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Die Digitalisierung der Demokratie – gelingt die Öffnung des Policy Cycle?

  • Author: Reinhard Riedl
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: E-Democracy, E-Government
  • Citation: Reinhard Riedl, Die Digitalisierung der Demokratie – gelingt die Öffnung des Policy Cycle?, in: Jusletter IT 25 May 2016
The actual effects of digital transformation on democracy and the role of the state as well as the future vision of an opening of the policy cycle by means of e-participation are being discussed in this article. Analysed are the reasons for e-participation’s constant failing and how the policy cycle will undergo changes for IT topics even without e-participation. The article is closing with a summary of the lessons learned and the designing of four ideas on how old and new cultural knowledge can be used to further develop digital democracy. (ah)

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Neue politische Chancen und Herausforderungen durch Technologieinnovationen
  • 1.1. Konventionelle Digitalisierungswirkung
  • 1.2. Zukunftsutopie – Wunsch und Wirklichkeit
  • 1.3. Disruptive Herausforderungen für den Status Quo
  • 1.4. Digitalisierungsphänomenen bei demokratischen Prozessen
  • 1.5. Die Digitalisierung des Gegenstands der Politikgestaltung
  • 1.6. Die komplexitätssteigernde Wirkung der Digitalisierung
  • 1.7. Digitalisierung des konventionellen Policy Cycles
  • 2. Der Kontext und die Interessen zählen
  • 2.1. Grosse Unterschiede zwischen den Ländern
  • 2.2. Tatsächliche Bedürfnisse
  • 2.3. Das Verhältnis von Politik, Verwaltung und Wissenschaft
  • 2.4. Globaler Kontext
  • 3. Die Zukunft der Digitalen Demokratie
  • 3.1. Einfache Erkenntnisse als Ausgangspunkt
  • 3.2. Vier Ideen zum Weiterverfolgen
  • 3.3. Zusammenfassung

1.

Neue politische Chancen und Herausforderungen durch Technologieinnovationen ^

1.1.

Konventionelle Digitalisierungswirkung ^

[1]

Die Digitalisierung wird schon jetzt von vielen Akteuren in der Politik genutzt. Sie führt dazu, dass der Zugriff auf Informationen und deren Verarbeitung und Nutzung für alle erleichtert wird – wenn auch nicht für alle im gleichen Mass. Denn wer über Kompetenz in Datenanalytik und/oder der Bewirtschaftung digitaler sozialer Medien verfügt, profitiert wesentlich mehr von der Digitalisierung als jene, die sich darauf beschränken, die Digitalisierung im alltagsüblichen Sinn zu benutzen (z.B. durch Einsatz von E-Mails für die interne Organisation der eigenen Gruppe).

[2]
Beispielsweise setzte Obama in den USA in beiden Präsidentschaftswahlkämpfen Datenanalytik sehr erfolgreich ein,1 einerseits zur Maximierung der Spenden, anderseits vor allem im zweiten Wahlkampf auch zur Identifizierung von unentschiedenen und veränderungsbereiten Wählern.
[3]

Je nach Perspektive kann dieses Beispiel dahin interpretiert werden, dass einzelne Akteure (nicht notwendigerweise nur aus dem politischen Establishment) durch die Digitalisierung mächtiger werden und der Souverän (das Volk) effektiver manipuliert wird, oder auch dahin, dass die Mitglieder des Souveräns sich aktiver in die Demokratie einbringen können, weil sie beim Spendensammeln und Überzeugen von anderen nun einfacher mithelfen können.

1.2.

Zukunftsutopie – Wunsch und Wirklichkeit ^

[4]

Doch die Hoffnungen im Diskurs um die Digitalisierung der Demokratie gehen viel weiter als einfacheres Spenden und die Beteiligung der Wähler an der Wahlwerbung. Sie werden meist unter dem Begriff «Partizipation» zusammengefasst und beziehen sich auf die Stärkung der Legitimation staatlichen Handelns und die Verbesserung der Problemlösungskompetenz des Staats. Beides soll dadurch erreicht werden, dass der Policy Cycle (Problemdefinition – Agenda Setting – Politikformulierung – Politikimplementierung – Politikevaluierung – Politikterminierung/Problemredefinition) geöffnet wird für eine freiere, einfachere, proaktive Beteiligung aller Interessierten. Ziel ist, dass sich mehr Akteure aktiv in die Gestaltung des Policy Cycle einbringen können, die dringlichsten Probleme im Agenda Setting besser identifiziert werden können, mehr kreative Problemlösungsideen in die Politikformulierung und die Politikimplementierung einfliessen und die Politikevaluierung wirklichkeitsnäher durchgeführt wird. Insbesondere hofft man, jene zu involvieren, die von den zu lösenden Problemen direkt betroffen sind. Denn der Staat und sein Souverän sollen einander näher kommen, so die Zukunftsutopie, die oft in den Begriff «Multilevel Multistakeholder Governance» gekleidet wird, insbesondere – aber nicht nur – im Bereich Umweltschutzpolitik.2

[5]

Diese Hoffnungen auf die Öffnung des Policy Cycles haben sich aber bisher kaum erfüllt. Die aktive Beteiligung von politikfernen Kreisen der Bevölkerung am Policy Cycle findet selten statt und nutzt im konkreten Fall die Digitalisierung nur im alltagsüblichen Sinn. Die Demokratie gewinnt so kaum an Vielfalt (zumindest nicht durch Digitalisierung der Prozesse im Policy Cycle), sondern bleibt im Wesentlichen auf die traditionellen Formen der repräsentativen und direkten Demokratie beschränkt. Neue Ideen werden von der Bevölkerung in der Schweiz nach wie vor primär über Volksinitiativen eingebracht, beziehungsweise findet in Ländern ohne vergleichbare Instrumente das Einbringen neuer Ideen nach wie vor nur durch nicht über Parteien und Verbände organisierte Kreise der Bevölkerung statt.

