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Einige Gesichtspunkte der Menschenwürde

  • Author: Marijan Pavčnik
  • Category of articles: Legal Theory
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2023
  • DOI: 10.38023/b6a3fe1c-01b1-4914-adc8-c85f40ee0ffc
  • Citation: Marijan Pavčnik, Einige Gesichtspunkte der Menschenwürde, in: Jusletter IT 27 April 2023
The paper deals particulary with some aspects disclosed by the Decision of the Constitutional Court of the Republic Slovenia of 2011 in the matter Tito Street (U-I-109/10). The Decision repealed Art. 2 of the Ordinance, by which the Municipality Ljubljana decided that a street should be named Tito Street. The fundamental argument of the Decision was that the name of Josip Broz Tito (1892−1980) was a symbol of the totalitarian regime in the former Yugoslavia. − The Constitutional Court reasoned that the repealed Ordinance was issued in 2009, i.e. eighteen years after Slovenia had become independent and established a constitutional order »based on constitutional values contrary to the values of the regime before the independence«. Such new namings were contrary to the principle of respecting human dignity having its basis in the constitutional principle that Slovenia was a democratic republic (Art. 1 of the Constitution of the Republic Slovenia). − Human dignity and democracy are an important pair. Their connection does not lie in that humany dignity would necessarily result from the principle of democracy, but in that human dignity as the central element of constitutional democracy contentually binds the forms of democratic decision-making. The closer this connection is and the more intensively the democratic decision- making strengthens and deepens the dimensions of human dignity, the higher the quality of the democracy based on human dignity is.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Entscheidung U-I-109/10-11 des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien
  • 2. Einige offene Fragen
  • 3. Menschenwürde als Rechtsargument
  • 4. Anstatt eines Schlusses

1.

Entscheidung U-I-109/10-11 des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien ^

[1]

1. Der nachfolgende Kommentar1 befasst sich mit einigen Gesichtspunkten, die durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien (in der Fortsetzung: VerfGERS) aus dem Jahr 2011 in der Angelegenheit Titostraße eröffnet wurden.2 Diese Entscheidung hob den Artikel 2 des Erlasses, mit dem die Stadtgemeinde Ljubljana die Neubenennung einer Straße mit dem Namen Titostraße bestimmt hatte, auf. Das tragende Argument der Entscheidung war es, dass der Name von Josip Broz Tito das totalitäre Regime im ehemaligen Jugoslawien symbolisiert. In der Entscheidung heißt es, dass »die Neueinführung einer nach Josip Broz Tito als Symbol des jugoslawischen kommunistischen Regimes benannten Straße objektiv als eine Auszeichnung des ehemaligen undemokratischen Regimes verstanden werden könnte.«

[2]

2. In der Begründung der Entscheidung wird dieses tragende Argument eingehender aufgegliedert. Eine charakteristische Stelle:

»Die Benennung einer Straße nach Josip Broz Tito ist nämlich keine Benennung, die sich noch aus der ehemaligen Ordnung erhalten hätte und heute nur ein Teil der Geschichte wäre. Der angefochtene Erlass wurde 2009 verabschiedet, also achtzehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Konstituierung einer Verfassungsordnung, basierend auf Verfassungswerten, die den Werten des Regimes vor der Unabhängigkeit widersprechen. Solchen Neubenennungen sollte man in heutiger Zeit keinen Raum mehr geben, da sie dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde, das seine Grundlage in Art. 1 der Verfassung hat und zum wahren Kern der Verfassungsordnung der Republik Slowenien gehört, widersprechen.«

2.

