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IT-Recht – Bausteine einer neuen Disziplin

  • Author: Rolf H. Weber
  • Category: Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: Legal Informatics, Information law
  • Collection: Peer Reviewed – Jury LexisNexis Best Paper Award of IRIS2017, Conference Proceedings IRIS 2017
  • Citation: Rolf H. Weber, IT-Recht – Bausteine einer neuen Disziplin, in: Jusletter IT 23 February 2017
Phänomenologisch setzt das Entstehen einer neuen Rechtsdisziplin faktische Veränderungen voraus, z.B. basierend auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen oder sozialen Umwälzungen. Der Beitrag erläutert die Weiterentwicklung der Bausteine der Rechtsinformatik zu einem umfassend konzipierten Informationsrecht sowie die Strukturierung der hauptsächlich relevanten IT-Paradigmen. Der theoretische Modellansatz bedarf einer funktionalen Ausrichtung; maßgeblich muss sein, die wichtigsten Axiome, die sich in den letzten Dekaden aus den IT-Inventionen ergeben haben, in die digitale Gesellschaft einzubauen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Technologische Innovationen als rechtliche Herausforderungen
  • 2.1. Computer und Digitalisierung
  • 2.2. Rechtsinformatik als neue Disziplin
  • 3. Von der Rechtsinformatik zum Informationsrecht
  • 3.1. Anfänge des Informationsrechts
  • 3.2. Weiterentwicklungen im Informationsrecht
  • 4. Internetrecht als neue Rechtsdisziplin
  • 4.1. Holprige erste Gehversuche
  • 4.2. Normierung neuer Phänomene
  • 5. Ausblick
  • 6. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Seit 20 Jahren begleitet das Internationale Rechtsinformatik Symposion (IRIS) die Entwicklung des IT-Rechts von der Rechtsinformatik zum Informationsrecht in einer zentralen Zeitphase, selbst wenn im Jahre 1998 bereits erste Grundlagen für die Entstehung der neuen Rechtsdisziplin gelegt gewesen sind. Das Jubiläum ist indessen ein guter Anlass, um Rückschau zu halten und über bevorstehende Herausforderungen nachzudenken.
[2]
IT steht für Informationstechnologie, d.h. für «Information» und «Technologie». Beide Begriffe haben ihre eigenen Wurzeln.
[3]
(i) Der Begriff «Information» ist äußerst vielfältig und vorliegend nicht in allen Einzelheiten darstellbar. Etymologisch geht das Wort «informieren» auf «Form» und «Gestalt» zurück. Information, bewusst oder unbewusst erworben (bzw. ignoriert), und zwar durch das Sehen, Hören, Berühren, Verarbeiten im menschlichen Gehirn, ist vermittelt oder selbst Vermittlung, je nach dem man sie als Inhalt oder Vorgang versteht.1 Beim Vorgang geht es um die Übertragung, den Transport, mithin das Problem der rechtlichen Erfassung des Informationsmittlers («Medium») sowie der Phänomene, die ihrer Speicherung und Verarbeitung oder Verwertung dienen. Der Inhalt betrifft die materiellen Kennzeichen als Wahrnehmung und die (individuelle) Qualität der Information (Botschaft, Datum als kleinste Einheit der Information).2
[4]
Information ist angesichts der begrifflichen Abstraktheit und der Informationsbezogenheit kein im Recht leicht fassbarer Begriff, zumal das Recht selber auch Information ist. Als globale Strategien der Information stehen die Verbreitung, die Verteilung und der Schutz im Vordergrund; partielle Strategien sind die Prozesshilfe, die Organisation und die Exklusivitätsgarantie.3
[5]
Der Begriff «Technologie» ist etymologisch auf das Wort «technē» zurückzuführen; ursprünglich als Können der Handwerker verstanden, hat sich daraus das Verständnis von Verfahren und Methode für jede Art von Tätigkeit entwickelt. «Logos» ist der «Lehrsatz» und breiter ausgelegt das geistige Vermögen bzw. der Gesamtsinn der Wirklichkeit. Bei der Informationstechnologie geht es somit darum, wie die sachgerechten Verfahren mit Form und Gestalt von durch Daten gekennzeichneten Inhalten umgehen.

