Jusletter IT

Abstraktion und Applikation

  • Authors: Friedrich Lachmayer / Erich Schweighofer
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Abstraktion-und-Applikation
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Friedrich Lachmayer / Erich Schweighofer, Abstraktion und Applikation, in: Jusletter IT 20 February 2013
Theorie und Praxis – oder Abstraktion und Applikation – stehen in der Rechtsinformatik in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Nutzer verlangen mehr und mehr nach handhabbaren Lösungen. Ohne eine Einbeziehung der Theorie besteht die Gefahr eines Wildwuchses von zwar nützlichen Anwendungen, die aber im Rechtssystem nicht zweckmäßig eingebettet sind. Das diesjährige IRIS soll dazu beitragen, dass formales Modell und Wirklichkeit eine zweckmäßige Synthese finden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Sicht der Rechtstheorie
  • 2. Die Sicht der Rechtsinformatik
  • 3. Die Sicht der IRIS-Vortragenden
  • 4. Schlussfolgerungen
[1]

Thema des diesjährigen IRIS ist «Abstraktion und Applikation» oder das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis in der Rechtsinformatik. In den mehr als 50 Jahren der Rechtsinformatik wurde ein beeindruckendes Theoriegebäude errichtet; viele Ideen wurden entwickelt und teilweise auch als Prototypen ausprobiert. Für die Nutzer sind hingegen die Anwendungen wichtiger. Die Komplexität des Rechts soll in eine handhabbare Form gebracht werden. Rechtsinformationssysteme, E-Government-, E-Justice- und E-Democracy-Anwendungen haben juristisches Arbeiten wesentlich erleichtert. Das Spannungsverhältnis und die Notwendigkeit einer Synthese sind jedoch geblieben.

1.

Die Sicht der Rechtstheorie ^

[2]
Abstraktion und Applikation scheinen fürs Erste gar nicht zusammenzupassen. Die Abstraktion ist gleichsam der Blick auf die Sternbilder des Himmels, ohne erkennbaren Nutzen. Die Platoniker haben das jahrhundertelang betrieben und haben damit die Weltgeschichte nicht bewegt. Der Platoniker Augustinus hatte eher zur Stabilität der Innenwelten im Sinne der neuen Lehre beigetragen, blieb aber in Vielem der Antike verhaftet.
[3]
Ganz anders die Applikationsleute. Sie können in gewisser Weise als Aristoteliker angesprochen werden, bei denen sich die Struktur in den Sachen vorfindet. In der heutigen Sprache gesprochen sind das die Projektleute, die sehen müssen, dass ihre Produkte und vor allem die Projekte funktionieren. Die Applikationen haben ihr Publikum, das sich sehr rasch ändern kann. Die Halbwertszeit der Applikationen ist wesentlich kürzer als die Halbwertszeit der abstrakten Formeln. Wurde vor dreißig Jahren noch von PCs und von CD-ROMs gesprochen, so sind es heute die Apps, deren bunte und verwirrende Vielfalt in ihrer Verweildauer oft nach Monaten gezählt werden kann.
[4]
Und dennoch machen beide Sichtweisen, beide methodischen Ansätze zwei Gesichter der Rechtsinformatik aus. Ohne Abstraktion geht da nicht viel, würde Herbert Fiedler sagen, oder – nicht im Konjunktiv – sagt es noch immer. Andererseits scheint die Rechtsinformatik als Wissenschaft die Applikationen, die Produkte und die Projekte, zu brauchen. Ein Blick auf die jeweilige Agenda von JURIX zeigt, dass es im Wesentlichen die Applikationsleute sind, welche die Themen bestimmen, welche die Themen entwickeln.

 Abbildung 1: Abstrakte und Applikationen

[5]
Das Abstrakte verkörpert sich in den verschiedenen Realisierungen, die als Applikationen aufgefasst werden können. Das Platonische Modell der Ideenlehre war vordergründig ein mystifizierendes Welterklärungsmodell. In einer zweiten Sicht war Platon jedoch der Protagonist der Homo-Faber-Produktkultur, gleichsam der ideologische Stammvater der modernen Maschinenwelt, mehr als Archimedes, denn dieser konstruierte nur einzelne Maschinen und stellte einige Gesetze auf; Platon jedoch begründete und legitimierte den Mainstream. Im Hintergrund der Bühne des Alltags finden sich die Institutionen, insbesondere die gesellschaftlichen Organisationen, wie etwa der Staat mit seinen diversen Ausgliederungen. Gesellschaftliche Wirklichkeit kommt ohne die Institutionen als Fokus der Sinnwelt nicht aus, auch die Gegenwelten haben ihre Institutionen.
[6]
Die Applikationen sind Teil der realen Funktionszusammenhänge aber auch zunehmend Teil der Sinnwelten. Sie vermögen mit ihren virtuellen Architekturen auch die Sinnwelten in einer Weise abzubilden, wie dies bisher nicht einmal ansatzweise der Fall war.
[7]
Dennoch ist der Kontext weiter:

Abbildung 2: Kontext

[8]
Das Abstrakte kann einem Metabereich zugeordnet werden, welcher unter anderem die Begriffe, in einem weiteren Sinne die Ideen beinhaltet.
[9]
Freilich wird es dazu noch weitere Metaebenen geben, in denen sich seit jeher schon die Logik und seit kurzem die Ontologien finden lassen.
[10]
Schließlich ist noch die Wissenschaft zu erwähnen, welche seit den Zeiten des Nominalismus als ex post aufgefasst wird.
[11]
Ex post und ex ante vermischen sich, indem die Wissenschaft jene Bereiche beschreibt, wenn nicht sogar konstituiert, in denen die Strukturen ex ante vorhanden sind, wenn man einen Platonischen Standpunkt einnimmt.1

2.

Die Sicht der Rechtsinformatik ^

[12]
Hardware und Software schaffen Parallelwelten zur realen Welt. Die Informatik ist digital und nicht analog und bedarf daher vereinfachender Modelle, um die Welt abzubilden. Abstraktion ist ein Verfahren zur Reduktion auf das Wesentliche.
[13]

Die Wurzeln der Informatik liegen in der Mathematik – einer formalen und abstrakten Wissenschaft. Die Theoriebildung ist in der Informatik erst am Anfang. Coy stellt nach einem Diskussionsaufriss fest: «Wir brauchen eine Theorie der Informatik!»2 Als Felder der Theoretischen Informatik werden die Theorie formaler Sprachen, Automatentheorie, Berechenbarkeits- und Komplexitätstheorie, Graphentheorie, Kryptologie, Logik und formale Semantik genannt3. Die Informatik versteht sich aber nicht als rein formale Wissenschaft, sondern als Gestaltungswissenschaft mit zentraler Rolle von Sprache, Information, Wissen, System und Organisation. Zwischen formalem Modell und nichtformaler Wirklichkeit4 besteht ein Spannungsverhältnis, weil die Informatik nur mit Artefakten gestalten kann, die mehr oder weniger die Realität abbilden5.

[14]

Die Rechtsinformatik ist geprägt durch diesen Gegensatz. Rechtsinformationssysteme bilden die textuelle Realität des Rechts ab und erleichtern durch Suchtechnologien wesentlich den Zugang zum Recht. Juristische Informatik-Systeme hingegen abstrahieren vom Text und zielen auf die Bildung eines formalen Systems des Rechts, sei es durch logische oder begriffliche Strukturen. Seit einiger Zeit werden diese Bemühungen als Ontologien zusammengefasst. Diese sind eine explizite formale Spezifikation einer gemeinsamen Konzeptualisierung6. Kern jeder juristischen Ontologie ist die Beschreibung der realen Welt (des Weltwissens) sowie des Rechtssystems. Die Vernetzung der Begriffswelten des Weltwissens und des juristischen Wissens ist eine Zentralaufgabe der Ontologie. Begriffe, Typen, Instanzen und Klassen werden durch Relationen und Vererbung zur formalen Beschreibung und zur Darstellung der Beziehungen zwischen diesen Objekten verwendet. Dieses Modell ist vereinfachend, aber auch standardisierend, weil die Beschreibung vereinheitlicht und dadurch maschinentauglich ausgetauscht und wiederverwendet werden kann.

[15]
Anwendungen sind Softwarelösungen für den praktischen Einsatz von IT. In Zeiten der Benutzerfreundlichkeit und möglichst intuitiven Bedienung von Anwendungen sind (mobile) Apps – als Anwendungssoftware für Tablet-Computer oder Smartphones zur schnellen und unkomplizierten Installation und Nutzung – sehr weit verbreitet. Auch im Recht finden diese zunehmend Verwendung (z.B. RIS App oder die Zeitschriften-Apps bzw. News-Apps der Verlage).
[16]
Die Rechtsinformatik war und ist auf abstrakte und konkrete Lösungen der Informatik angewiesen, um Applikationen in entsprechender Qualität anbieten zu können. Eine überzeugende und günstige Lösung des Zugangs zu Information Retrieval-Systemen konnte erst mit dem Internet angeboten werden. Die App verstärkt diesen Trend und ermöglicht praktikable Lösungen für die mobile Nutzung.

3.