Einige offene Fragen ^

[3]

3. Die slowenische Verfassung enthält keine ausdrückliche Erklärung über Menschenwürde, doch die kann unbestreitbar aus einer Reihe von Verfassungsbestimmungen abgeleitet werden. Das VerfGERS ordnet »das Prinzip der Achtung der Menschenwürde« in Art. 1 der Verfassung der Republik Slowenien (in der Fortsetzung: VRS) ein, nämlich in den Text, dass Slowenien »eine demokratische Republik« ist.3 In Punkt 19 der Begründung hebt es ausdrücklich hervor, dass Menschenwürde »eine Eingrenzung beim Entscheiden von demokratisch gewählten repräsentativen Organen« bedeutet.4

[4]

4. Das Verfassungsgericht legt die Verfassung5 aus und bestimmt sie inhaltlich (d. h. auslegungsmäßig) an konkreten Fällen. Das Feld der Kreativität ist breit und groß, doch sei die Breite auch noch so groß, so handelt es sich »lediglich« um Auslegung und nicht um reine Erzeugung von Verfassungsprinzipien und -normen.6

[5]

Die auslegende Einordnung des Prinzips der Menschenwürde in Art. 1 der Verfassung ist nur teilweise begründet. Die Definition, dass Slowenien eine »demokratische Republik« ist, ist eine verfassungsmäßige Bestimmung der Staatsform. Für den vorliegenden Diskurs ist von besonderer Bedeutung, dass die Republik »demokratisch« ist.

[6]

Demokratie ermöglicht, dass im Staat der Wille des Volkes angemessen ausgedrückt wird, zugleich ist Demokratie jedoch auch durch Verfassungswerte eingegrenzt, die durch demokratisches Entscheiden geachtet und geschützt werden müssen. Einer dieser Verfassungswerte ist auch Menschenwürde, über die die Bürger nicht nach dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung verfügen können. Die Demokratie, von der die Rede ist, nennt man konstitutionelle Demokratie.

[7]

5. Wenn ich mich auf den Standpunkt des ehemaligen deutschen Verfassungsrichters und Vizepräsidenten des deutschen Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer stütze, sind die besonderen Merkmale der konstitutionellen Demokratie wie folgt:

»Im Begriff der konstitutionellen Demokratie ist der Zusatz ‚konstitutionell‘ nicht ein schmückendes Beiwort oder eine milde Umleitung des substantivischen Wortsinns wie etwa der Zusatz ‚liberal‘ im Begriff des liberalen Rechtsstaats. Der Zusatz ‚konstitutionell‘ ist im Begriff der konstitutionellen Demokratie vielmehr ein Einbruch in das leitende Substantiv. Er legt nicht mehr und nicht weniger als die Grenze des demokratischen Prinzips fest; er bringt zum Ausdruck, dass die Richtigkeit von Mehrheitsentscheidungen jetzt unter einem fundamentalen Vorbehalt steht, nämlich unter dem Vorbehalt der Übereinstimmung dieser Entscheidungen mit der Verfassung.«7
[8]

Ein Ausgangspunkt und wesentlicher Bestandteil der konstitutionellen Demokratie ist auch Menschenwürde. Es ist zu eng, Menschenwürde lediglich aus der »demokratischen Republik« abzuleiten. In der Entscheidung des Verfassungsgerichts wird begründeterweise der geschichtliche Verlauf der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowohl auf internationaler Ebene als auch vom Standpunkt der slowenischen Staatlichkeit angegeben. Auslegungsmäßig ist es von Bedeutung, dass auch die Präambel (zur VRS), die eine starke teleologische Ladung aufweist, von »Menschenrechten und Grundfreiheiten« ausgeht. In diesem Sinne ist Menschenwürde die Grundlage und der Kitt der Grundrechte,8 die man als einen Verfassungswert achten und schützen muss (siehe auch Punkte 8 und 9).

[9]

6. In der Begründung der Entscheidung wird besonders betont, dass das Verfassungsgericht nicht »die Persönlichkeit und die konkreten Handlungen von Josip Broz Tito« beurteilt und sich nicht mit der geschichtlichen Beurteilung von »Tatsachen und Umständen« befasst hat.9 In diesem Zusammenhang sollte man auch den Standpunkt über die gegen die Menschenwürde verstoßenden Symbole anführen:

»Über die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift oder eines anderen obrigkeitlichen Handelns, das Symbolbedeutung hat, kann man sprechen, wenn dieses Symbol mit Obrigkeitsautorität Werte ausdrückt, die mit den Verfassungsgrundwerten wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat unvereinbar sind. (...) Die Obrigkeit muss immer im öffentlichen Interesse handeln und dabei die aus den Verfassungsprinzipien und den Menschenrechten und Grundfreiheiten hervorgehenden verfassungsmäßigen Begrenzungen berücksichtigen. Da das Ausdrücken von Werten, die den grundlegenden Verfassungswerten entgegengesetzt sind, nicht im öffentlichen Interesse sein kann, ist die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des obrigkeitlichen Handelns nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (d. h. dem Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse und den verletzten Verfassungswerten) unterworfen, sondern solches Handeln an sich ist verfassungswidrig.«10
[10]

Symbolische Benennungen haben mehrere Aspekte. Im konkreten Fall sind wenigstens zwei von Bedeutung. Die erste Möglichkeit ist, dass man eine Straße oder einen Platz mit einer konkreten Person verbindet, die zweite ist, dass man ein Symbol, das ein bestimmtes Phänomen benennt, verwendet. Wenn man über eine konkrete Person spricht, muss man auch deren Würde berücksichtigen. In diesem Fall ist es rechtlich unrichtig, wenn man den Namen als ein Symbol, das man nicht mit der Beurteilung der konkreten Handlungen einer konkreten Person verbindet, verwendet. Wenn die Benennung nach einer bestimmten Person rechtlich unzulässig ist, muss man genug überzeugende Tatsachen anführen, dass diese Person bestimmte Taten begangen hat und dass deshalb die Menschenwürde anderer Personen verletzt würde, wenn die Straße nach dieser Person benannt würde.11

[11]

Konkrete Tatsachen braucht man nicht anzugeben, wenn der Name symbolisch ein allgemein bekanntes Phänomen mit einem notorischen Hintergrund angibt. Nehmen wir an, dass eine Straße »Nationalsozialistische Straße« hieße. In diesem Fall genügt es, dass man das Symbol entsprechend erklärt, ohne es durch konkrete Tatsachen begründen zu müssen. So kann man sich auch bei Benennungen nach Personen (z.B. nach Hitler), von denen allgemein bekannt ist, dass sie Gräueltaten verübten, verhalten.

3.

Menschenwürde als Rechtsargument ^

[12]

7. Menschenwürde ist ein sensibles Argument.12 Sensibel sind sowohl sein Bedeutungskern als auch sein Bedeutungshof, der vom Kern befruchtet werden soll. Der Bedeutungskern wäre somit das Wort Menschenwürde. Der Wahrheit zuliebe ist zu sagen, dieses Wort ist so ungenau, dass man damit den Bedeutungshof nicht näher beleuchten kann. Offensichtlich muss man einen anderen Weg gehen.

[13]

Für einen dieser Wege setzt sich Ulfrid Neumann ein, der das Prinzip der Menschenwürde als »Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse« versteht.13 Eine ähnliche Frage habe ich mir selbst vor Jahren gestellt. Ich fragte mich, um Neumanns Terminologie zu benutzen, welche diejenigen menschlichen Interessen und Bedürfnisse seien, die durch Menschenwürde verknüpft, gedeckt und auch geschützt werden sollten. Ich sprach mich dafür aus, Menschenwürde sei

»der gemeinsame Wertausgangpunkt, aus dem das ganze Verfassungsgebäude erwächst: sie bezieht sich auf den Schutz der Würde von lebenden und bereits verstorbenen Personen, als Wertungsmaßstab ist sie auch bezüglich unserer Pflichten gegenüber künftigen Generationen aktuell – sei es betreffend den Schutz einer gesunden Umwelt, des Natur- und Kulturerbes oder etwa betreffend die Dilemmas in Zusammenhang mit Gentechnologie und technischer Beeinflussung von menschlichen Embryos. In Ländern mit einer totalitären Vergangenheit ist der Schutz von Menschenwürde noch ganz besonders empfindlich in (Straf- und anderen) Verfahren vor Staatsorganen und während der Durchführung von Freiheitsstrafen.«14
[14]

