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Gegendemonstration

Von der Abstandslehre zur immanenten Grundrechtsschranke im Urheberrecht

  • Author: Clemens Thiele
  • Category of articles: IP-Law
  • Region: Austria
  • Field of law: IP-Law
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2023
  • DOI: 10.38023/7462ec27-0a81-4f1a-93c2-1bc4c05287ce
  • Citation: Clemens Thiele, Gegendemonstration, in: Jusletter IT 27 April 2023
In einer rezenten Entscheidung hat der Oberste Gerichtshof Österreichs (öOGH) festgehalten, dass die Veröffentlichung und vergütungsfreie Nutzung eines Werkes (hier: vorbestehendes Plakat des politischen Gegners durch Überkleben mit „Nie wieder Faschismus“ für den eigenen Gegendemonstrationsaufruf) als Zitat nach der Generalklausel des § 42f Abs. 1 öUrhG wegen der Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK gerechtfertigt sein kann, wobei eine einzelfallbezogene Interessenabwägung vorzunehmen ist. In einer politisch brisanten (aufgeheizten) Stimmung von Demonstration und Gegendemonstration zu Corona & Co hat der OGH auch die juristische Debatte zum Verhältnis zwischen Art. 10 EMRK (Art. 11 GRC) und der Zitatfreiheit neu befeuert. Nach den EuGH-Urteilen in den Rs Spiegel Online (C-516/17) und Funke Medien (C-516/17) bedarf es einer besonderen rechtsdogmatischen Begründung für diese verfassungsrechtliche Schranke des Urheberrechts. Der Beitrag versucht neben dem Problemaufriss eine erste ansatzweise Lösung und einen Blick auf „the road ahead“ aus rechtsvergleichender (dt. und öst.) Urheberrechtsperspektive, zumal die UrhG Nov 2021 in beiden Rechtsordnungen neben dem Zitat die positivrechtliche Verankerung von Parodie, Karikatur und Pastiche gebracht hat.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Ausgangsfall (Issue),
  • 2. Entscheidung des Gerichts (Rule)
  • 3. Kritische Würdigung (Analyse)
  • 3.1. Die freien Werknutzungen nach § 42f Abs. 1 Z 1 bis 5 UrhG
  • 3.2. § 5 Abs. 2 UrhG
  • 3.3. Anwendung der Generalklausel des § 42f Abs. 1 erster Satz UrhG
  • 4. Eigene Stellungnahme
  • 4.1. Grundrechtlich gebotene Interessenabwägung
  • 4.2. Re-Positionierung des OGH
  • 4.3. Unionsrechtlicher Rahmen
  • 4.4. Ausblick
  • 5. Zusammenfassung (Conclusion)
  • Literatur

1.

Ausgangsfall (Issue)1, 2 ^

[1]

Der klagende Parlamentsklub der Freiheitlichen war Inhaber der Verwertungsrechte nach den §§ 14 ff UrhG am folgende Bild- und Sprachwerk, das als Werbesujet für die politischen Anliegen öffentlich genutzt wurde:

[2]

Der später geklagte Verein veröffentlichte auf seiner Facebook-Seite unter Verwendung dieses Bildes (ohne Zustimmung des Fotografen oder des Klägers) folgenden Demonstrationsaufruf:

[3]

Daraufhin wurde der Verein u.a. auf Unterlassung, Beseitigung und Zahlung von Schadenersatz in Höhe von € 300,00 geklagt. Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Berufungsgericht wies die Klage ab. Der OGH hatte sich u.a. mit der Frage zu befassen, ob die Ausübung von verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten (hier: Meinungs- und Versammlungsfreiheit) die vergütungsfreie Werknutzung im Rahmen des Zitatrechts nach § 42f UrhG rechtfertigen könnte.3

2.

Entscheidung des Gerichts (Rule)4 ^

[4]

Der 4. Senat hat die Frage bejaht und der ordentlichen Revision des Parlamentsklubs keine Folge gegeben. Im politischen Meinungsstreit war die „Gegendemonstrationsankündigung“ nach der Generalklausel des § 42f UrhG als Zitat iZm dem Recht der freien Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK gerechtfertigt.

3.

Kritische Würdigung (Analyse)5 ^

[5]

Das vorliegende Urteil überzeugt in Ergebnis und Begründung und ist vor allem aus medienschaffender Sicht zu begrüßen. Letztlich öffnet (im wahrsten Sinn des Wortes) der 4. Senat die Zitatschranke des § 42f UrhG über die in ihrem Abs. 1 Z 1 bis 5 enthaltenen Regelbeispiele hinaus6 zu einer echten Generalklausel der Zitierfreiheit.