[6]

Es gab zwar zahllose Experimente in E-Partizipation,3 beispielsweise gefördert durch das CIP-PSP Programm der EU und aktuell durch Innovationsprojekte im Horizon2020 Programm der EU, doch sie litten und leiden an geringer Beteiligung, an schwer ausweisbarer Wirkung und an der Nichtverstetigung. Ihre Nachhaltigkeit endet meist mit dem Enden der Finanzierung. Andere von der Politik direkt initiierte Experimente, wie zum Beispiel eZürich, waren zwar im bescheiden Masse erfolgreich – mit in diesem Fall 1'223 Registrierungen4 – aber sie basierten auf der Involvierung eines Expertengremiums und ihre Stärke bestand gerade darin, dass das politische Establishment grosses Eigeninteresse hatte und sich stark indirekt und teilweise auch direkt selbst engagierte.

[7]

Analysiert man eZürich oder andere «erfolgreiche» Beispiele, so zeigt sich, dass ein breites Setting für ein Experiment es geradezu ausschliesst, dass neue Ideen auftauchen. Die geäusserten Ideen spiegeln vielmehr in generalistischen Settings ohne klare Problemfokussierung den an sich bekannten nationalen und internationalen Dialog wieder. Die fehlende institutionell verankerte Wirkung der Abstimmungsmechanismen zusammen mit der geringen Beteiligung schränkt die Bedeutung der Abstimmungen im Rahmen von E-Partizipationsverfahren stark ein. Dafür können diese aber von Schlüsselakteuren des traditionellen politischen Systems genutzt werden, um bereits vorhandene Ideen zu voranzutreiben. Dies kann beispielsweise in Sparphasen neue Investitionen legitimieren oder – im Fall eines Participatory Budgeting – die Bevölkerung über die dramatische Haushaltssituation informieren und so mehr Verständnis für die Notwendigkeit des Sparens schaffen.5

1.3.

Disruptive Herausforderungen für den Status Quo ^

[8]

Trotz der bislang enttäuschten Hoffnungen, durch E-Partizipation mehr Menschen an der aktiven Politikgestaltung beteiligen zu können, wird traditionelle Politik durch die Digitalisierung in Frage gestellt. Denn diese fördert kontradiktorische Entwicklungen von fast disruptivem Charakter, die keine einheitliche Interpretation zulassen: unter anderem Entpersonalisierung und Personalisierung oder Abbau und Erhöhung staatlicher Kontrolle.

[9]

Politik wird entpersonalisiert, wenn beispielsweise Shitstorms die Ratifizierung von internationalen Verträgen verhindern, obwohl niemand weiss, wer tatsächlich dahinter steckt, wie viele Menschen tatsächlich involviert sind und wie viele Meldungen von Maschinen automatisiert produziert werden. Gleichzeitig profitiert Politik immer mehr von Personalisierungstechniken, wenn beispielsweise Big Data in den USA genutzt wird, um Wechselwähler zu identifizieren oder politische Spendenkampagnen zu optimieren. Menschen werden also durch Programme ersetzt und gleichzeitig gestalten Programme die Beziehung zwischen Politikern und Wählern persönlicher. Ersteres schwächt die traditionellen Politiker, setzt etablierte demokratische Prozesse teilweise ausser Kraft und verringert die Transparenz. Zweiteres verbessert die Möglichkeiten zur Manipulation von Wählern, indem es diese gläsern macht. Beides bietet Wählern Vorteile, liefert sie aber auch mehr der Manipulationsmacht finanzkräftiger politischer Player aus.

[10]

Analog findet ein Abbau staatlichen Einflusses beziehungsweise eine Entstaatlichung statt, wenn Cyberwährungen sich etablieren, hinter denen kein Staat steht. Und es findet gleichzeitig eine Erhöhung der staatlichen Kontrolle statt, wenn der Automatische Informationsaustausch (AIA)6 etabliert wird. Bei beiden Innovationen geht es um die Transparenz der Finanzflüsse. Cyberwährungen wie beispielsweise Bitcoin7 versuchen, diese – oft ohne Erfolg – der Beobachtung zu entziehen, während der AIA diese möglichst gläsern machen will.

[11]

Diese Beispiele zeigen, dass sich die Machtverhältnisse zu verschieben drohen, ohne dass die Richtung klar wäre, weil sowohl legislative Prozesse als auch institutionelle Aufgaben des Staats in Frage gestellt werden. Es wird aber auch offensichtlich, dass bisherige Akteure im System die Digitalisierung zur Weiterentwicklung ihres Einflusses nutzen. Und dass neue Akteure in der Politik gute Einstiegschancen haben, wenn sie über IT-Kompetenzen verfügen.8 Die dabei eingesetzten Instrumente sind dabei schon jetzt sehr mächtig, obwohl sie sich erst in Entwicklung befinden.

1.4.

Digitalisierungsphänomenen bei demokratischen Prozessen ^

[12]

Die skizzierten Digitalisierungsinstrumente und Beispiele werfen unter anderem (die Liste ist keineswegs abschliessend) folgende Frage auf:

  • Identitätsnachweise: Ist eine politische Meinungsbildung zu berücksichtigen, bei der unbekannt bleibt, welche Personen sie machen (und ob diese dies freiwillig und unbezahlt tun)? Wenn nicht: Welche Identitätstransparenz ist in welchem Fall notwendig?
  • Politische Maschinen: Sollen Programme uneingeschränkt für Wahlkämpfe und die Beeinflussung politischer Entscheidungsprozesse genutzt werden dürfen?
  • Prozess-Shortcuts: Wie soll man sich in politischen Prozessen verhalten, wenn sie auf digitalem Weg (statt konventionell durch Demonstrationen) ausgehebelt werden?
  • Institutionelle Aufgabenbereiche: Wie soll der Staat reagieren, wenn seine Geschäftsbereiche durch Selbstorganisation ersetzt werden?
  • Grenzen des gläsernen Bürgers/Unternehmens: Darf der Staat seine Überwachung des Bürgers bzw. der Unternehmen beliebig ausdehnen, wenn der Verdacht besteht, dass Bürger staatliche Regeln ignorieren?
  • Grenzen des gläsernen Wählers: Dürfen Politiker beliebig in die Privatsphäre der Wähler eindringen, um sie für sich zu gewinnen?
[13]