8. Die angeführte Definition ist kein positivrechtlicher Begriff, der unmittelbar aus der Verfassung und ihrer Bestimmungen hervorginge, trotzdem handelt es sich um eine Definition, die indirekt aus der Verfassung (besonders aus deren Bestimmungen über Grundrechte) und aus den Werten, die den Ausgangspunkt der Verfassung bilden, hervorgeht. Und ich würde sagen, dass das wesentlich ist. Wenn ich von der Ausnahme, die als Radbruchsche oder eine ihr ähnliche Formel bekannt ist, absehe, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass es sich um ein Verständnis der Menschenwürde, dass sich innerhalb des Bedeutungshofes der Verfassung befindet, handeln muss. In diesem Kontext bin ich besonders an der Frage interessiert, wie man Menschenwürde als Rechtsargument anwenden kann.

[15]

Es sind besonders zwei Ausführungen bekannt. Die erste ist für das GG typisch, das mit der Bestimmung über die Würde des Menschen beginnt,15 wonach ein Katalog der Grundrechte in den ersten 19 Artikeln folgt. Die VRS nimmt nicht diesen Weg. In der slowenischen Verfassung sind zuerst die Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung angegeben (einschließlich der Grundsätze, dass Slowenien eine demokratische Republik ist (Art. 1), dass es ein Rechts- und Sozialstaat ist (Art. 2) und dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Gewalt unmittelbar und durch Wahlen nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung in die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt (Art. 3/2) ausüben. Der Gruppe der Grundsätze folgen die Kapitel über Grundrechte (Art. 14−65) und das Kapitel über wirtschaftliche und soziale Verhältnisse (Art. 66−79), worin sich die Grundrechte aus diesem Gebiet befinden.

[16]

In der deutschen Ordnung ist die Würde des Menschen, wie bereits gesagt, ausdrücklich und mit Betonung bereits am Anfang des GG angegeben, während in der slowenischen Verfassung der Ausdruck Menschenwürde gar nicht unmittelbar vorkommt. Dem Begriff der Menschenwürde am nächsten kommen noch der Schutz der Persönlichkeit und der persönlichen Würde (im Straf- und allen anderen rechtlichen Verfahren) aus Art. 2116 und das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit aus Art. 34.17 Dessen ungeachtet kann und soll man auch die slowenische Verfassung dahingehend verstehen, dass ihr Katalog der Grundrechte aus dem Menschen und seiner Würde hervorgeht.18

[17]

9. Menschenwürde ist auch der Wert, der bestimmt und mitbestimmt, wie man den Verfassungstext verstehen soll. Das ist von besonderer Bedeutung bei der teleologischen Auslegung der Verfassungsinstitute und -rechte. Als Beispiel möchte ich die verfassungsgerichtliche Entscheidung anführen, die ich vor Jahren als das Argument »menschenwürdiges Leben« bezeichnete. Die Ratio decidendi dieser Entscheidung war es, dass es sich um eine Verletzung des Rechtes auf persönliche Würde und des Rechtes auf soziale Sicherheit handle, wenn einem Verurteilten, außer der obligatorischen Ersparnis, durch Zwangsvollstreckung sein ganzes Geld abgenommen würde; auch einem Verurteilten muss man einen Betrag lassen,

»über den er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, deren Befriedigung ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, frei verfügen kann, und dass rechtsmäßigen Unterhaltsansprüchen auch bei Vollstreckung der Entlohnung im Strafvollzug derselbe Vorrang wie bei Vollstreckung auf andere Einnahmen gesichert ist.«19
[18]

Das Argument, das ich gerade kurz beschrieben habe, könnte man ein Unterstützungsargument nennen. Es geht darum, dass man durch das Argument der Menschenwürde eines der in der Verfassung ausdrücklich anerkannten Grundrechte unterstützt und vertieft. Dieses Argument hat ein zusätzliches Gewicht in allen jenen Ordnungen, wo Menschenwürde nicht ausdrücklich als ein selbstständiges Grundrecht definiert wird. Es ist interessant, dass auch ein Teil der deutschen Rechtstheorie der Meinung ist, Menschenwürde sei kein selbstständiges Recht.20

[19]