2.

Technologische Innovationen als rechtliche Herausforderungen ^

2.1.

Computer und Digitalisierung ^

[6]

Die Herstellung der ersten Computer geht schon auf die Zwischenkriegszeit zurück. Neben Universitäten in den USA haben insbesondere Professoren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (Schweiz) eine führende Rolle in der Entwicklung früher Computer, aber auch von Programmsprachen und Software gespielt (Heinz Rutishauser, Ambros Speiser, Konrad Zuse).4 Während der folgenden Jahre ist die Hardware (Computer) immer kleiner und effizienter geworden; insbesondere dank schnellerer Mikroprozessoren sowie leistungsfähigerer und gleichzeitig kostengünstigerer Mikrochips.

[7]

Der zweite bedeutende Bereich der Technologie betrifft die Digitalisierung, d.h. die platzsparende Codierung von Daten (Sprache, Musik, Text, Bild, Zahlen) mittels «Umwandlung» in Form von Bits, sowie das Zusammenwachsen der Datenverarbeitungs- und Datenübertragungstechnik.5 Quantitative und qualitative Verbesserungen bei der Informationsübertragung mittels Satelliten sowie Fortschritte in der Glasfaser- und Lasertechnik erleichtern den Informationsfluss erheblich. Weiter trägt die Technik dazu bei, dass Maschinen befähigt werden, Daten automatisch zu «prozessieren», die menschliche Intervention (Geistestätigkeit) verliert somit durch die Verlagerung auf Maschinen an Bedeutung.6

2.2.

Rechtsinformatik als neue Disziplin ^

[8]
Der Computer als hauptsächlichste Hardware der Informationstechnologie ist vor einem halben Jahrhundert der zentrale Bezugspunkt des Rechts gewesen. Wie der Titel der Zeitschrift «Computer und Recht»7 bezeugt, hat sich die Rechtswissenschaft die Frage gestellt, ob und wie neue Regulierungen zu implementieren seien, um den durch die Computer verursachten veränderten Phänomenen sachgerecht Herr zu werden.8 Diese Konzentration auf die Hardware hat sich aber bald als zu einseitig erwiesen.
[9]
Die engste Verbindung zwischen Computer und Recht in der damaligen Zeit hat im Versuch bestanden, den Computer zu instrumentalisieren und ihn als Handwerkszeug für die Rechtswissenschaft einzusetzen. Hauptträger dieser Entwicklung sind zwei deutsche Professoren gewesen, die neben dem Recht auch eine Ausbildung in Mathematik bzw. in Psychologie hatten, nämlich Herbert Fiedler und Wilhelm Steinmüller. Ihre interdisziplinär angelegten Schriften sind der Frage nachgegangen, inwieweit und in welcher Art die Technik des Rechtsanwendungsprozesses für den Computereinsatz geeignet gemacht werden könnte.9 Weil die Computersprache grundsätzlich Ja/Nein-Antworten erlaubt, bedarf es einer Ausgestaltung der Software, die bewirkt, dass Entscheid-Strukturen in dieser bipolaren Weise möglich sind. Im Idealfall würde der Computer gestützt auf den eingegebenen Sachverhalt die Rechtsfolge eruieren oder aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz eine Lebenssituation ableiten.10
[10]
Aus der Begrifflichkeit von «Computer und Recht» ist bei Fiedler und Steinmüller die «Rechtsinformatik» geworden; dem Wort «Informatik» ist zu entnehmen, dass die Teile «Information und Technik» kombiniert und hernach mit dem Recht in Bezug gesetzt worden sind. Der intellektuelle Hintergrund der Rechtsinformatik beruht somit auf der Idee, durch Computerprogramme die Rechtsanwendung zu automatisieren.11 Zwar stellte die Rechtsinformatik zu Beginn einen Fremdkörper in der durch die juristische Denkweise und Dogmatik geprägten Rechtswelt dar, doch hat sich in den Folgejahren das interdisziplinäre Fach «Rechtsinformatik» an vielen Universitäten durchgesetzt, ohne aber in der Ausbildung eine sehr große Tragweite zu erreichen. Diese Einschätzung dürfte auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass neuere Entwicklungen einen «Überholungseffekt» hatten.

