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Zum „Urheber“ in der Rechtsinformatik

  • Authors: Josef Souhrada / Beate Maier-Glück
  • Category of articles: Legal Information
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Information
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2023
  • DOI: 10.38023/413d0d05-f371-4e49-b972-a7537c90268a
  • Citation: Josef Souhrada / Beate Maier-Glück, Zum „Urheber“ in der Rechtsinformatik, in: Jusletter IT 23 February 2023
Von wem eine Rechtsvorschrift stammt und was sie bedeutet, glaubt man leicht erkennen zu können. Aktuelle Entscheidungen des VfGH zum Gesundheitswesen lassen Zweifel an der Einfachheit entstehen – zumal die Rechtsvorschriften von sehr verschiedenen „Urhebern“ stammen. Die Herkunft eines Textes zu kennen, ist die grundlegende Anforderung an dessen Verständnis, weil für seine Interpretation nicht nur die Sprache, sondern auch die „Person“ des Gesetzgebers eine Rolle spielt. Es zeigt sich: Unterschiedliche Gesetzgeber sprechen sehr verschiedene Sprachen, auch wenn ein Text zunächst in simplem Deutsch verfasst scheint. Wir stellen deshalb zur Diskussion, die Herkunft eines Textes in der Rechtsinformatik zu dokumentieren.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Worum geht es?
  • 2. Es beginnt einfach
  • 3. Gesundheitsplanungs-Erkenntnis – VfGH G 334-341/2021-29 vom 30. Juni 2022
  • 4. Ärztenotdienst-Erkenntnis – VfGH G 101/2022 vom 28. September 2022
  • 5. Gesamtverträge in der Organisationsreform
  • 6. Ausblick

1.

Worum geht es? ^

[1]

Das Thema hat mehrere konkrete Anlässe aus der letzten Zeit. Dennoch beginnt es mit dem Jahr 1811, mit dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch ABGB und dessen Kundmachung. Von wem ist dieses Gesetz, wer ist sein Urheber? Das Rechtsinformationssystem des Bundes in Österreich (RIS) gibt dazu keine Auskunft, hier am Beispiel des § 6 ABGB. Es nennt einen „Typ“, bei dem mit BG ein Bundesgesetz gemeint ist. Das bedeutet in der Praxis, dass der darunter dokumentierte Gesetzestext nach den Regeln für Bundesgesetze auszulegen ist. Wer aber ist dieser „Gesetzgeber“, der hier als wesentlicher Ansatzpunkt für die Gesetzesauslegung erwähnt ist? Ist es tatsächlich uninteressant, ihn zu kennen?

Abbildung 1: Dokumentation des § 6 ABGB im RIS ohne Urheber und mit Typ „Bundesgesetz“.

[2]

Natürlich gibt die (von der Nationalbibliothek elektronisch erfasste) Fundstelle Nr. 946/1811 der sogenannten „JGS“, Justiz-Gesetzessammlung, bzw. das Deckblatt der Druckausgabe1, nähere Auskunft – hinter dem Typ „Bundesgesetz“ lt. RIS verbirgt sich der damals regierende Herrscher bzw. dessen beratende Organe (directorium in publicis et cameralibus, vereinigte Hofstelle, Reichskanzlei, Hofkanzleien diverser Art usw.).

[3]

Wer ist der hier, 1811, in § 6 ABGB erwähnte „Gesetzgeber“? Das ist nur durch historische Forschungen festzustellen, aber auch 2023 gibt es, wie unten zu zeigen, diffizile Situationen. Eingehend beschäftigt damit hat sich F. Bydlinski in seinen Publikationen zur juristischen Methodenlehre.2

Abbildung 2: In Buchform dokumentiertes ABGB – ganz unten ist § 6 ABGB mit dem Begriff „Gesetzgeber“.

[4]

Es geht hier nicht um die mehrfachen Rechtsüberleitungen und deren Auswirkungen vom Kaiser zur ersten Republik Österreich über das Deutsche Reich zur zweiten aktuellen Republik Österreich bzw. deren Organisationsformen. Es ist aber, wie die Praxis zeigt, damit zu rechnen, dass Rechtsdokumentationssysteme nicht nur von JuristInnen, sondern auch von Menschen verwendet werden, die nur am Rande mit Rechtsthemen zu tun haben. Man mag einwenden, dass diese sich eben Rat von JuristInnen zu holen hätten, aber so einfach ist das Leben nicht. Auch Nichtjuristen arbeiten mit Gesetzestexten und können sich nicht immer auf juristische Berater stützen. Man sollte ihnen das Arbeiten erleichtern. Abgesehen davon ist eine juristenzentrierte Sicht nicht jene, die immer wieder durch Schlagworte wie „besserer Zugang zum Recht“, Transparenz, Nachvollziehbarkeit öffentlichen Handelns usw. gekennzeichnet ist.