Diese Beispielfragen skizzieren exemplarisch das weite Feld an demokratischen Grundsatzfragen, die sich durch die Digitalisierung stellen. Von ihnen ausgehend kann man sofort weitere zukünftige Grundsatzfragen identifizieren – beispielsweise:

  • Selbstorganisation der Bevölkerung: Soll der Staat die Selbstorganisation als Alternative zu staatlichem Handeln fördern? Und wenn ja: mit oder ohne die Teilabschaffung von staatlichen Aufgaben? Beziehungsweise: In welchen Bereichen soll der Staat das tun?
  • Neue Prozesse: Wie sollen die legislativen Prozesse angepasst werden, um spontan entstehende politische Bewegungen effizienter als bisher in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen? Wie können durch Umgestaltung der Prozesse teure politische Leerläufe reduziert werden, die dadurch entstehen, dass die Bevölkerung sich zu spät, aber umso entschiedener an den Entscheidungsprozessen beteiligt?
[14]

Unsere bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass die Mächtigkeit digitaler Werkzeuge zum Politikmachen zunehmen und zu disruptiven Veränderungen der gelebten Demokratie führen wird. Derzeit fehlt eine Systemdebatte, die diese disruptiven Veränderungen antizipiert und den Handlungsbedarf klärt.

1.5.

Die Digitalisierung des Gegenstands der Politikgestaltung ^

[15]

Mehr als die demokratischen Prozesse betrifft die Digitalisierung den Gegenstand der Politikgestaltung. Wirtschaft und Gesellschaft verändern sich stark, weil die Digitalisierung als Enabler für Menschen wie für Organisationen wirkt, um ihr Handeln effizienter und erfolgreicher zu gestalten und neue Handlungsfelder zu erobern.

[16]

Die Digitalisierung ermöglicht und führt zu weitgehenden Professionalisierungen in allen Fachberufen, wovon legales wie auch illegales Geschäften profitiert. Sie ermöglicht eine Versachlichung von Entscheidungen, was insbesondere wiederum zur Professionalisierung von organisationalem Handeln führt. Und sie schafft neue Organisationsmöglichkeiten. Beispielsweise und insbesondere werden so Hierarchien durch Plattformen mit Queries ersetzt und ganze Wirtschaftszweige für nebenberufliche Leistungsanbieter geöffnet (z.B. durch Uber). Sie vereinfacht aber auch viele schon bisher existierende Formen von komplexen Geschäftstätigkeiten und/oder von grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeiten.

[17]

Eine Folge dieser Veränderungen ist ein Vordringen der Economies of Scale in der Wirtschaft. Eine andere sind immer weiter fortschreitende Personalisierungen, die sich für die Betroffenen nicht selten als Diskriminierungen auswirken. (Man bekommt Sonderangebote, Stellenangebote oder günstige Versicherungsbedingungen – oder man bekommt sie nicht.) Und ein dritte Folge, mehr Nebeneffekt als bewusst angestrebt, ist, dass Bürgerrechte wie das Recht auf den Schutz der Privatsphäre, sich ins Nichts auflösen.9 Wenn beispielsweise personenbezogene Daten in anonymisierter Form rechtmässig veröffentlicht werden, anschliessend auf verschiedensten Weg exportiert und rekombiniert werden, und zuletzt im Ausland erfolgreich deanonymisiert und rechtskonform nach ausländischem Gesetz genutzt werden, so zeigt dies, dass Datenschutz eine Illusion ist – insbesondere dann, wenn er wie in der Schweiz auf nichtstabilen Eigenschaften (personenbezogene bzw. anonymisierte, besonders bzw. nicht besonders schützenswerte Daten) beruht. Angesichts des Kontrollverlusts über die Daten stellt sich die Frage, ob mindestens abgeleitete Schutzwirkungen des traditionellen Schutzes des Privatsphäre erhalten bleiben sollen.

[18]

Die wichtigsten offenen Fragen lauten (auch diese Liste ist keineswegs vollständig):

  • In welchen Bereichen sollen Menschen von datenbasierter Diskriminierung geschützt werden?
  • Gibt es Regulierungsbedarf für eine digitalisierte Arbeitswelt, in der Arbeit digital aufgezeichnet und kontrolliert werden kann? Beziehungsweise allgemeiner: Führt die informationsökonomische Verschiebung des Informationsungleichsgewichts zwischen Prinzipal und Agent zugunsten des Prinzipals zu neuem Regulierungsbedarf?
  • Sollen die entstehenden Plattformen zur Vernetzung von Kunden und Anbieter, d.h. insbesondere Plattformen mit zwei oder mehr komplementären Kundengruppen, speziell reguliert werden, um den Marktmächten einen Ordnungsrahmen zu geben?
  • Soll die nationale Wirtschaft dabei unterstützt werden, in neu entstehenden digitalen Märkten (z.B. dem angestrebten digitalen Binnenmarkt der EU) Fuss zu fassen? Soll von Seiten des Staates der Aufbau der digitalen Marktinfrastrukturen speziell gefördert werden?
  • Wie kann der Staat seinen Kontrollaufgaben in Bezug auf die Wirtschaft angesichts der stetigen Zunahme der Komplexität wirtschaftlichen Handelns nachkommen?
  • Wie weitgehend soll das Digitalisierungspotential für eine Weiterentwicklung der Justiz genutzt werden und welche Regulierungen braucht es hierfür (wenn z.B. Big Data in Gerichtsverfahren genutzt werden soll)?
[19]

Obwohl diese Fragen an sich konventionelle politische Fragen sind, so hängen sie direkt mit der Digitalisierung zusammen, weil diese das Spiel der gesellschaftlichen Kräfte verändert hat. Man muss davon ausgehen, dass im Fall gewünschter neuer Regulierungen deren Implementierung selbst auf innovative Weise den IT-Fortschritt nutzen wird müssen, um erfolgreich zu sein, denn global vernetzte Prozesse können nicht mit analogen Mitteln ausreichend kontrolliert werden. Es wird sogar notwendig werden, schon für die Politikformulierung aktuell entstehende, innovative Informationstechnologien zu nutzen, um Zusammenhänge darstellen und Regulierungsfolgen simulieren zu können, denn die Komplexität der zu regulierenden Systeme wächst.