3.

Von der Rechtsinformatik zum Informationsrecht ^

3.1.

Anfänge des Informationsrechts ^

[11]
Mit der Entwicklung des Internet und vor allem dessen Kommerzialisierung durch das World Wide Web (1991) hat die traditionelle Rechtsinformatik eine neue Entwicklungsstufe erreicht. Die Information selber ist zu einem sehr wichtigen Gegenstand der Wirtschaft und auch zum Objekt von Vertragsbeziehungen geworden. Die Information drückt sich in Daten aus und Daten stellen ein handelbares Gut dar.12
[12]
Der wirtschaftliche Bedeutungszuwachs der Information hat zur Erkenntnis geführt, dass sich auch das Recht neu ausrichten muss, denn die Information passt nicht in die traditionellen Klassifikationen des Rechts, sondern stellt eine Querschnittsmaterie dar.13 Systematisch betrachtet hat sich somit das Informationsrecht als neue Disziplin entwickeln müssen; ein erster großer Versuch beruht auf dem konzeptionellen Ansatz «Information als Gegenstand des Rechts» (Jean-Nicolas Druey, 1995).14 In den Folgejahren ist die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität St. Gallen zu einem wichtigen Forschungszentrum im Bereich des Informationsrechts geworden; deren Vertreter haben denn auch selbstbewusst von einem «St. Gallen Approach of the Information Law» gesprochen.15 Die Schlüsselbotschaften dieses Ansatzes lassen sich wie folgt zusammenfassen:16 (i) Information muss als interdisziplinäre Forschungsaufgabe verstanden werden. (ii) Information ist aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. (iii) Das Informationsrecht lässt sich als Abbild der rechtlichen und phänomenologischen Wege bei der Betrachtung von Dingen auffassen. (iv) Das Informationsrecht ist ein Teil des rechtlichen Systems, der sich in besonderen Spannungsfeldern abspielt.
[13]
Gleichzeitig ist an der Universität Zürich durch das «Zentrum für Informations- und Kommunikationsrecht» (Rolf H. Weber, 1996/2003) versucht worden, Systematisierungsansätze für das Informationsrecht als Querschnittsmaterie zu entwickeln.17 Weil das Informationsrecht kein System als solches ist, bedarf es der Analyse, inwieweit durch eine rechtliche Steuerung der Information die Rahmenbedingungen der Rechtsordnung abzustecken sind. Formal lässt sich im Informationsrecht danach differenzieren, ob Informationen fließen oder nicht, sowie ob das Informationsinteresse auf der Sender- oder der Empfängerseite geschützt werden soll.18 Materielle Anknüpfungspunkte für denkbare Klassifizierungen des Informationsrechts sind etwa das Verfügungsrecht, der Anspruch auf Information, der Daten-/Geheimnisschutz und die Haftung für Daten. Denkbar ist auch eine Differenzierung zwischen Informationserzeugung, Informationsspeicherung, Informationszugang, Informationsübermittlung und Informationsverwertung.19 Die verschiedenen Klassifizierungsmodelle aus der Frühzeit des Informationsrechts haben indessen kaum einen Niederschlag in der realen Welt gesetzgeberischer Normierungen gefunden.

3.2.

Weiterentwicklungen im Informationsrecht ^

[14]

Während der ersten IRIS-Jahre ist in verschiedenster Hinsicht versucht worden, das Konzept und die Strukturierung des Informationsrechts weiter zu entwickeln. Im Vordergrund gestanden haben dabei die Bemühungen, interdisziplinäre Erkenntnisse für das Informationsrecht fruchtbar zu machen, insbesondere gestützt auf die Überlegungen zur Strukturationstheorie (Anthony Giddens) und zur Steuerungstheorie (Niklas Luhmann, Renate Mayntz) als «Ordnungshilfen» im Informationsrecht (Rolf H. Weber).20 Ausgangspunkt sein sollte dabei die Strukturierung in systemischen Abläufen, d.h. prozedural sollten informationelle Sachverhalte und Vorgänge angemessene akteurzentrierte Vorgehensweisen ermöglichen, die verfahrensmäßig die Teilnehmer der Informationsgesellschaft steuern. Das Informationsrecht muss sich deshalb im Fadenkreuz von Gestaltung, Stabilisierung und Selbstreflexion verstärkt als institutionalisierter (und wissenschaftsbezogen interdisziplinärer) Prozess der strukturellen Kopplung zwischen den betroffenen Akteuren verstehen.21