[5]

Als Urheber wird hier mit dem Sprachgebrauch (und § 10 Abs. 1 UrhG) bezeichnet, wer den Text geschaffen hat. Im Unterschied zu der/den Stelle/n, nach deren Regeln dieser Text auszulegen ist. Beide Stellen können dieselben sein, müssen es aber nicht. Im RIS gibt es keine Angabe zum Urheber. Wie weiter unten erkennbar wird, aus guten Gründen. Die österreichische Organisation der Rechtssetzung lässt das nicht immer auf einfache Weise zu. Es ist (abgesehen von zeitlichen Abläufen) auch vielleicht gar nicht möglich, auf den ersten Blick einen Urheber zu erkennen.

[6]

Selbst wenn man die Titelseite der Justiz-Gesetzessammlung der Jahre 1804 bis 1811 findet, bleibt die Angabe „unter … Majestät Kaiser Franz …“ nebulos, weil sie die Organisationsform des Regenten nennt, aber nicht die Quelle der Texte selbst.

Abbildung 3: Der genannte Regent ist nicht der „Urheber” bzw. nicht der „Gesetzgeber”.

[7]

Ist es aber tatsächlich einige Jahrzehnte nach Beginn elektronischer Rechtsdokumentation immer noch nicht notwendig, im Zusammenhang mit Rechtstexten (Gesetzen, Verordnungen, Kundmachungen usw.) Information darüber anzubieten, wem diese Texte bei ihrer Entstehung zuzurechnen waren, wer also „Urheber“ eines Rechtstextes bzw. „Gesetzgeber“ ist? Diese Frage ist speziell für die Verwendung von Materialien relevant, aus denen sich (meist) der „Wille des Gesetzgebers“ ableiten ließe. Dieser Wille ist nach dem ABGB gleichwertiges Auslegungskriterium mit dem Wortlaut des Textes3, was es verbietet, stets aus dem „Text allein“ den Inhalt einer Vorschrift abzuleiten. Die Feststellbarkeit dieses Willens ist daher wichtig.

[8]

Es wird vorgeschlagen, bei der Weiterentwicklung von Rechtsdokumentationen eine Möglichkeit vorzusehen, die Herkunft eines Textes näher darzustellen und nicht nur wie heute, einen Typ als Ansatzpunkt für Auslegungsregeln anzubieten.

[9]

Einen Ansatz liefert die Dokumentation des österreichischen Sozialversicherungsrechts SozDok, www.sozdok.at. Dort wird als Urheber bei Bundesgesetzen der „Bund“ angegeben, was bei Bedarf weiter ausbaufähig wäre.

Abbildung 4: Bei der SozDok ist der „Urheber” eines Bundesgesetzes generalisierend der „Bund”. Das RIS gibt keinen Urheber an.

2.

Es beginnt einfach ^

[10]

Dass eine gesetzliche Bestimmung durch Änderungen eines anderen Gesetzgebers modifiziert wird, ist aus der Novellierungspraxis bekannt. Dann geben die jeweiligen Fundstellen von Stammfassung und Novellen bereits Hinweise auf die Entstehung des Textes, die frühere Fassung tritt außer Kraft (ihr Bedingungsbereich, in dem sich ein relevanter Sachverhalt ereignet haben muss, um eine Rechtsfolge auszulösen) endet, ihr Rechtsfolgenbereich kann weiterlaufen.

[11]

Es sind aber auch Fälle möglich, in denen der Bedingungsbereich einer Rechtsvorschrift „waagrecht gespalten“ wird dahingehend, dass ein und derselbe Text ab einem gewissen Zeitpunkt für einen Teil der Betroffenen gilt, für einen anderen jedoch nicht. Bekannt wurde diese Situation durch Vorarlberg. Dieses Land hob 1965 einige Bestimmungen des (bis heute als Bundesrecht geltenden) ABGB auf, mit der Begründung, dass Regelungen über Gemeinden, wie sie damals im ABGB enthalten waren, nicht Bundessache seien, sondern durch den Landesgesetzgeber, im Gemeinderecht, zu regeln seien.4

Abbildung 5: Ein Landesgesetz schließt die Geltung des ABGB für das Land Vorarlberg aus.