1.6.

Die komplexitätssteigernde Wirkung der Digitalisierung ^

[20]

Die oben skizzierten neuen Regulierungsfragen demonstrieren, dass der Anspruch, dass politikferne Kreise der Bevölkerung breiter an der Politikgestaltung mitwirken können sollen, durch fortschreitende Digitalisierung zuallererst irrealer wird. Die Digitalisierung ermöglicht eine höhere Vernetzung, die Nutzung von Freiräumen und die Realisierung komplexerer Organisationen. Damit fordert sie von Mitgestaltern der Politik immer mehr Fachkompetenz ein und unterliegt zugleich immer mehr Sachzwängen, die für eine erfolgreiche Politikgestaltung durschaut werden müssen, sodass ein konstruktive Beteiligung an der Politikgestaltung immer mehr Fachwissen einfordert.

[21]

Sofern die politikfernen Kreise Fachexperten sind, macht sie dies zu willkommenen Partnern der Politik, für deren Einbezug es aber keine neuen digitalen Demokratieprozesse braucht. Handelt es sich dabei aber um den normalen Bürger von der Strasse, so wird der Einbezug immer unrealistischer. Denn dieser «normale Bürger» besitzt eben genau nicht die Fähigkeit professioneller Politikerinnen und Politiker, vernünftige politische Entscheidungen zu treffen, ohne für den Gegenstand selbst Fachexperten zu sein.

[22]

Statt mehr Beteiligung der «normalen Bürger/Einwohner» anzustreben, wäre es viel realistischer, digitale Werkzeuge für Politikprofis zu entwickeln, um einfacher und schneller den komplexen Dschungel der sich digitalisierenden Gesellschaft zu verstehen. Dabei würde dann die Digitalisierung der Politik auf eine Weiterentwicklung der professionsspezifischen Kompetenzen hinauslaufen, wie es in vielen Teilen der Wirtschaft geschieht. Ein willkommener Nebeneffekt wäre, wenn diese Werkzeuge hohe Maturität erreichen würden, sodass sie dann auch von Nichtspezialisten genutzt werden könnten und damit die Verständlichkeit von politischen Trade-offs trotz wachsender Komplexität für breitere Kreise der Bevölkerung zumindest nicht abnehmen würde.

[23]

Wir benötigen deshalb Forschung und Entwicklung, um politische Zusammenhänge verständlicher und politische Diskussionen fruchtbarer zu gestalten. Dazu zu zählen Referenzmodelle für politische Handlungsfelder,10 aber auch Simulationswerkzeuge zum vergleichenden Simulieren der Wirkung von Regulierungsalternativen. Entscheidend bei solchen Modellen und Werkzeugen sind die einfache Verständlichkeit, die einfache Bedienbarkeit und im Fall von Simulationswerkzeugen die Transparenz der Modelle, welche die Simulation leiten.

1.7.

Digitalisierung des konventionellen Policy Cycles ^

[24]

Obige Schlussfolgerung kann man auch allgemeiner so formulieren: Es gibt gute Gründe, sich auf die konsequente Weiterentwicklung der Digitalisierung des konventionellen Policy Cycles zu fokussieren. Hierbei geht es vor allem um folgende Aspekte:

  • Bereitstellung eines einfachen Zugangs zu relevanten Informationen;
  • Visualisierung komplexer Zusammenhänge und Abhängigkeiten im Gestaltungsfeld (siehe oben);
  • Nutzung von Big Data für die Antizipation zukünftiger Entwicklungen;
  • Simulation alternativer Strategien für Regulierungen und staatliches Handeln (siehe oben);
  • Visuell unterstützte Gegenüberstellung von Perspektiven, alternativen Politikvorschlägen und alternativen Stellungnahmen (z.B. im Rahmen einer Vernehmlassung);
  • Datenbasierte Politikevaluation (eventuell sogar in Echtzeit);
  • Unterstützung demokratischer Selbstorganisation (z.B. das Vernetzen mit Gleichgesinnten).
[25]

Die Technologien hierfür sind vorhanden. Die notwendigen technischen Werkzeuge sind teilweise bereits entwickelt. Bei der praktischen Nutzung stehen wir aber erst am Anfang, denn entweder betreffen die Werkzeuge nur Ausschnitte von politischen Handlungsfeldern oder sie sind schwer verständlich, schwer zu handhaben und weitgehend intransparent. Es braucht also vermehrt angewandte Forschung und Entwicklung, die sich auf die Aspekte Verständlichkeit, Benutzbarkeit und Transparenz digitaler Werkzeuge für die Politikgestaltung konzentriert.

[26]
Allerdings gibt es auch viele tiefhängend Früchte – unter anderem viele Beispiele dafür, wie ganz ohne Big Data allein durch konventionelles Informationsmanagement politisch kritische Situationen vermieden hätten werden können. Beispielsweise war Ende März 2015 weitgehend klar, dass es einen Massenexodus aus den Flüchtlingslagern ausserhalb Syriens geben werde, weil die finanzielle Versorgung langfristig das Verhungern der Bewohner dieser Lager bedeutet hätte. Trotzdem hat insbesondere die deutsche Bundespolitik diese Informationen nicht berücksichtigt und deshalb die Grösse des zu erwartenden Flüchtlingsstroms stark unterschätzt. Ein effektiveres verwaltungsinternes Informationsmanagement hätte dies vermieden. Das illustriert, dass die Bereitstellung der relevanten Information notwendig, aber nicht hinreichend ist. Zusätzlich ist es noch entscheidend, die Aufmerksamkeit auf die wichtige Information zu lenken.
[27]
Zu berücksichtigen als Bottom-Line ist bei allem Mehr an Informationsbereitstellung, dass wie massgeschneidert die Information für den Einzelnen auch dank der Technologie bereitgestellt wird, dies zwei Probleme nur marginal mindert: die Notwendigkeit sachlichen Verstehens und existierende Interessenskonflikte.

2.

Der Kontext und die Interessen zählen ^

2.1.