[15]
Überdies nehmen Governance-Aspekte eine immer wichtigere Rolle ein. Governance bedeutet, dass Strukturen und Netzwerke mit Bezug auf die verschiedenartigen Informationsflüsse eingerichtet werden, die es erlauben, Interventionsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten zu koordinieren. Die Governance-Diskussion betrifft dabei nicht nur die Informationsverwaltung in Unternehmen und Gebietskörperschaften, sondern auch die Accountability bei den Medien und – zeitlich später – die Governance im Internet.22
[16]

Immer deutlicher ist zudem geworden, dass vermehrt Spillover-Effekte des genuinen Informationsrechts auf andere Disziplinen festzustellen sind. Im Vordergrund steht selbstredend das Datenschutzrecht, aber auch weitere Rechtsgebiete wie das Schuld- und Immaterialgüterrecht sind von den IT-rechtlichen Entwicklungen betroffen:

  • Der Schutz der Privatsphäre ist ein grundrechtliches Anliegen, ausgedrückt durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.23 Dieses Menschenrecht, das zwar durchaus auch in der Rechtsprechung seine Bedeutung behält (z.B. durch das vom EuGH im Fall Google Spanien «geschaffene» Recht auf Vergessen24) wird mehr und mehr überlagert von einem dichten Geflecht spezifischer Regulierungen (zuletzt z.B. der EU-Datenschutz-Grundverordnung), ohne dass ausreichend in Betracht gezogen wird, dass viele «traditionelle» Datenschutzprinzipien (z.B. Datenminimierung, Einwilligung des Betroffenen als Rechtfertigungsgrund) praktisch kaum mehr handhabbar sind.25 Die Anwendung neuer Konzepte, die einer vertieften Diskussion und Debatte bedürfen,26 erweist sich deshalb als unumgänglich, z.B. Privacy by Design and by Default, Datenschutz-Managementsysteme, Datensicherheits-Compliance etc.27
  • Im Vertragsrecht hat sich gezeigt, dass die Mitberücksichtigung linguistischer Theorien das Verständnis für ausgetauschte und damit auch den Konsens bildende Informationen verbessert.28 Eine klare Konturierung des Informationsbegriffs ist umso mehr notwendig, als die Information in den einzelnen Rechtsbereichen (Familien-, Erb- oder Gesellschaftsrecht) von den vertragsrechtlichen Grundsätzen abweicht.
  • Das Immaterialgüterrecht spielt im Kontext des Informationsrechts offensichtlich eine erhebliche Rolle, weil die Information ihrer Natur nach nicht physisch, sondern «immaterial» ist. Information lässt sich mithin nur schützen, wenn die Voraussetzungen des Urheber- oder des Patentrechts erfüllt sind. Ein Immaterialgüterrechtschutz führt aber zu einer «Exklusivitätsposition», was dem Grundsatz des offenen Zugangs und der Nichtrivalität der Information widerspricht.29 Schwierige Abgrenzungsprobleme und Interessenerwägungen sind somit nicht zu vermeiden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf den Zugang und die Verwendbarkeit von wissenschaftlichen Informationen zu legen.30
  • Eine steigende Bedeutung hat auch die Verwaltungsinformatik bzw. das E-Government erlangt: Der Einzug der IT in die öffentliche Verwaltung verändert die Situation mit Bezug auf Informationszugangsrechte und Datenschutzprobleme. Im Rahmen der IRIS sind diese neuen Phänomene von Erich Schweighofer schon sehr früh, nämlich im Jahre 2002 mit der Thematik «IT in Recht und Staat»31 sowie im Jahre 2003 mit dem Spannungsfeld von Rechtstheorie und E-Government32 zur Debatte gestellt worden. In neuerer Zeit spielen auch die Open Government Data eine immer größere Rolle; die Zugänglichkeit behördlicher Datenbestände ist Ausdruck eines von der Gesellschaft getriebenen Bedürfnisses nach staatlicher Transparenz.33 Eine kohärente und zukunftsorientierte Datenpolitik sollte dafür sorgen, dass ein Open Government Data-Portal im Rahmen der nationalen Dateninfrastruktur vorhanden ist.
[17]
Das Informationsrecht weist selbstredend auch enge Bezüge zum Kommunikations- oder (traditionell) Medienrecht auf: Die Elemente des verfassungsmässigen «ius communicationis», d.h. der grundrechtlichen Sicherung der Bedingungen optimaler Kommunikation zur Lösung gemeinsamer Anliegen, und der «communicatio iuris» als Ausgangspunkt der «digital commons» sind wesentliche Pfeiler der digitalen Gesellschaft.34