[12]

Hier hat ein Gesetzgeber in das „Werk“ eines anderen Gesetzgebers eingegriffen, die betroffenen Regeln galten nach dem 31. Dezember 1965 gleichzeitig außerhalb von Vorarlberg mit anderem Text als innerhalb dieses Landes. Andere Fälle sind stets dann denkbar, wenn eine bestimmte Personengruppe nachträglich von der Geltung einer Rechtsvorschrift ausgenommen werden soll, was beim selben Gesetzgeber auf geringere Schwierigkeiten stoßen wird, da der „Urheber“ derselbe bleibt.

[13]

Eine Rechtsdokumentation sollte darauf Rücksicht nehmen können. Das RIS gibt auch bei den hier betroffenen Bestimmungen nur den Typ BG an. Der Vorarlberger Fall hatte, soweit zu sehen, keine großen Auswirkungen. Seine Situation aber zu ignorieren, scheint dennoch kein zukunftsfähiger Weg.

[14]

Das Gegenteil, wo ein Text gleichzeitig für mehrere Gesetzgeber gilt, wird uns unten bei der Verordnung zur Gesundheitsplanung begegnen (und vom VfGH als rechtens anerkannt sein).

3.

Gesundheitsplanungs-Erkenntnis – VfGH G 334-341/2021-29 vom 30. Juni 2022 ^

[15]

In diesem Verfahren lag dem VfGH die Frage vor, ob und nach welchen Regeln Planungen im Gesundheitswesen rechtmäßig entstehen und welche Rechtsfolgen dies auslöst. Dass es solche Planungen hinsichtlich Zahl und Ort von Behandlungskapazitäten (Spitäler, Gesundheitszentren, Ordinationen, Apotheken usw.) und deren Aufgaben (Spezialisierungen, Versorgungsebenen wie Zentral-, Schwerpunkt- oder Standardkrankenanstalt, Facharztordination, Rehabilitationskliniken usw.) und des damit verbundenen Aufwandes öffentlicher Gelder geben muss, liegt auf der Hand. Aber wer gilt für die Rechtsdokumentation als Urheber der Pläne?

[16]

Dass diese Pläne durch das Zusammenwirken mehrerer Stellen entstehen (müssen), ergibt sich schon aus der österr. Bundes-Verfassung: Sozialversicherungswesen,5 Krankenanstaltenwesen,6 Organisationsgrundlagen der Selbstverwaltung7 und Zustimmungsregeln8 sind in mehreren teilweise weit auseinanderliegenden Bestimmungen geregelt. Noch dazu: Wenn danach jemand (Bund oder Land) zur Regelung einer Angelegenheit zuständig ist (Kompetenzartikel), dann bedeutet das nicht, dass dafür unbesehen auch eigene Organisationseinheiten (Behörden usw.) gegründet werden dürften. Diese (in der Praxis recht mühsam werden könnende) Kompetenz- und Organisations-Rechtslage wird seit Jahrzehnten dadurch zu umschiffen versucht, dass Vereinbarungen9 zwischen Bund und Ländern über die jeweilige Angelegenheit abgeschlossen werden (ob bereits im Voraus in diesen Vereinbarungen die Zustimmung der Länder nach Art. 102 B-VG gültig gegeben werden kann, blieb offen10). Diese Vereinbarungen enthalten aber keine Gesetzestexte, sondern müssen erst durch entsprechende Gesetze umgesetzt werden. In der Gesundheitsplanung bedeutet das