Im Rahmen dieses Beitrags kann ich mich nicht darüber auslassen. Grundsätzlich möchte ich dazu nur sagen, dass Menschenwürde als Unterstützungsargument ebenfalls ihr Gewicht hat. In der slowenischen verfassungsgerichtlichen Praxis hat die (persönliche) Würde des Menschen zahlreiche Grundrechte gefestigt. Als Beispiele21 erwähne ich das Recht auf Leben22, das Folterverbot23, das Recht auf freies Entscheiden über Therapie24, den Schutz personenbezogener Daten25, die Bewahrung der Würde und Achtung der Verstorbenen26, den gleichen Schutz der Rechte27, das Privileg gegen Selbstbeschuldigung28, den Schutz des Kindeswohls29, das Recht auf soziale Sicherheit (einschließlich des Rechts auf Altersrente)30 usw. Verallgemeinert kann ich sagen, dass in allen diesen Fällen das Unterstützungsargument verwendet wird, um das einzelne Recht auch durch das Argument der Menschenwürde zu begründen oder es durch Menschenwürde auszubauen oder um das einzelne Recht noch klarer und bestimmter zu schärfen.31

[20]

Das Unterstützungsargument steht der Menschenwürde als Grundrecht sehr nahe. Das Unterstützungsargument kann in hohem Maße erreichen, dass sich Menschenwürde durch alle jene Grundrechte, die bedeutungsmäßig lose sind und eine Angleichung ihres normativen Inhalts an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse und vielfältige Lebensfälle erlauben, durchsetzt. Die Veränderlichkeit der Wertung bezieht sich auch auf die Menschenwürde selbst, die notwendigerweise mit der Zeit im Kultur- und Zivilisationsraum atmet. Die Veränderlichkeit der Wertung verlangt zusätzlich, dass man von Fall zu Fall und nicht nur in abstracto begründet, wenn man nicht will, dass die Menschenwürde in ihren Gegensatz umschlägt. Dabei ist Kants kategorischer Imperativ über den Menschen als Subjekt und nie als lediglich Objekt32 richtunggebend.

[21]

10. An anderer Stelle wurde bereits erklärt, dass Menschenwürde die Grundlage und das Bindemittel der Grundrechte ist. Es liegt in der Natur der Grundlage, dass sie auch ein Wertungsprinzip ist, das eine ähnliche Natur wie die Rechtsprinzipien hat. Auf der Begriffsebene ist das Recht nicht nur ein System von Rechtsnormen, die das Ergebnis des Verständnisses von Verfassung, Gesetzen und anderen Rechtsakten sind. Das Recht ist auch ein System von Prinzipien und Normen, die zusammen eine Bedeutungseinheit bilden.

[22]

Von Rechtsprinzipien sagt man, dass sie Wertungsmaßstäbe sind, die die inhaltliche Definition der Rechtsnormen, deren Verständnis und die Art deren Durchführung lenken. Es liegt in der Natur der Rechtsprinzipien, dass sie das Ziel der rechtlichen Regulierung ausdrücken, die Breite, in der sich die Normen bewegen sollten, bestimmen und zugleich ein Gewicht mitbringen, das einem hilft, Konflikte (Zusammenstöße) zwischen mehreren Normen (z.B. zwischen Rechten) zu lösen. Alle drei Eigenschaften der Rechtsprinzipien sind für die Auslegung von großer Bedeutung. Eine besondere Eigenheit hat das Gewicht, das den Normen nicht schon an sich eigen ist.33

[23]

Menschenwürde ist in fast alle Grundrechte eingepflanzt (siehe Punkt 9). Die Grundrechte sind einerseits Normen, die aussagen, welche Rechtsfolgen eintreten sollen, wenn man sich in entsprechenden konkreten Umständen (also in einem Sachverhalt, der ein Fall des Tatbestands auf der konkreten Ebene ist) vorfindet. Hinter den Rechten stehen Rechtsprinzipien, die noch ganz besonders wichtig sind, wenn es zu einem Konflikt von zwei Rechten kommt oder wenn durch niedrigere Rechtsakte (z.B. Gesetze) normativ abgeleitet und ausführlicher bestimmt werden muss, wie man einzelne Verfassungsrechte umsetzen sollte.