Grosse Unterschiede zwischen den Ländern ^

[28]

Die Diskussion der Digitalisierung der Demokratie wird zwar häufig global geführt, beispielsweise bei den Themen E-Partizipation und liquide Demokratie, aber die nationalen Erfahrungen sind nur sehr bedingt zu vergleichen, weil die Demokratie in einem Land sowohl in Bezug auf formale Aspekte als auch in Bezug auf die Ziele, Erwartungshaltungen und generell die gelebte Wirklichkeit sehr unterschiedlich sein kann. Beispielsweise zeigte ein wissenschaftlicher Austausch von Schweizer und bulgarischen E-Voting Experten kürzlich, dass in Bulgarien E-Voting auch dazu dienen soll, Wahlmanipulationen zu erschweren – ein Ziel, das so in der Schweiz nicht existiert, weil ein fehlerhafter Umgang mit Wahlstimmen äusserst selten beobachtet wird. Gleichzeitig ergab sich, dass trotzdem die Sicherheitsanforderungen in der Schweiz wesentlich höher sind als in Bulgarien.

[29]

Der Kontext, in dem Demokratie stattfindet, kann also sehr unterschiedlich sein. Zu diesem Kontext zählen neben den formalen Rechtsgrundlagen die demokratische Kultur und die Verteilung des relevanten Wissens. Zur demokratischen Kultur kann man in Anlehnung an das Konzept der Unternehmenskultur die mehr oder weniger geteilten Überzeugungen und auch Mythen zählen, sowie die durch Erfahrung geprägten Erwartungshaltungen und die meist in der Jugend angeeigneten ideologischen Haltungen, beziehungsweise die Werthaltungen. Zum relevanten Wissen sollte man sowohl ein Wissen über die politisch zu entscheidenden Sachfelder als auch ein Wissen über die demokratischen Prozesse sowie persönliches Erfahrungswissen in der Nutzung demokratischer Instrumente zählen. Dieser spezifische Kontext beeinflusst die gelebte Demokratie und wird von ihr beeinflusst. Er entscheidet, in welchem Ausmass die Digitalisierung tatsächlich die Demokratie verändert und insbesondere, welchen Anklang digitale Instrumente zur Weiterentwicklung der Demokratie finden.

2.2.

Tatsächliche Bedürfnisse ^

[30]

Viele Experimente im Bereich E-Partizipation gehen davon aus, dass Bürger sich beteiligen sollen, bisweilen ergänzt um die Klage, dass die Wahlbeteiligung sinkt. Dies scheint politisch neutral zu sein, ist aber ein ideologischer Zugang. Denn es ist unklar, inwieweit das Gemeinwohl von einer proaktiven Beteiligung von Bürgern tatsächlich profitieren würde. Angesichts der wiederkehrend geringen Teilnahme an E-Partizipationsexperimenten stellt sich sogar die Frage, ob es nicht einen Mangel an Respekt vor dem Souverän darstellt, wenn man Steuergeld dafür ausgibt, dass Menschen zur aktiven Beteiligung an der Politikgestaltung bewegt werden.

[31]

Die in der Praxis beobachteten Bedürfnisse zielen eben nicht auf ein proaktives Mitmischen im Policy Cycle ab. Die häufigsten bedarfsgetriebenen bottom-up Verhaltensformen sind

  • Menschen wenden sich gegen politische Entscheidungen und wollen diese aufheben.
  • Menschen wenden sich gegen einzelne gesellschaftliche Gruppen oder deren Verhalten und verlangen rechtliche Vorschriften für diese Gruppen.
  • Menschen fordern eine spezifische Wertorientierung.
  • Menschen fordern Vorrechte für sich und/oder andere gesellschaftliche Gruppen.
  • Menschen verbinden sich mit dem Kollektiv, um unliebsame Akteure zu beschimpfen.
[32]

All dies sind häufig zu beobachtende Verhaltensweisen, hinter denen offensichtlich auch ganz reale Bedürfnisse stehen – vor allem Bedürfnisse nach Opposition gegen Handeln des politischen Establishments, Bedürfnisse nach mehr positiver Wertorientierung, sowie ganz traditionelle Interessen, die Vorrechte und Pfründe der eigenen Gruppe zu sichern.

[33]

Allerdings mag die fehlende Beteiligung an E-Partizipationsexperimenten auch daran liegen, dass die Experimente bisher fast immer Mängel hatten und insbesondere keine institutionell bindende Wirkung von ihnen ausging. In «Simulative Demokratie»11 skizziert Ingolfur Blühdorn die Situation dagegen dahingehend, dass das Bedürfnis nach mehr Beteiligung und intensiven Beteiligungsinteressen wächst, aber die Bereitschaft für das sich Einlassen auf langwierige politische Prozesse ebenso schwindet wie der tatsächliche politische Handlungsspielraum.

[34]

Das weist nicht nur auf objektive Schwierigkeiten hin, die Partizipationsbedürfnisse zu erfüllen, sondern definiert auch Anforderungen an die Erlebnisqualität der E-Partizipationslösungen, die diese bisher auch nicht ansatzweise erfüllt haben. Es könnte also sehr wohl möglich sein, dass es ein grosses Bedürfnis nach digitalen Beteiligungswerkzeugen von hoher technischer und emotionaler Qualität gibt, dies aber noch nie beobachtet werden konnte, weil es schlicht diese Werkzeuge nicht gab. Auch das Smartphone war lange erfolglos, bevor durch das iPhone eine qualitativ hochwertige Art von Smartphone auf den Markt kam.

2.3.

Das Verhältnis von Politik, Verwaltung und Wissenschaft ^

[35]

Innovationen kommen je nach Land von verschiedenen Gruppen, wobei aber primär Regierungen, die Verwaltungen und die Wissenschaften mit innovativen Vorschlägen auftreten. In weiten Teilen der wissenschaftlichen Literatur, aber auch in Strategiepapieren der EU-Kommission,12 gehört es zum Grundverständnis, die öffentliche Verwaltung als inkompetent, risikoscheu und ideenlos zu qualifizieren. In weiten Teilen der Verwaltung wird die Wissenschaft als «wertvoll aber …» abgetan, beispielsweise mit dem Hinweis, dass Hochschulvertreter keine Ahnung vom tatsächlichen Funktionieren einer Verwaltung haben. Ob es auch härtere Urteile gibt, kann der Autor dieses Beitrags nicht beurteilen, weil ihm als Vertreter der Hochschullehrerzunft gegenüber meist die Höflichkeit gewahrt wird.