[6]

Ein Teil der Lehre7 hat bereits heraus gearbeitet, dass die Generalklausel des § 42f Abs. 1 Satz 1 UrhG „nur auf solche Sachverhalte zur Anwendung gelangen soll, die jenen der Regelbeispiele wertungsmäßig nahestehen oder in denen die besonderen Umstände des Einzelfalls eine Freistellung ausnahmsweise rechtfertigen“ und führt das Judikaturbeispiel einer medienkritischen Berichterstattung über die Haltung eines Massenblatts an.8 Hervorzuheben ist dabei, die „starke Wechselbeziehung“ zwischen den Regelbeispielen und der Generalklausel. In der nicht arbeitsökonomisch gebotenen, sondern auch dogmatisch zutreffenden Prüfungsreihenfolge stehen daher die möglichen Regelbeispiele am Anfang.

3.1.

Die freien Werknutzungen nach § 42f Abs. 1 Z 1 bis 5 UrhG ^

[7]

Der aufmerksame Rechtsanwender erkennt durchaus „zwischen den Zeilen“ die – letztlich unpassende – Einordnung der streitgegenständlichen Verwertung unter die ausdrücklichen Sondertatbestände des § 42f Abs. 1 Z 1 bis 5 UrhG.

[8]

Das wissenschaftliche Großzitat nach § 42f Abs. 1 Z 1 UrhG scheitert am „aufnehmenden Gefäß“9 des wissenschaftlichen Werkes. Denn das Mobilisierungs-Posting der Beklagten erfüllt keine Wissenschaftlichkeitskriterien, die für diese Urheberrechtsschranke erforderlich sind.10

[9]

Für die Erfüllung der Zitatschranke nach § 42f Abs. 1 Z 2 UrhG fehlt der pädagogische Vortrag als Präsenzveranstaltung und damit Rahmen der Vorführung oder öffentlichen Wiedergabe des illustrierenden Bildmaterials.11

[10]

Die Kleinzitate nach § 42f Abs. 1 Z 3 bis Z 5 UrhG schließen eine Übernahme ganzer Werke außerhalb eines wissenschaftlichen Zitats aus, sodass die konkrete Verwendung des gesamten Werbesujets insoweit keinesfalls gerechtfertigt werden kann.12

[11]

Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, das keines der in § 42f Abs. 1 Z 1 bis Z 5 UrhG angeführten Regelbeispiele die fallkonkrete Verwendung des klägerischen Werkes zu rechtfertigen vermag.

3.2.

§ 5 Abs. 2 UrhG ^

[12]

OGH verneint zutreffend das Vorliegen einer Neuschöpfung iSv § 5 Abs. 2 UrhG.13 Nach dieser Bestimmung macht die Benutzung eines Werkes bei der Schaffung eines anderen dieses nicht zur Bearbeitung, wenn es im Vergleich zu dem benutzten Werk ein selbstständig neues Werk darstellt. Für die Praxis gestaltet sich die Abgrenzung zwischen Bearbeitung und freier Benutzung eines anderen Werkes höchst diffizil, wenngleich äußerst relevant: Während bei Verwertung einer Bearbeitung ohne Zustimmung des Urhebers des Originalwerks eine Urheberrechtsverletzung vorliegt, kann ein bestehendes Werk etwa als Anregung für eine selbstständige Neuschöpfung frei benutzt werden.

[13]

Ein beachtenswerter Teil der Lehre14 führt dazu aus: „Für die freie Benutzung ist kennzeichnend, dass trotz des Zusammenhangs mit einem anderen Werk ein von diesem verschiedenes, selbständiges Werk vorliegt, welchem gegenüber das Werk, an das es sich anlehnt, vollständig in den Hintergrund tritt. Angesichts der Eigenart des neuen Werks müssen die Züge des benutzten Werks verblassen (sog „Abstandslehre“). Freie Benutzung setzt also voraus, dass das fremde Werk nicht in identischer oder umgestalteter Form übernommen wird, auch nicht als Vorbild oder Werkunterlage, sondern nur als Anregung für das eigene Werkschaffen dient. Es gehen zwar Anregungen von der früheren Schöpfung aus, die Züge des benutzten Werks verblassen aber angesichts der Individualität der neuen Schöpfung.“ Das bedeutet, dass nach der von der älteren Rsp übernommenen Abstandslehre keineswegs leichtfertig eine Neuschöpfung Platz greifen darf, um den urheberrechtlichen Schutz des Originalwerks nicht zu unterlaufen.15