  • eine oder mehrere Vereinbarungen,11 derzeit die Vereinbarungen über Organisation und Finanzierung bzw. Zielsteuerung, diese Vereinbarungen müssen sowohl im Gesetzgebungsverfahren des Bundes (Nationalrat, Bundesrat) als auch in der Gesetzgebung jedes Landes gesondert beschlossen und dann kundgemacht werden,12 also insgesamt (mit demselben Text, aber theoretisch anderen Erläuterungen für den jeweiligen Landtag!) zehnmal.
  • ein Gesetz des Bundes zur Umsetzung dieser Vereinbarungen, soweit Kompetenzen des Bundes betroffen sind, derzeit das VUG 201713 (in dem wiederum eine Reihe von Gesetzen und Gesetzesänderungen enthalten sind, so auch das Gesundheits-ZielsteuerungsG-G-ZG).
  • in jedem Land14 ein oder mehrere Gesetze zur Umsetzung dieser Vereinbarungen, soweit Kompetenzen des jeweiligen Landes betroffen sind, derzeit hauptsächlich die neun Landes-Krankenanstaltengesetze und Gesetze über die Organisation von deren Finanzierung (Landesfonds, Gesundheitsfonds).
  • und am Schluss noch die ebenfalls kundzumachenden Planungsunterlagen, der Österreichische Strukturplan Gesundheit ÖSG und die Regionalen Strukturpläne Gesundheit RSG, kundgemacht ebenfalls im RIS, allerdings (was mit einen Grund in der Diskussion zum Thema „Urheber“ hatte), in einer speziellen Form, unter Kundmachungen, Erlässe – Strukturpläne Gesundheit (ÖSG, RSG). Diese Planungsunterlagen haben als Spezialität, dass sie für Bund und Länder gleichzeitig gelten, was aber vom VfGH nicht als kritikwürdig angesehen wurde.15 Die Aufhebung der jeweils zugrundeliegenden Bestimmungen hatte andere Gründe.
[17]

Dass für die Verbindlicherklärung und die Kundmachung der Strukturpläne eine eigene GmbH gesetzlich errichtet16 werden musste, deren Gesellschafter/innen der Bund (mit 11.700 € Stammeinlage), die Länder (je mit 1.300 €) und der Dachverband der Sozialversicherungsträger (mit 11.700 €) sind, überrascht weiter nicht, bedenklich stimmt allerdings, dass der Anlassfall des Verfahrens ein Bescheid vom 18. Februar 2016 war. Das ist keine Kritik an Behörden, sondern eine Aussage über die Renovierungsbedürftigkeit der Rechtslage.

[18]

Und es verwundert auch nicht, dass im RIS (nicht nur für solche Situationen) die Angabe des „Urhebers“ einer Rechtsvorschrift vermieden ist. Dazu kommt, dass es für die Auslegung der zit. Vereinbarungen eine Sonderregel gibt: Auf diese Vereinbarungen sind die Grundsätze des völkerrechtlichen Vertragsrechtes anwendbar.17

[19]

Es kommen für die hier geschilderte Rechtslage auf den ersten Blick folgende Stellen oder Gruppen für eine Urheberangabe in Betracht:

  • Die Gemeinschaft „Bund und Länder“ als Vertragspartner der Vereinbarungen nach Art. 15a B-VG.
  • Der Bund und jedes Land für sich in der Rolle als Gesetzgeber der Umsetzungsgesetze, wobei deren zehn (mit dem Bundesrat elf) unabhängig voneinander zuständigen gesetzgebenden Organe jeweils sogar theoretisch eigene Begründungen für die einheitlich vereinbarten Texte formulieren und veröffentlichten könnten.
  • Bund, Länder mit der Sozialversicherung (repräsentiert durch ihren Dachverband), weil die SV auch Mitglied in entscheidenden Gremien, den Zielsteuerungskommissionen auf Bundes und auf Landesebene ist.
  • Die erwähnte Gesundheitsplanungs GmbH mit ihrer Aufgabe, die Strukturpläne auch tatsächlich als verbindlich zu erklären und zu veröffentlichen.
  • Alle Genannten gemeinsam (vgl. dazu aber bereits FN 2)?
  • Oder pro Rechtsakt nur der durch seine Organe jeweils beschließende Rechtsträger: Republik Österreich-Bund, jedes Land, die GmbH?

4.

Ärztenotdienst-Erkenntnis – VfGH G 101/2022 vom 28. September 2022 ^

[20]

Hier hatte die burgenländische Landesregierung beim VfGH beantragt, einige Passagen des Ärztegesetzes wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben, weil darin ein Organ der Ärztekammer (für sich allein, also ohne Mitwirkung anderer Stellen) ermächtigt werde, einen ärztlichen Not- und Bereitschaftsdienst einzurichten. Diese Maßnahme beträfe aber auch die in der Sozialversicherung zusammengefassten krankenversicherten Personen und würde deren Rechte auf Krankenversicherungsschutz18 gestalten. Die alleinige Befassung der ärztlichen Standesvertretung sei nicht ausreichend, weil ein ärztlicher Notdienst nicht im alleinigen gemeinsamen Interesse (der Ärzte) gelegen und geeignet sei, durch die Ärzte gemeinsam besorgt zu werden.19 Details sind hier nicht Thema, der Antrag wurde abgewiesen. Für die Rechtsinformatik ist allerdings die Begründung für diese Abweisung relevant, weil sie die Notwendigkeit zeigt, sich mit dem „Urheberbegriff“ näher auseinanderzusetzen:

[21]

Der VfGH meint, dass die angefochtene Rechtslage aus folgenden Gründen verfassungskonform sei: Die Beziehungen zwischen Ärzten und Sozialversicherung seien in den Gesamtverträgen zwischen den Trägern der Sozialversicherung und den jeweiligen Ärztekammern20 über die ausreichende Versorgung der Versicherten und ihrer Angehörigen mit Leistungen sichergestellt. Dass diese Vorgangsweise verfassungsrechtlich unbedenklich sei, habe der VfGH bereits in einer früheren Entscheidung festgehalten.21 Dass es einen Notdienst geben solle, sei bereits im Gesetz festgelegt, die Rolle der ÄK ginge nur dahin, die organisatorisch notwendige Einrichtung dieses Dienstes festzulegen.22 Es richte sich nach dem Gesamtvertrag, „welche Leistungen wie abgegolten werden sollen“.23 Das wird später näher ausgeführt in der Formulierung „Die Frage des ‚Ob‘ ist eine Sache, die im Gesamtvertrag oder allenfalls in einem anderen Gesetz oder einer Verordnung zu regeln ist, denn dadurch werden die Rechtsansprüche und die (Rechts-)Verhältnisse Dritter tatsächlich derart berührt, dass dies jedenfalls nicht mehr als Angelegenheit, die im überwiegenden Interesse der Ärzteschaft gelegen ist, betrachtet werden kann.24

  • Damit räumt der VfGH ein, dass die öffentl. Rechtsansprüche nach dem (Sozial-)Versicherungsrecht durch (Gesamt-)Vertrag organisatorisch gestaltbar sind. Das ist (soweit Ärzte betroffen sind) nicht neu, die Wirkungen eines Gesamtvertrages haben bereits vor längerer Zeit zur amtlichen Kundmachung dieser Verträge im RIS geführt.25
  • Es ist schon länger geklärt, dass die öffentl. Rechtsansprüche nach dem (Sozial-)Versicherungsrecht durch (Gesamt-)Vertrag nicht gestaltbar sind. Die Grenzen des Krankenbehandlungsanspruchs können durch GesV nicht geändert werden, entgegenstehende Verträge sind nichtig.26
[22]

Dass aber in den „Versicherungsbedingungen“ der Sozialversicherung27 vorgesehen ist, insbesondere die Pflichten der Versicherten im Leistungsfall, das Verfahren bei der Inanspruchnahme von Leistungen usw. dort zu regeln, führt auf die eingangs gestellte Frage zurück: Wenn die Versicherung dieses Verhalten regelt (Antragsberechtigungen usw.), tut sie das dann öffentlich-rechtlich über die Krankenordnung (dann ist der „Urheber“ klar) oder kann sie das auch über einen (Gesamt-)Vertrag mit der Ärztekammer tun? Und wer ist dann der Urheber für diesen Vertragstext? Wohl beide Vertragspartner. Wie ist das in der elektronischen Rechtsdokumentation zu behandeln? Wird die ÄK hier zum „Miturheber“28 dieser Verhaltensregeln, für welche die SV an sich allein zuständig wäre? Kann man eine Urheberschaft ivZ überhaupt aufspalten oder delegieren?

5.

Gesamtverträge in der Organisationsreform ^

[23]

Folgt man dem VfGH, so wird der Inhalt von Gesamtverträgen auch in Zukunft zumindest in organisatorischer Hinsicht im Gesundheitswesen relevant sein. Hier ist der Ausgangspunkt, sich diesem Thema überhaupt zu widmen. Im Rahmen der letzten Organisationsreform wurde vorgesehen, dass die zum 31. Dezember 2019 geltenden Verträge der früheren Gebietskrankenkassen mit den Gesundheitsberufen bzw. deren Standesvertretungen bis zu neuen Vertragsabschlüssen durch die Österreichische Gesundheitskasse weitergälten.29 Das bedeutet (vernünftigerweise), dass Verträge, die für die Rechtsdokumentation andere „Urheber“ hätten, unter den aktuellen Vertragspartnern weitergelten. Diese Situation sollte ebenfalls auch elektronisch nach allgemeinen Regeln abbildbar werden, somit eine variable Zahl von Urhebern, bei Verträgen auf beiden/allen Seiten, ermöglichen.