[24]

Die slowenische Gerichtspraxis befasste sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit der Frage des Konflikts zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung (Anführung personenbezogener Daten verstorbener Familienangehöriger auf einer Gedenktafel) und dem Recht auf Pietät, das ein Bestandteil des Rechts auf seelische Unversehrtheit des Einzelnen ist. Das Gericht stellte fest, dass die Anführung personenbezogener Daten an einer den während des Zweiten Weltkriegs (als Opfer) Verstorbenen gewidmeten Gedenktafel in das Recht auf Pietät, die die Antragssteller gegenüber den Verstorbenen entgegenbrachten, eingegriffen hatte. Im Kern der Entscheidung heißt es, der Eingriff in das Recht auf Pietät stand »nicht im Verhältnis zum öffentlichen Interesse, die Daten über Kriegsopfer in diesem Jahrhundert und des Antragsgegners zur Idee der Volksaussöhnung zu erfahren.«34

[25]

Der Konflikt zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und dem Schutz des Rechts auf Privatsphäre gehört zu den häufigsten Fällen, in denen die Entscheidung vom Gewicht der in den sich gegenüberstehenden Rechten befindlichen Prinzipien abhängt. Dieser Frage begegnet man oft auch in der (verfassungs-)gerichtlichen Praxis. Die Entscheidung hängt davon ab, ob die beiden Rechte gemäß ihres Gewichts koexistieren können oder ob es sich um zwei Rechte handelt, von denen das Recht mit einem geringfügigen Gewicht dem Recht mit einem verhältnismäßig wesentlich höheren Gewicht Platz machen muss.

[26]

Zu den sensibelsten Fällen gehören solche, die sich auf Kunstfreiheit und Besonderheiten des künstlerischen Schaffens beziehen. Jemand kann sich in einem künstlerischen (z.B. literarischen) Werk wiedererkennen, ohne dass dadurch in den geschützten Hof der Privatsphäre eingegriffen würde.35 Wenn der Künstler das Problem überarbeitet und verallgemeinert hat, handelt es sich um die Freiheit des künstlerischen Schaffens, die man nicht einengen darf.

4.

Anstatt eines Schlusses ^

[27]

11. Menschenwürde und Demokratie sind ein bedeutungsvolles Paar.36 Deren Verbindung besteht nicht darin, dass Menschenwürde zwangsläufig aus dem Prinzip der Demokratie hervorgehen würde, sondern darin, dass Menschenwürde als zentrales Element der konstitutionellen Demokratie die Formen des demokratischen Entscheidens inhaltlich verpflichtet. Je enger diese Verbindung ist und je intensiver durch demokratisches Entscheiden die Dimensionen der Menschenwürde gefestigt und vertieft werden, desto hochwertiger ist eine menschenwürdige Demokratie.

[28]

12. Doch da besteht noch die Kehrseite der Medaille. Es liegt in der Natur der Grundrechte, dass sie die Conditio sine qua non der menschlichen Freiheit sind. Wenn es diese Freiheit nicht gäbe, wäre Demokratie verknöchert und ausgehöhlt. Die Voraussetzung für eine tätige und schöpferische Demokratie ist es, dass der Wille der Menschen inhaltlich gestaltet und verwirklicht werden kann. Die Grundrechte (zusammen mit Menschenwürde in allen ihren Dimensionen) sind somit auch ein konstitutives Element der Demokratie als Form.37 Eine qualitative Form macht es leichter, dass Menschenwürde als ein elementares menschliches Bedürfnis38, das man rechtlich absichern muss, zum Ausdruck kommt.