[36]

In Einzelinterviews erlebt man als Forscher nicht nur, dass in manchen Orten die Regierenden die Verwaltung abqualifizieren, sondern auch dass umgekehrt Verwaltungsmitarbeitende es als ihre Verantwortung ansehen, zu verhindern, dass unfähige Regierungen das Land ruinieren. Wobei generell unter Fachexperten in den DACH-Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz) ein im internationalen Vergleich ungewöhnlich positives Urteil über die Eigeninnovationskraft der öffentlichen Verwaltung gefällt wird, in manch anderen Ländern aber ganz und gar nicht.

[37]

Unabhängig von der Position, die man zu diesen Querelen einnimmt, lässt sich der Schluss ziehen, dass eine funktionierende E-Partizipation sich nicht auf den Austausch des Souveräns mit Parlamenten und Regierungen beschränken darf, sondern mindestens im gleichen Mass den Austausch zwischen Souverän und der öffentlichen Verwaltung und den Austausch zwischen Souverän und den Hochschulforschenden beinhalten sollte.

[38]

Darüber hinaus sollte E-Partizipation auch die Beziehungen zwischen den professionellen Wissensträgern selbst fördern – konkret zwischen Verwaltung, Regierung und Wissenschaft. Denn nur wenn diese Beziehungen gut sind, kann Wissen bereichsübergreifend vernetzt werden – eine Vernetzung, die eben gerade durch das Komplexitätswachstum in der Politik dringender ist als je zuvor.

2.4.

Globaler Kontext ^

[39]

Ebenso wichtig wie der lokale/nationale Demokratiekontext sind die globalen Trends, welche die ganze Gesellschaft inklusive Wirtschaft und Politik verändern. Denn wenn sich alles ausser der Demokratie ändert, wird sich in der Folge auch die Demokratie verändern.

[40]

Es gibt insbesondere vier relativ stabile gesellschaftliche Trajektorien:

  • einen fortdauernden IT-Fortschritt, der die Erhöhung der Abstraktion mit einem umfassenden Einbau von IT in alles und jedes und ein Vernetzen aller Ressourcen verbindet;
  • eine fortschreitende Vernetzung und Globalisierung, welche die Märkte und die Gesellschaften umgestaltet, indem sie Grenzen verschiebt, auflöst oder auch neu schafft;
  • eine wachsende Fokussierung auf die Themen Gesundheit und Zusammenarbeit, die zu einem neuen Ressourcenverständnis führt;
  • ein Bündel sogenannter (weiterer) Megatrends13, wie Städtewachstum, Frauenpower, Individualisierung und Downaging.
[41]

Diese Trajektorien transportieren zahlreiche recht weitreichende Veränderungen, beispielsweise unseren Kontrollverlust über die Daten, das breite Aufkommen von Dienstleistungsvermittlungsplattformen, die Automatisierung der Individualität und das Mantra der Transparenz – ganz zu schweigen von imaginären Identitäten, virtuellen Spielen und der Entwertung der Inhalteproduktion.14

[42]

Zuallererst werden diese globalen Trends die Organisation des Staats verändern, beispielsweise wenn sie von der Verwaltung digitale Plattform-Konstrukte eingesetzt werden.15 Gleichzeitig aber werden sie auch stark das Agenda Setting bestimmen. Und sie werden mittelfristig auch zur Entwicklung neuer Werkzeugen für den Policy Cycle und seine Öffnung führen.

[43]

Ein Beispiel dafür, wie die Digitalisierung die Politikgestaltung schon heute verändert – und wie unterschiedliche Akteure sich dabei unterschiedlich verhalten – ist die Politik in Bezug auf den Aufbau der Infrastruktur der digitalen Gesellschaft. Die EU sieht das klassische Schema, dass das Gesetz der Implementierung und Standardisierung vorausgeht, nicht mehr als zwingend notwendig an. Mit den STORK16 LSP (Large Scale Pilots) hat sie zuerst experimentell standardisiert, implementiert und pilotiert, bevor sie mit der eIDAS-Verordnung17 die Regulierung vornahm, der dann auf der Basis der vorgängigen experimentellen Standardisierung und Implementierung über die Durchführungsrechtsakte18 zuerst die tatsächliche Standardisierung und anschliessend auf nationaler Ebene – gefördert durch das Connecting Europe Facility Program (CEF) – die Implementierung folgte. Dem gegenüber steht das Vorgehen der Schweiz beim Thema Patientendossier19, bei dem zuerst ein Gesetz formuliert wurde und nun erst nachgängig die entscheidenden Standards formuliert werden – ein traditionell übliches Vorgehen.

[44]
Wir müssen davon ausgehen, dass die Digitalisierung die Ordnung im Policy Cycle in Zukunft noch wesentlich weitgehender umgestalten wird. Ein Thema wird dabei der Umgang mit der hohen Komplexität sein, wie oben bereits ausgeführt. Ein anderes Thema wird die Beschleunigung durch Parallelisierung sein, wie sie sich im Fall STORK angedeutet hat.

3.

Die Zukunft der Digitalen Demokratie ^

3.1.