[24]

Derzeit kann das nur händisch so dargestellt werden:

„Urheber“ bis Ende 2019 „Urheber“ auf SV-Seite ab 2020
Vertragspartner Gesundheitsberufe Vertragspartner Sozialversicherung alt Vertragspartner Sozialversicherung neu
Ärztekammer a Wiener Gebietskrankenkasse Österreichische Gesundheitskasse
Ärztekammer b + c Salzburger GKK Österreichische Gesundheitskasse
Betriebskrankenkasse xyz Österreichische Gesundheitskasse

Tabelle 1: Urheber der Gesamtverträge der Österreichischen Gesundheitskasse

[25]

Einer der in den Legistik-Gesprächen 2022 gemachten Vorschläge zur grundlegenden Neuausrichtung gemeinschaftlicher Verträge von „Bund und Ländern“ nach Art. 15a B-VG30 umfasste eine Sammlung und Sichtung aller Vereinbarungen und eine Herauslösung jener in Gruppen, die einen gemeinsamen Gegenstand haben. Heruntergebrochen auf die Frage der Urheberschaft einer Rechtsdokumentation (oder auch einer Kundmachung) könnte das eine detailliertere Aufbereitung des Metadatums „Urheber“ bedeuten. Idealerweise müsste ein solches System dann technisch nicht nur einen Urheber, sondern einen Urheber 1, einen Urheber 2, einen Urheber 3 usw. vorsehen. Das würde dann eine detaillierte Urhebergemeinschaft ergeben. Zur Veranschaulichen wurde dies in der SozDok beim Vorarlberger Ärztegesamtvertrag – allerdings nur in einem einzigen Metadatenfeld! (daher nicht getrennt nach einzelnen Urhebern suchbar) – umgesetzt.

Abbildung 6: Statt dem generalisierenden Urheber „ÖGK Gesamtvertrag” wurden beide unterzeichnenden Vertragsparteien im (einzigen) Feld „Urheber” aufgezählt.

6.

Ausblick ^

[26]

Das mag Zukunftsmusik sein, da aber die Organisationsformen von Rechtsdokumentation allein durch die technischen Rahmenbedingungen leichter veränderbar werden dürften, sollten auch Situationen wie die in diesem Beitrag dargestellten im Auge behalten werden. Die Entscheidungen des VfGH geben weiters Anlass, die Unterscheidung zwischen Materiengesetzgeber und Organisationsgesetzgeber auch im Rahmen von Arbeiten an Rechtsdokumentationen zu berücksichtigen. Eine einheitliche Behandlung des Themas täte freilich Not. Ziel sollte sein, den mit der Auslegung von Gesetzen befassten Personen einschlägige Informationen möglichst vollständig (oder zumindest leicht auffindbar) verfügbar zu machen.