[14]

Durch das bloße Überschreiben des sonst unverändert gebliebenen (und damit auch als Werkunterlage verwendeten) Werks liegt keine besondere Individualität der Grafik vor, weshalb das Werk des Klägers nicht „vollständig in den Hintergrund tritt“. Die bearbeitete Grafik des Beklagten weist auch keine besonderen schöpferischen Züge auf, um als individuelle und selbständige geistige Leistung angesehen werden zu können. Die strengen Anforderungen an das Vorliegen einer freien Benützung erfüllt der Anlassfall daher nicht.16

3.3.

Anwendung der Generalklausel des § 42f Abs. 1 erster Satz UrhG ^

[15]

Für die Zulässigkeit der Veröffentlichung der Lichtbilder als Bildzitat ist Voraussetzung, dass dem in den Berichten jeweils wiedergegebenen Bild eine Belegfunktion zukommt.17

[16]

Ein nach § 42f UrhG zulässiges Bildzitat muss daher erkennbar der Auseinandersetzung mit dem übernommenen Werk dienen, etwa als Beleg oder Hilfsmittel der eigenen Darstellung. Es muss eine innere Verbindung zwischen dem eigenen und dem fremden Werk hergestellt werden. Nach der gebotenen Interessenabwägung liegt wegen der Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung durch den beklagten Verein daher ein besonderer Zweck – Organisieren einer Gegendemonstration in Ausübung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit – vor, der die Veröffentlichung des Werks des Klägers nach der Generalklausel des § 42f UrhG mE gerade noch rechtfertigt.18

[17]

Der Ausgangsfall befindet sich zwar an der Grenze, liegt aber immer noch innerhalb des durch die Schutzschranke der Meinungsfreiheit gesicherten – wenngleich eng zweckgebundenen – Demarkationsbereiches vergütungsfreier Verwertung.

4.

Eigene Stellungnahme ^

[18]

Dass ein Eingriff in den Urheberrechts- bzw Leistungsschutz im politischen Meinungsstreit nach dem Recht der freien Meinungsäußerung iSv Art. 10 EMRK (Art. 11 GRC) gerechtfertigt sein kann, ist sowohl in Literatur als auch Judikatur grundsätzlich anerkannt.

4.1.

Grundrechtlich gebotene Interessenabwägung ^

[19]

Nach hM19 erscheint es zwar geboten, die freien Werknutzungen des UrhG als Ausnahmebestimmungen eng auszulegen, aber gerade deshalb auch auf grundrechtlich fundierten Ausnahmetatbestände zu beharren. Die Rsp20 der Straßburger Instanzen hat gleichermaßen stets die Notwendigkeit einer Interessenabwägung zwischen dem Allgemeininteresse an der Teilnahme und der Führung von gesellschaftspolitischen Debatten mit und über Rechte des geistigen Eigentums hinweg einerseits und dem notwendigen Schutz der individuellen Entfaltung von als menschlichen Leistungen erkanntem Verhalten betont. Zur Wechselwirkung hat der EGMR21 bereits festgehalten, dass das Onlinestellen von Modeschaufotos zum kostenlosen oder kostenpflichtigen Abruf oder zum Kauf (hier: ohne Zustimmung der Modeschöpfer) eine Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellt. Eine Verurteilung wegen Urheberrechtsverletzung durch Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke kann einen unzulässigen Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung gem Art. 10 EMRK (Art. 11 GRC) darstellen. Dem steht nicht entgegen, dass mit der Verbreitung des urheberrechtlich geschützten Materials (auch) ein kommerzielles Ziel verfolgt wird.

[20]

Erst jüngst hat der Menschenrechtsgerichtshof ganz grundsätzlich deutlich gemacht, dass der Schutz der Rechte des geistigen Eigentums in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. ZP EMRK fällt.22 Der EGMR stellt ferner fest, dass die Nutzung von Geistigem Eigentum durch unbefugte Dritte, das Recht des Rechteinhabers auf friedliche Nutzung seines Geistigen Eigentums beeinträchtigt hat. Diesbezüglich erinnert der Gerichtshof daran, dass der Staat eine positive Verpflichtung hat, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der geistigen Eigentumsrechte zu ergreifen. Diese positive Verpflichtung zielt darauf ab, im staatlichen Rechtssystem sicherzustellen, dass geistige Eigentumsrechte ausreichend gesetzlich geschützt sind und dass angemessene Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, mit denen die geschädigte Partei versuchen kann, ihre Rechte zu verteidigen, gegebenenfalls auch durch die Geltendmachung von Schadenersatz für erlittene Verluste.