Einfache Erkenntnisse als Ausgangspunkt ^

[45]

Die in vielen E-Partizipation Experimenten gesammelten Erfahrungen lassen sich auf einige einfache Beobachtungen reduzieren:

  1. Wir haben es bei E-Partizipation mit einem klassischen Henne-Ei-Problem zu tun: Wegen geringer Beteiligung ist die erzielte Wirkung gering und wegen geringer Wirkung ist die Beteiligung gering.
  2. Projekte funktionieren dann, wenn etablierte Akteure Eigeninteressen im Spiel haben, beispielsweise die Vermittlung unangenehmer Wahrheiten oder das Promoten von Innovationen (oder die Motivation von Mitarbeitenden bei Partizipationsprojekten in der Privatwirtschaft).
  3. Es hilft sehr, wenn E-Partizipationsprojekte themenbeschränkt oder zeitbeschränkt mit Event-Charakter sind, auf einer gut entwickelten Plattform aufbauen und intensiv gemanagt werden (wie z.B. bei den IBM Innovation Jams20, mit denen es einige Erfahrungen gibt).21
  4. Im internationalen Kontext sind Partizipationsprojekte besonders schwer zu realisieren (wie viele EU Innovationsprojekte gezeigt haben). Ansatzweise erfolgreich sind Projekte dann, wenn sie sich auf eine bereits vernetzte Akteursgruppe fokussieren.
  5. Das Hauptproblem bei vielen Partizipationsexperimenten besteht in der Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern, Informatikern und Juristen. Es braucht aber die Zusammenarbeit von Politikwissenschaftlern, Ingenieuren, Juristen und auch Psychologen/Soziologen/Ethnologen, um alle relevanten Aspekte eines Projekts richtig zu gestalten.
  6. Erfolg von E-Partizipationsplattformen verlangt ein mehrfaches Anpassen der Konzepte und ihrer Umsetzung, wie dies auch für den Erfolg von Start-up-Unternehmen meist notwendig ist. Darum erhöhen unternehmerisch engagierte Project-Champions mit grossem Durchhaltevermögen die Erfolgschancen stark.
  7. Mischformen, die Online-Partizipation, Offline-Partizipation und die Bewertung durch Experten einbeziehen, erhöhen die Chancen, mit E-Partizipation Wirkung zu erzielen.

3.2.

Vier Ideen zum Weiterverfolgen ^

[46]

Die erste Idee ist sehr alt: das Schaffen von Gemeinsamkeiten mit Geschichten. Bei wachsender Individualisierung gewinnt das Schaffen von Gemeinsamkeiten an Bedeutung. Gemeinsamen Geschichten helfen, wenn es darum geht, Interessen zu bündeln, obwohl in der «internetisierten» Gesellschaft aus allen Richtungen divergierende Informationen auf uns einströmen. Im alten Athen und im London um 1600 besuchten alle Schichten das Theater. Während auf der Bühne die Vergangenheit erzählt wurde, sah man im Publikum die Zukunft (im alten Athen z.B. auch Frauen, die in der Athener Demokratie keine Stimme hatten). IT ermöglicht das Analoge ohne gemeinsame Ortspräsenz – sie ermöglicht es, virtuelle Gemeinschaften über Grenzen hinweg zu etablieren. Und sie ermöglicht uns – dem Vorbild Theater entsprechend – Handeln mit Computerspielen, insbesondere mit Online-Spielen, zu simulieren. Hier tritt das Erleben an die Stelle des politischen Analysierens – und dies nicht nur im Mensch-zu-Maschine-Modus oder Mensch-zu-Mensch-Modus, sondern auch in einem N-zu-N-Modus mit vielen Spielern. Wichtig wäre, wenn in Zukunft das Entwickeln von emotional intensiv erlebbaren, politischen Simulationen intensiver verfolgt würde – als Ergänzung zu sachlichen Wirkungssimulationen von Regulierungsmassnahmen.

[47]

Die zweite Idee ist eine Trendidee aus dem E-Government: Open Government Data (OGD). Daten werden zur Wiederverwendung veröffentlicht. (Dies war beispielsweise eines der nachhaltigsten Ergebnisse von eZürich.) Wichtig dabei ist: Alle können diese Daten frei nutzen. Im guten Fall sind diese Daten maschinenlesbar und können unter anderem in E-Government-Apps eingesetzt werden. Im Idealfall besitzen sie eine eindeutige Identität und sind untereinander verlinkt. Durch die Nutzung dieser Daten können die Mitglieder des Souveräns besser ihre Kontrollrechte nutzen. Sie können sich aber auch proaktiv an der Weiterentwicklung von E-Government-Diensten beteiligen, indem sie selbst Dienste bereitstellen und dadurch in der Folge der Verwaltung Ideen für neue Dienste liefern. Da konkrete Taten überzeugender sind als Diskurse, ist das Potential des Gestaltens von innovativen prototypischen E-Government-Lösungen sehr gross und wird auch von der Verwaltung sehr positiv gesehen.22 Wichtig wäre, dass zukünftige OGD-Strategien explizit und klar die Ermöglichung dieses Mitgestaltens von Innovation fördern.

[48]

Die dritte Idee ist eine provokante Zeitgeist-Idee: Sie leitet sich von Ingolfur Blühdorns «Simulativer Demokratie» ab. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass wenn tatsächliche Partizipation in einer hochkomplexen Welt nicht möglich ist, aber gewünscht wird … dann sollte man authentische Möglichkeiten für die Simulation von Partizipation schaffen. Weil alles nicht echt ist, kann dies ehrlicher, freier und kreativer geschehen als in der echten Politik. Die Umsetzung sollte gemischt online und offline geschehen. Die angestrebte Wirkung wäre eine Diffusion der simulierten Entscheidungen in die Echtpolitik. Denn was virtuell simuliert funktioniert beziehungsweise überzeugt, lässt sich real kaum verhindern. Die simulative Demokratie könnte so stark davon profitieren, dass die Grenzen zwischen Realwelt und virtueller Welt lösen sich auflösen. Basis für die simulative Demokratie könnte die virtuelle Staatsbürgerschaft sein, wie sie Estland schon eingeführt hat.23

[49]

Die vierte Idee übernimmt ein technisch-ökonomisches Konzept: Sie entwickelt Tim OReillys Konzept für E-Government weiter. Für viele politisch Interessierte, die sich nicht hauptberuflich mit Gesetzgebung beschäftigen, ist es schwierig, an die relevanten Informationen heranzukommen (und für Gesetzgebungsprofis ebenso). Die Erfahrung lehrt nun, dass offene Diensteplattformen komplexe Organisationsstrukturen überflüssig machen und ein chancenreiches Innovationsökosystem darstellen, das davon lebt, Information dort bereitzustellen, wo sie gebraucht wird. Standardisiertes OGD wiederum beginnt sich als de facto Funktionsplattform zu bewähren, denn es ermöglicht die Vielfachnutzung von Programmen. Daraus resultiert die Idee einer Demokratieplattform, die das Finden relevanter politischer Information und die Kooperation unter Gleichgesinnten unterstützt. Dafür braucht es drei Standardfunktionen:

  1. die Veröffentlichung von Dokumenten des Policy Cycle,
  2. Queries nach Dokumenten und Gleichgesinnten und
  3. Petitionen zur gemeinsamen Willensäusserung.
[50]

Ergänzende Funktionen könnten sein: Spiele zur Verständnisvermittlung oder Prozesse und/oder künstlich intelligente Instrumente zur kollektiven Themenbildung. Solch eine Demokratieplattform würde ganz nebenbei in der EU den Art. 11.1 des Vertrags von Lissabon erfüllen.

3.3.

Zusammenfassung ^

[51]

Die Digitalisierung der Demokratie hat begonnen. IT wird erfolgreich von Akteuren aus dem politischen Establishment eingesetzt. Aber der Traum von der Öffnung des Policy Cycle durch E-Partizipationsplattformen hat sich bisher als Illusion erwiesen, denn er entspricht nicht den Bedürfnissen der Menschen. Dafür hat die Digitalisierung der Politik viele neue Fragen gestellt. Wenn die Machtbalance in der Demokratie aufrecht gehalten werden soll, dann empfiehlt es sich, kreative Ideen zu verfolgen, die alte Kulturtechniken wie Theater mit neuen Technologieerfindungen wie Query-Plattformen verbinden. Darüber hinaus sollten wir uns von der linearisierten Ordnung im Policy Cycle verabschieden und freiere Formen zulassen. Wenn wir neue Experimente wagen – und diesen Mut sollten wir aufbringen –, dann am besten in multidisziplinären Teams, die transdisziplinär zusammenarbeiten. Nur so können wir uns den Herausforderungen effektiver Innovationen im Policy Cycle ganzheitlich stellen.


 

Prof. Dipl. Ing. Dr. phil. Reinhard Riedl, Wissenschaftlicher Leiter des Fachbereichs Wirtschaft, Berner Fachhochschule (BFH), reinhard.riedl@bfh.ch; http://www.wirtschaft.bfh.ch.

 

Vgl. auch: Reinhard RiedlPartizipative oder simulative Demokratie? (Podcast), in: Jusletter IT 25. Mai 2016

  1. 1 Dan Balz, How the Obama Campaign won the race for voter data, The Washington Post, 28. Juli 2013, https://www.washingtonpost.com/politics/how-the-obama-campaign-won-the-race-for-voter-data/2013/07/28/ad32c7b4-ee4e-11e2-a1f9-ea873b7e0424_story.html (alle Internetquellen zuletzt besucht am 23. Mai 2016).
  2. 2 Siehe z.B. Zitat von Jacqueline McGlade, Executive Director der European Environment Agency, in: Changing environmental governance in a changing world, 22. Juli 2011, http://www.eea.europa.eu/highlights/changing-environmental-governance-in-a.
  3. 3 Case Studies finden sich unter anderem auf www.eParticipation.eu.
  4. 4 eZürich – eine Standortbestimmung, OIZ Stadt Zürich, 2013, https://www.uzh.ch/blog/ifi-ddis/files/2013/11/eZuerich_Standortbestimmung_final.pdf.
  5. 5 Bürgerhaushalt – das Transparenzinstrument, http://www.buergerhaushalt.org/de/article/buergerhaushalt-das-transparenz-experiment.
  6. 6 https://www.sif.admin.ch/sif/de/home/themen/internationale-steuerpolitik/automatischer-informationsaustausch.html.
  7. 7 https://bitcoin.org/de/.
  8. 8 Mark Siemonis, Google oder die Abschaffung der Politik, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22. Mai 2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/google-als-politischer-akteur-13886413.html.
  9. 9 Michael Seemann, Das Neue Spiel, orange press 2014, http://ctrl-verlust.net/DasNeueSpiel.pdf.
  10. 10 Ein Beispiel dafür ist das eID Ökosystem Modell des SECO, https://www.egovernment.ch/index.php/download_file/force/271/3343.
  11. 11 Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie, Suhrkamp Verlag 2013.
  12. 12 EU-Kommission, A Vision for Public Services, 14. Oktober 2013, https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/vision-public-services.
  13. 13 Megatrends Übersicht, zukunftsInstitut, Dezember 2015, https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/; Diese 16 Megatrends werden unsere Zukunft stark beeinflussen, Zukunftsstark, http://www.zukunftsstark.org/megatrends/.
  14. 14 Jeff Jarvis, Ausgedruckt!, Plassen Verlag 2015.
  15. 15 Tim OReilly, Government as a Platform, MIT Press 2011, http://www.mitpressjournals.org/doi/pdfplus/10.1162/INOV_a_00056.
  16. 16 STORK und STORK 2.0, https://www.eid-stork.eu/ und https://www.eid-stork2.eu/.
  17. 17 Verordnung (EU) Nr. 910/2014 über die elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG, ABl. Nr. L 257/73 vom 28. August 2014 («eIDAS-Verordnung»).
  18. 18 Für einen Überblick siehe https://www.digitales.oesterreich.gv.at/eidas-verordnung.
  19. 19 Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier vom 19. Juni 2015, für einen Überblick siehe http://www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/10357/10360/index.html?lang=de.
  20. 20 https://www.collaborationjam.com/.
  21. 21 Osvald M. Bjelland/Robert Chapman Wood, An Inside View of IBM’s «Innovation Jam», MIT Sloan Management Review 2008.
  22. 22 Alessia C. Neuroni/Reinhard Riedl/Jerome Brugger, Swiss Executive Authorities on Open Government Data – Policy Making Beyond Transparency, Proceedings HICSS 2013.
  23. 23 Tamara Marszalkowski, Wer will da nicht Este werden?, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23. Mai 2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/virtuelle-buergerschaft-wer-will-este-werden-13300588.html.