4.

Internetrecht als neue Rechtsdisziplin ^

4.1.

Holprige erste Gehversuche ^

[18]
Die Ursprünge des Internetrechts gehen auf die Geburtszeit der IRIS zurück. Zu dieser Zeit ist teilweise die Meinung vertreten worden, der neue Internetraum (Cyberspace) bedürfe überhaupt keiner Regelung, weil die notwendigen Prinzipien des Zusammenlebens autonom durch die betroffenen Personen geschaffen würden. Besonders typisch ist insoweit die «Declaration of the Independence of Cyberspace» von John Perry Barlow (Februar 1996), die emphatisch u.a. ausgeführt hat:35 «You (governments) have no moral rights to rule us nor do you possess any methods of enforcement we have true reasons to fear.» Dass diese Idee des autonomen und nicht regulierten Raums eine Utopie sein würde, hat sich in der Realität schnell bestätigt.36
[19]
Selbst soweit ein gewisser Regulierungsbedarf anerkannt worden ist, war die Schaffung einer eigenen Rechtsdisziplin «Internetrecht» dennoch umstritten: Idealtypisch lässt sich insoweit auf die Kontroverse zwischen Frank Easterbrook und Lawrence Lessig verweisen. Auf den Einwand von Easterbrook, die Rechtsordnung bedürfe keines spezifischen Internetrechts, denn es gebe ja auch kein «Law of the Horse»,37 hat Lessig mit dem Argument reagiert, neue Phänomene in der Realität bedürften, nicht zuletzt in der Ausbildung, oft auch angepasster Rechtsstrukturen.38
[20]
Das Internetrecht erschließt im Vergleich zum Informationsrecht insoweit neue Dimensionen, als viele Regeln in stärker ausgeprägtem Ausmaße als im Informationsrecht von den nationalen Rechtsordnungen losgelöst sind und damit das traditionelle Souveränitätsmodell erheblich unterspülen.39 Diese Einschätzung gilt insbesondere für diejenigen Elemente, die heute unter das Stichwort «Internet Governance» fallen (z.B. System und Struktur der Adressenzuordnung, Domain Name System).40

4.2.

Normierung neuer Phänomene ^

[21]

Noch viel mehr als das Informationsrecht ist das Internetrecht eine Querschnittsmaterie, weil praktisch alle traditionellen Rechtsgebiete eine gewisse Berührung mit dieser neuen Rechtsdisziplin aufweisen. Neue Governance-Strukturen sind notwendig, soweit es um die Organisation und Administration des Internet, d.h. die Internet Governance im engeren Sinne, geht.41 In diesem Bereich spielen die Zivilgesellschaft und die Nichtregierungsorganisationen (NGO) eine wesentlich größere Rolle als bei den global wirkenden multilateralen Staatsverträgen Aus diesem Grunde hat es sich auch als unumgänglich erwiesen, in einem Mehrebenenmodell alle Betroffenen in die Entscheidbildung und die Entscheidfällung miteinzubeziehen (sog. Multistakeholder-Modell).42

[22]
Das Internet als «digital commons» ermöglicht neue Formen der Teilung von Wissen und der gemeinsamen Produktion («sharing economy»); gleichzeitig erhöhen sich die Chancen des Miteinanderredens und -entscheidens.43 Kollektives «peer-to-peer» Wissen führt nach Jeremy Rifkin zu «wisdom of crowds», weshalb «a distributed, collaborative, non-hierarchical society can’t help but be a more emphatic one».44
[23]