  1. 1 Der Kommentar wurde auch auf dem IVR Welt-Kongress in Luzern (Schweiz, Juli 2019) präsentiert. Siehe Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 165 (2021), 193−203.
  2. 2 Der Text der Entscheidung U-I-109/10 (zusammen mit Sondervoten) wurde ins Englische übersetzt und an erster Stelle in den ausgewählten Entscheidungen des VerfGERS zu seinem 25-jährigen Jubiläum veröffentlicht. Siehe Constitutional Court of the Republic of Slovenia. Selected Decisions (1991−2015), 2016, 55−81.
  3. 3 Art. 1 der VRS aus dem Jahr 1991: »Slowenien ist eine demokratische Republik.«
  4. 4 Der vollständige Text von Punkt 19 lautet: »Aufgrund der obigen Ausführungen befand das Verfassungsgericht, dass Art. 2 des Erlasses verfassungswidrig ist, weil er gegen das Prinzip der Achtung der Menschenwürde verstößt. Dieses Prinzip ist in Art. 1 der Verfassung begründet und bedeutet eine Eingrenzung beim Entscheiden von demokratisch gewählten repräsentativen Organen. Ebenso wie der Staat ist auch die Kommune bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse an die Verfassung gebunden. Die Entscheidung des Stadtrats der Stadtgemeinde Ljubljana, dass eine Straße in Ljubljana neu nach Josip Broz Tito benannt wird, ist deshalb den aus der Verfassung hervorgehenden inhaltlichen Eingrenzungen unterworfen, insbesondere wenn es sich um den Schutz der grundlegenden Verfassungswerte der Verfassungsordnung handelt, unter denen der Menschenwürde eine zentrale Stellung zukommt. Da Art. 2 des Erlasses unvereinbar mit dem Prinzip der Achtung von Menschenwürde ist, hat ihn das Verfassungsgericht aufgehoben.«
  5. 5 Vgl. Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, 27 ff.
  6. 6 Siehe z.B. Marijan Pavčnik, Constitutional Interpretation (2007), in: Marijan Pavčnik: Auf dem Weg zum Maß des Rechts. Ausgewählte Schriften zur Rechtstheorie, 2011, 139−153.
  7. 7 Winfried Hassemer, Ustavna demokracija (Konstitutionelle Demokratie), Pravnik (Ljubljana), 58 (2003) 4–5, 214.
  8. 8 Die VRS spricht über Menschenrechte und Grundfreiheiten. Diese Formulierung verwende ich auch selbst, wenn ich den Verfassungstext zitiere, sonst liegt mir der Ausdruck Grundrechte näher, den auch das Grundgesetz für die Republik Deutschland (in der Fortsetzung: GG) kennt.
  9. 9 Das wird von der Richterin Jadranka Sovdat in ihrem zustimmenden Sondervotum eingehend erörtert. Siehe Constitutional Court of the Republic of Slovenia. Selected Decisions (Fn. 1), 2016, 72−77.
  10. 10 Punkt 14 der Begründung.
  11. 11 Über Josip Broz Tito (1892−1980) als historische Persönlichkeit siehe das reich dokumentierte Werk von Jože Pirjevec, Tito in tovariši (Tito und Genossen), 2011. Über die grobe Missachtung der Menschenwürde siehe z.B. die Abschnitte über die außergerichtlichen Hinrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 200−204) und über Goli otok (eine Insel in der Kvarnerbucht), den jugoslawischen Gulag nach dem Streit mit Stalin 1948 (275−277). Das Buch von Pirjevec ist auch ins Englische übersetzt: Tito and His Comrades, 2018.
  12. 12 Über die Aspekte der Menschenwürde siehe die ausgezeichnete Monografie von Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, 2007. Über die Natur der Menschenwürde siehe auch Franz Joseph Wetz (Hrsg.), Texte zur Menschenwürde, 2011, Winfried Brugger, Stephan Kirste (Hrsg.), Human Dignity as a Foundation of Law, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie − Beiheft 137 (2013), Aharon Barak, Human Dignity, 2015, und Dietmar von der Pfordten, Menschenwürde, 2016.
  13. 13 Siehe Ulfrid Neumann: Das Rechtsprinzip der Menschenwürde als Schutz elementarer menschlicher Bedürfnisse. Versuch einer Eingrenzung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 103 (2017) 3, 287 ff., 299 ff.
  14. 14 Pavčnik (Fn. 6), 143
  15. 15 Art. 1. GG lautet: »(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt./ (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt./ (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«