  1. 1 https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=jgs&datum=1012&page=1&size=45 [aufgerufen am 22.11.2022].
  2. 2 Franz Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, WUV Wien 2005, S. 24–26 (Kurzfassung, Grundlegend ist „Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff“, Wien 1982, 2. Aufl. 1991). Er sieht dort als „Gesetzgeber“ sogar alle informell und formell am Gesetzgebungsakt beteiligten realen Menschen und meint, es wäre realitätsfremd, einen „Kollektivwillen“ zu unterstellen. Es bliebe allerdings zu diskutieren, wie sich dies mit der Erforschung des Willens des Gesetzgebers nach § 6 ABGB vereinbaren lässt.
  3. 3 Arg: „… und dem Willen …“.
  4. 4 § 92 Abs. 2 vbgGemeindegesetz LGBl. Nr. 45/1965: in § 21 ABGB die Wortfolge „und Gemeinden“ sowie § 27 und § 867 ABGB, soweit diese Bestimmungen in den selbstständigen Wirkungsbereich der Länder fielen, für den Bereich des Landes Vorarlberg.
  5. 5 Art. 10 Abs. 1 Z 11 B-VG.
  6. 6 Art. 12 B-VG.
  7. 7 Art. 120a ff. B-VG.
  8. 8 Darunter die „mittelbare Bundesverwaltung“, nach welcher Bundesangelegenheiten durch Länderbehörden zu erledigen sind: Art. 102 B-VG. Der Bund darf nicht alles, wofür er zuständig ist, auch tatsächlich durch eigene Behörden selbst erledigen; aber auch umgekehrt Zustimmungsrecht des Bundes, wenn ein Landesgesetz bei der Vollziehung die Mitwirkung von Bundesorganen vorsehen sollte: Art. 97 Abs. 2 B-VG.
  9. 9 Art. 15a B-VG.
  10. 10 Rz 178 des zit Erkenntnisses, u. a., weil hier die Kundmachung einschlägiger Gesetze betroffen wäre (Art. 102 Abs. 1 Schlusssatz B-VG).
  11. 11 Vereinbarung gemäß Art 15a B-VG über die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens, BGBl. I Nr. 98/2017, und die Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG Zielsteuerung-Gesundheit, BGBl. I Nr. 97/2017.
  12. 12 Für Salzburg z. B. Vereinbarung gemäß Art 15a B-VG über die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens, sbgLGBl Nr. 60/2017.
  13. 13 Vereinbarungsumsetzungsgesetz 2017 – VUG 2017, BGBl. I Nr. 26/2017, mit dem ein Bundesgesetz zur partnerschaftlichen Zielsteuerung-Gesundheit (Gesundheits-Zielsteuerungsgesetz – G-ZG) erlassen wird sowie das Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten, das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz, das Bauern-Sozialversicherungsgesetz, das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, das Ärztegesetz 1998, das Bundesgesetz über die Gesundheit Österreich GmbH und das Bundesgesetz über die Dokumentation im Gesundheitswesen geändert werden.
  14. 14 Für Salzburg z. B. die Novelle zum sbg Krankenanstaltengesetz 2000, LGBl. Nr. 25/2018 und das Salzburger Gesundheitsfondsgesetz – SAGES-Gesetz 2016, LGBl. Nr. 121/2015.
  15. 15 Rz 252 im Erkenntnis G 334-341/2021. Der Verfassungsgerichtshof vermag nicht zu erkennen, dass die Ermächtigung zur Erlassung kompetenzübergreifender „gemischter“ Verordnungen die Weisungsbefugnisse oberster Organe der Vollziehung oder die parlamentarische Verantwortlichkeit dieser Organe beeinträchtigen würde.
  16. 16 § 23 G-ZG. Gesundheitsplanungs GmbH, Firmenbuch HG Wien, FN 483544 w.
  17. 17 Art. 15a Abs. 3 B-VG.
  18. 18 §§ 122 ff. ASVG.
  19. 19 Art. 120a Abs. 1 B-VG.
  20. 20 §§ 338 ff. ASVG.
  21. 21 Rz 29 der zit. Entscheidung, die frühere Entscheidung ist das Erkenntnis VfGH vom 10. 12. 2014, B 967/2012 ua., wonach die vertragliche Verpflichtung der Teilnahme am notärztlichen Dienst nicht menschenrechtswidrig (als Zwangsarbeit) ist.
  22. 22 Rz 60.
  23. 23 Rz 34.
  24. 24 Rz 60.
  25. 25 Im RIS unter „Kundmachungen, Erlässe“ Amtliche Verlautbarungen der Sozialversicherung – authentisch ab 2002; vgl. auch dazu Gmoser/Souhrada, Ärzteverträge der Sozialversicherung im Internet, In: Schweighofer (Hrsg.), Europäische Projektkultur als Beitrag zur Rationalisierung des Rechts, Tagungsband des 14. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2011, Salzburg 2011, S. 487.
  26. 26 § 879 ABGB, § 539 ASVG, VfSlg. 19.251: Willkür durch Verkennen der Rechtslage.
  27. 27 § 456 ASVG, Krankenordnung.
  28. 28 KollegInnen aus dem gewerbl. Rechtsschutz mögen diese Anleihe aus § 11 Urheberrechtsgesetz verzeihen, die dortigen Rechtswirkungen sind nicht gemeint.
  29. 29 § 718 Abs. 6 ASVG.
  30. 30 Raffler, Mögliche Themen für eine Fortentwicklung des Praxis-Leitfadens „Vereinbarungen gemäß Art. 15a BVG“, In: Linzer Legistik Gespräche 2022, Band noch nicht erschienen.