
- 2 Coy, W., Für eine Theorie der Informatik. In: Coy, W. et al. (Hrsg.), Sichtweisen der Informatik, Viehweg, Braunschweig/Wiesbaden, S. 17-32 (1992).
- 3 Deutsche Wikipedia: Informatik (zuletzt abgefragt: 10.2.2012).
- 4 Zemanek, Heinz, Weltmacht Computer - Weltreich der Information, Bechtle Verlag, Esslingen/München (1991).
- 5 Schweighofer, E., Rechtsinformatik und Wissensrepräsentation, Automatische Textanalyse im Völkerrecht und Europarecht, Forschungen aus Staat und Recht 124, Springer Verlag, Wien (1999).
- 6 Schweighofer, E., Indexing as an ontological-based support for legal reasoning. In: Yearwood, J, Stranieri, A. (eds.), Technologies for Supporting Reasoning Communities and Collaborative Decision Making: Cooperative Approaches, IGI Global Publishers, Hershey, PA 2011, S 213-236 (2011); Sator, G., Casanovas, P., Biasiotti, M.A., Fernández-Barrera, M., Approaches to Legal Ontologies, Springer, Dordrecht (2011).
- 7 Winter, Die Virtualisierung von Basisdaten unterschiedlicher Register; in diesem Tagungsband, S. 171 (2013).
- 8 Schefbeck, Konsultationsverfahren im politischen und normativen System – Von der Abstraktion zur Applikation; in diesem Tagungsband, S. 311 (2013).
- 9 Walser Kessel, Rechtsvisualisierung im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Applikation – am Beispiel des neuen schweizerischen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts; in diesem Tagungsband, S. 403 (2013).
- 10 Blaha, Möglichkeiten und Grenzen von Allgemeinen Vertragsbedingungen für IT-Projekte; in diesem Tagungsband, S. 559 (2013).
- 11 Knackstedt und Heddier, Empirische Evaluation von Rechtsvisualisierungen am Beispiel von Handyverträgen; in diesem Tagungsband, S. 413 (2013).
- 12 Alber und Elzenheimer, Modellqualität in der agilen Entwicklung; in diesem Tagungsband, S. 79 (2013).