Mit Blick auf die zivilrechtlichen Problemstellungen lassen sich die Internetbezüge aber zu einem weiten Ausmasse auf die Grundprinzipien des Informationsrechts zurückführen. Neue Kommunikationsmöglichkeiten und Datenbearbeitungsverfahren verändern zwar die Quantität und die technologische Abwicklung von informationellen Vorgängen, nicht aber die Essenz der rechtlichen Behandlung (oder Qualität) der Information.45 Aus diesem Grunde besteht keine unumkehrbare Bewegung vom Informationsrecht zum Internetrecht, sondern die zwei einander nahestehenden Disziplinen sind gegenseitig eng verknüpft.46

5.

Ausblick ^

[24]
Die IRIS-Konferenzen haben in den letzten 20 Jahren nicht nur die wichtige Entwicklung von der Rechtsinformatik zum Informations- und Internetrecht miterlebt, sondern auch maßgeblich mitgeprägt. Zu Beginn (1998/99) sind noch konkrete Themenstellungen wie z.B. die Informatik und der Bürgerservice im Internet oder die Verweisungen und Hyperlinks im Recht die Tagungsthemen gewesen. Später (in der mittleren Phase) sind die Herausforderungen durch die neuen Informationstechnologien in den Vordergrund getreten, etwa im Kontext des E-Staates bzw. der E-Wirtschaft, oder auch die Komplexitäten der Rechtsinformatik. In den letzten drei Jahren haben die IRIS-Konferenzen zentrale moderne Phänomene wie die Transparenz, die Kooperationen und die Netzwerke diskutiert; es hat also eine Bewegung in die Richtung der maßgeblichen Phänomene der Informationsgesellschaft stattgefunden.
[25]

Diese Entwicklungen reflektieren die Loslösung der Diskussionen von der Rechtsinformatik und die Hinwendung zu komplexen gesellschaftlich relevanten Erscheinungen, die auf den modernen Informationstechnologien beruhen. Beispielhaft sei auf die neuen Geschäftsmodelle (Sharing Economy, FinTech) hingewiesen, die z.B. auf Blockchain bzw. der Distributed Ledger Technology beruhen und nun die Regulatoren auch mit Blick auf das traditionelle Vertragsrecht (etwa hinsichtlich von «smart contracts» oder digitalen Inhalten) auf den Plan rufen.47

[26]

Die Aufsplitterung der verschiedenen informationsrechtlichen Disziplinen, die sich auch in den Teilthemen der IRIS-Tagungsbände reflektieren, ändert aber nichts an der Notwendigkeit, funktionale Grundprinzipien für die (globale) Rechtsordnung zu entwickeln. Sachgerechte Elemente einer rechtlichen Rahmenordnung für die Informationsgesellschaft, die etwa die Prinzipien der regulatorischen Qualität und der Accountability in den Vordergrund rücken,48 müssen die angemessene Strukturierung des Zusammenlebens gewährleisten, denn die Form folgt – wie in der Architektur schon längst bekannt ist – der zu realisierenden Funktion. Selbst wenn schon verschiedene Teile des Fundaments für eine solche (globale) Rechtsordnung gelegt sind, bleiben noch ausreichend neue Herausforderungen, die sich in künftigen IRIS-Konferenzen diskutieren und bewältigen lassen.

6.

Literatur ^

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Ders., Big Data: Herausforderungen für das Datenschutzrecht, in: Epiney Astrid/Nüesch Daniela (Hrsg.), Big Data und Datenschutzrecht, Schulthess Verlag, Zürich 2016, S. 1–22 (zit. Big Data).

Ders., Internationale Trends bei Datenschutz-Managementsystemen, in: Weber Rolf H./Thouvenin Florent (Hrsg.), Datenschutzmanagementsysteme im Aufwind?, Schulthess Verlag, Zürich 2016, S. 31–50 (zit. Datenschutz-Managementsysteme).

Ders., Legal foundations of multistakeholder decision-making, ZSR 135 (2016) I, S. 247–267 (zit. Multistakeholder).

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Zech Herbert, Daten als Wirtschaftsgut – Überlegungen zu einem «Recht des Datenzeugers», CR 2015, S. 137–146.