  16. 16 Art. 21 (Schutz der Persönlichkeit und der persönlichen Würde): »Die Achtung der Persönlichkeit und der persönlichen Würde in Strafverfahren und in allen anderen rechtlichen Verfahren, sowie während des Freiheitsentzuges und Strafvollzuges wird gewährleistet./ Jegliche Gewaltanwendung gegen Personen, deren Freiheit in irgendeiner Weise beschränkt ist, sowie jegliche Erzwingung von Geständnissen und Aussagen ist untersagt.«
  17. 17 Art. 34 (Recht auf persönliche Würde und Sicherheit): »Jedermann hat das Recht auf persönliche Würde und Sicherheit.«
  18. 18 So wird ausdrücklich in einer der Entscheidungen des VerfGERS aus dem Jahre 2019 festgestellt: siehe Up-672/16, Punkt 8.
  19. 19 VerfGERS U-I-66/93 [OdlUS (Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Slovenia) II, 113). – Zu einer ähnlichen Erkenntnis kam auch die Entscheidung über das Existenzminimum, das bei der Vollstreckung dem Schuldner gesichert werden muss (VerfGERS U-I-339/98).
  20. 20 Standpunkte pro und contra werden von Horst Dreier angegeben, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band I, 3. Aufl., 2013, 230 ff.
  21. 21 Auf die meisten Entscheidungen, die sich auf einzelne Fälle beziehen, wurde ich von Sebastian Nerad, dem Generalsekretär des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien, aufmerksam gemacht. Siehe Sebastian Nerad, Human Dignity in Slovenia, in: Paolo Becchi, Klaus Mathis (Hrsg.), Handbook of Human Dignity in Europe, 2019, 817−850.
  22. 22 VerfGERS Up-679/12.
  23. 23 VerfGERS Up-763/09.
  24. 24 VerfGERS Up-2595/08.
  25. 25 VerfGERS U-I-70/12.
  26. 26 VerfGERS U-I-54/99.
  27. 27 VerfGERS Up-117/12.
  28. 28 VerfGERS Up 1293/08.
  29. 29 VerfGERS Up-383/11.
  30. 30 VerfGERS U-I-67/16, Up-195/13.
  31. 31 Siehe z.B. VerfGERS U-I-70/12: »Wenn es sich um den Schutz von besonders sensiblen Daten handelt, die aus dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und dem Arzt, dessen wesentliche Voraussetzung die ärztliche Schweigepflicht ist, herstammen und deren Enthüllung die persönliche Würde des Menschen gefährden kann, wird das Bedürfnis nach einer klaren und bestimmten Definition des gesetzgeberischen Ziels hervorgehoben.«
  32. 32 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke (hrsg. von W. Weischedel), Band VII, 61 (BA 65, 66): »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchest.« − Siehe auch Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, 9 ff., 45 ff., und von der Pfordten (Fn. 12), 110.
  33. 33 Siehe Marijan Pavčnik, Interpretative Importance of Legal Principles for the Understanding of Legal Texts, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 101 (2013) 1, 53 ff.
  34. 34 Beschluss II Ips 428/96 des Obersten Gerichts der Republik Slowenien, in: Zbirka odločb Vrhovnega sodišča RS – civilni oddelek (Collection of Decisions of the Supreme Court of the Republic of Slovenia – Department of Private Law), 1999, 129 ff.
  35. 35 Vgl. Up-422/02 (OdlUS XIV/1, 36): »When searching for an answer to the question of the extent of artistic freedom (as a specific manifestation of the right to freedom of expression) or regarding the boundary between this constitutional right and the constitutionally protected personality rights, including the protection of honour and reputation, the particularities of artistic endeavour must undoubtedly be considered. The essence of artistic endeavour is free creativity, which reflects an artist’s impression and experience, which the artist presents to the public through a certain manifestation of artistic expression. For literary art it is essential that the artist be ensured free choice of the theme and free description of the chosen theme.«
  36. 36 Siehe Tiedemann (Fn. 12), 568.
  37. 37 Vgl. Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2008, 23 ff.
  38. 38 Siehe auch Punkt 7 dieses Beitrags.