Die Sicht der IRIS-Vortragenden ^

[17]

Die Spannung von Abstraktion und Applikation wird auch in den Beiträgen der IRIS-Vortragenden spürbar, wie an einigen Beiträgen aufgezeigt werden soll. Gerade im E-Government und E-Democracy werden praktische Anwendungen geschaffen und die Theoriebildung erfolgt später. Winter7 zeigt dies am Beispiel des Melderegisters, das von einer Fülle lokaler Anwendungen in eine standardisierte Form als Zentrales Melderegister gebracht wurde und sich als solches sehr bewährt hat. Die Herausforderung des E-Governments ist es, diese vielen Ideen und Anwendungen in Gesamtlösungen wie Bürgerportal, Unternehmensserviceportal und One-Stop-Shop einzubringen. Schefbeck8 versucht eine Abstraktion des Konsultationsverfahrens. Walser Kessel9 bringt das Potential der Visualisierung ins Spiel, womit das abstrakte Gesetz in eine leicht verständliche Form gebracht wird. Abstraktion dient hier zur Umformung komplexer Inhalte auf das Wesentliche zum einfacheren Verständnis. Blaha10 weist auf die Gefahren der Abstraktion hin. Diese ist für AGB durchaus zweckmäßig, aber bedarf der Konkretisierung im jeweiligen Leistungsvertrag. Knackstedt und Heddier11 wie auch Alber und Elzenheimer12 verwenden Modelle, um die jeweiligen Anforderungen und deren Lösung an die Abstraktion und die Realität anzutasten. Das Modell als Instrument der Planung soll garantieren, dass die IT-Lösung funktioniert und auch den jeweiligen Anforderungen genügt.

4.

Schlussfolgerungen ^

[18]
Die nunmehr mehr als 50jährige Geschichte der Rechtsinformatik ist durch den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis geprägt. Gute Lösungen bedürfen einer Synthese. In vielen Bereichen der Rechtsinformatik ist dieser Prozess im Gange. Es ist ein wenig vergleichbar mit der rechtsdogmatischen Durchdringung der Rechtsmaterialien. Erst die Abstraktion macht ganzheitliche Lösungen durchführbar.

 


 

Friedrich Lachmayer, Professor, Universität Innsbruck.

 

Erich Schweighofer, Ao. Universitätsprofessor, Universität Wien, Arbeitsgruppe Rechtsinformatik (DEICL/AVR).

 


 

  1. 1 Schweighofer, E., Lachmayer, F., Ideas, Visualisations and Ontologies. In: LEGONT’97, Visser, P. R. S./Winkels, R. G. F. (Hrsg.), Proc. of the First International Workshop on Legal Ontologies, S. 7-14 (1997).
  2. 2 Coy, W., Für eine Theorie der Informatik. In: Coy, W. et al. (Hrsg.), Sichtweisen der Informatik, Viehweg, Braunschweig/Wiesbaden, S. 17-32 (1992).
  3. 3 Deutsche Wikipedia: Informatik (zuletzt abgefragt: 10.2.2012).
  4. 4 Zemanek, Heinz, Weltmacht Computer - Weltreich der Information, Bechtle Verlag, Esslingen/München (1991).
  5. 5 Schweighofer, E., Rechtsinformatik und Wissensrepräsentation, Automatische Textanalyse im Völkerrecht und Europarecht, Forschungen aus Staat und Recht 124, Springer Verlag, Wien (1999).
  6. 6 Schweighofer, E., Indexing as an ontological-based support for legal reasoning. In: Yearwood, J, Stranieri, A. (eds.), Technologies for Supporting Reasoning Communities and Collaborative Decision Making: Cooperative Approaches, IGI Global Publishers, Hershey, PA 2011, S 213-236 (2011); Sator, G., Casanovas, P., Biasiotti, M.A., Fernández-Barrera, M., Approaches to Legal Ontologies, Springer, Dordrecht (2011).
  7. 7 Winter, Die Virtualisierung von Basisdaten unterschiedlicher Register; in diesem Tagungsband, S. 171 (2013).
  8. 8 Schefbeck, Konsultationsverfahren im politischen und normativen System – Von der Abstraktion zur Applikation; in diesem Tagungsband, S. 311 (2013).
  9. 9 Walser Kessel, Rechtsvisualisierung im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Applikation – am Beispiel des neuen schweizerischen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts; in diesem Tagungsband, S. 403 (2013).
  10. 10 Blaha, Möglichkeiten und Grenzen von Allgemeinen Vertragsbedingungen für IT-Projekte; in diesem Tagungsband, S. 559 (2013).
  11. 11 Knackstedt und Heddier, Empirische Evaluation von Rechtsvisualisierungen am Beispiel von Handyverträgen; in diesem Tagungsband, S. 413 (2013).
  12. 12 Alber und Elzenheimer, Modellqualität in der agilen Entwicklung; in diesem Tagungsband, S. 79 (2013).