  1. 1 Weber, Überblick, Rz. 21.
  2. 2 Weber, Überblick, Rz. 23; vgl. auch Druey, S. 20 ff. und S. 148 ff.
  3. 3 Druey, S. 33 ff.
  4. 4 Egger, S. 9 ff. und S. 191 ff.
  5. 5 Vgl. schon Saxby, S. 1 ff.
  6. 6 Relevante Stichworte sind z.B. selbstfahrende Autos und Roboter.
  7. 7 «Computer und Recht» (Otto Schmidt Verlag) erscheint seit 1982, ist also im deutschsprachigen Bereich eine der ältesten Zeitschriften zum IT-Recht.
  8. 8 Für das Recht stellt sich z.B. die Herausforderung, dass «Handlungen» einer Maschine (nicht eines Menschen) die Kausalität begründen müssten.
  9. 9 Vgl. die grundlegenden Schriften von Fiedler/Bartel/Voogd (1984) und Steinmüller (1993).
  10. 10 Fiedler war IRIS während vieler Jahre eng verbunden; der Tagungsband IRIS 2016 ist ihm gewidmet und dessen Einleitung enthält eine Würdigung seiner Verdienste von Schweighofer Erich/ Traunmüller Roland/Wimmer Maria/Lachmayer Friedrich/Gordon Thomas F. (S. 37 ff.).
  11. 11 Vgl. Forstmoser, S. 3 ff.
  12. 12 Statt vieler vgl. Zech, 137 ff.
  13. 13 Weber, Überblick, Rz. 50 ff.
  14. 14 Druey, S. 29 ff.
  15. 15 Gasser, S. 7 ff., p. 12.
  16. 16 Gasser, pp. 14-16.
  17. 17 Weber, Überblick, Rz. 50 ff.
  18. 18 Weber, Überblick, Rz. 51 ff.
  19. 19 Weber, Überblick, Rz. 52 ff.
  20. 20 Weber, Steuerungstheorie, S. 516 ff.
  21. 21 Weber, Steuerungstheorie, S. 530 ff.
  22. 22 Weber, Internet Governance, S. 1 ff.
  23. 23 Grundlegend schon BVerG 6,1 (v.a. erster Leitsatz) und S. 43 ff.
  24. 24 EuGH, Rs C-131/12, 13. Mai 2014.
  25. 25 Weber, Big Data, S. 7 ff.
  26. 26 Kennzeichnend ist denn auch, dass der Teil zum Datenschutz in den IRIS-Tagungsbänden der letzten Jahre umfangmäßig stetig zugenommen hat.
  27. 27 Weber, Datenschutz-Managementsysteme, S. 37 ff.
  28. 28 Huguenin, S. 109 ff.
  29. 29 Hilty, S. 83 ff.
  30. 30 Egloff, S. 349 ff.
  31. 31 Vgl. Schweighofer/Menzel/Kreuzbauer, S. 19 ff.
  32. 32 Schweighofer/Menzel/Kreuzbauer/Liebwald, S. 79 ff.
  33. 33 Weber/Laux/Oertly, S. 31 ff. und S. 77 ff.
  34. 34 Thürer, S. 647 ff.
  35. 35 Vgl. https://projects.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html.
  36. 36 Weber, Framework, S. 16 f.
  37. 37 Easterbrook, S. 207 ff.
  38. 38 Lessig, S. 501 ff.
  39. 39 Vgl. Weber, Framework, S. 7 ff.
  40. 40 Weber, Internet Governance, S. 60 ff.
  41. 41 DeNardis, S. 6.
  42. 42 Weber, Multistakeholder, S. 247 ff.
  43. 43 Thürer, S. 650.
  44. 44 Rifkin, S. 512 ff., S. 543.
  45. 45 Vgl. auch Weber, Framework, S. 158 f.
  46. 46 Vgl. auch Burkert, S. 693 ff. und S. 708 ff., der nicht nur die Querbezüge aufzeigt, sondern auch das Internetrecht dem Informationsrecht vorausstellt.
  47. 47 Für einen Überblick vgl. den Sammelband von De Franceschi.
  48. 48 Im Einzelnen dazu Weber, Elements, 208 ff.