4.2.

Re-Positionierung des OGH ^

[21]

Vor diesem konstitutionellen Hintergrund hat die Rsp mehrere Kriterien herausgebildet, die im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung für eine freie Werknutzung außerhalb der Regelbeispiele des UrhG erfüllt sein müssen:

  • Das Verhalten fällt in den Schutzbereich von Art. 13 StGG bzw Art. 10 EMRK/Art. 11 GRC und es handelt sich nicht um unwahre, ehrenrührige Tatsachenbehauptungen;
  • die wirtschaftlichen Interessen des Urhebers werden nicht ausgehöhlt;
  • die normale Auswertung des Werks wird nicht beeinträchtigt;
  • die berechtigten Interessen des Urhebers werden nicht ungebührlich verletzt;
  • das Grundrecht der freien Meinungsäußerung kann ohne Eingriff in das Urheber- oder Leistungsschutzrecht nicht oder nur unzulänglich ausgeübt werden
[22]

Die zuletzt angeführte Voraussetzung des „einzigen Weges“23 hat der OGH im Anlassfall in bemerkenswerterweise relativiert und damit der berechtigten Kritik der hL24 Rechnung getragen: „Vor allem bei Diskussion von Themen allgemeinen gesellschaftlichen Interesses gebietet die Meinungsfreiheit, Eingriffe in das Urheberrecht – sofern die wirtschaftlichen Interessen des Nutzungsberechtigten nicht ausgehöhlt und die normale Auswertung des Werks nicht beeinträchtigt werden – auch über das UrhG hinaus zu ermöglichen.“

4.3.

Unionsrechtlicher Rahmen ^

[23]

Zum besseren Verständnis der abschließend vorzunehmenden unionsrechtlichen Verprobung der vom OGH im Ausgangsfall gefundenen Lösung ist zu betonen, dass – unabhängig von der Annahme, bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen Eingriffe in Urheberrechte außerhalb der im UrhG normierten Tatbestände bejahen zu können, – der 4. Senat konkret die Generalklausel des § 42f Abs. 1 Satz 1 UrhG (als Rechtfertigungstatbestand) als erfüllt angesehen hat. Erst dadurch hat sich der Eingriff in die Rechte des Klägers unter Bedachtnahme auf die Meinungsäußerungsfreiheit im Wege der verfassungskonformen Auslegung nicht als Urheberrechtsverletzung ausgewirkt.

[24]

Damit kommt es letztlich auf die Reichweite der „urheberrechtlichen Entscheidungen des EuGH vom 29. Juli 2019“25 nicht mehr an, da die Generalklausel des § 42f Abs. 1 Satz 1 UrhG den verbleibenden (nationalen) Regelungsbereich iSd Europäischen Rsp zu den Voraussetzungen eines zulässigen Bildzitats nach Art. 5 Abs. 3 lit. d InfoSoc-RL nützt.26 Art. 5 Abs. 3 lit. d InfoSoc-RL enthält die wichtige Ausnahmeregelung, wonach rechtmäßig veröffentlichte Werke frei zitiert werden dürfen zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen.

  • Der Begriff „mis[e] à la disposition du public“, d.h. „der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt“, bedeutet im Licht von Art. 10 Abs. 1 RBÜ, dass nur Zitate aus einem der Öffentlichkeit bereits erlaubterweise zugänglich gemachten Werk zulässig sind.27 Auf unveröffentlichte Werke (z.B. private Briefe) bezieht sich die Zitierfreiheit daher nicht.
  • Das Zitat muss daher zur Erläuterung, als Hinweis oder zur Veranschaulichung, maW einer Belegfunktion, dienen. Dieser Zweck bestimmt auch, in welchem Umfang zitiert werden darf. Es kann zulässig sein, dass Werke vollständig zitiert werden. Auch fotografische Werke fallen in den Anwendungsbereich
  • der Schrankenbestimmung.28 Für die Inanspruchnahme der Zitatenfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 lit. d InfoSoc-RL ist es aber unerheblich, ob das Zitat in einem urheberrechtlich geschützten Werk oder aber in einem nicht urheberrechtlich geschützten Gegenstand erfolgt.29
  • Art. 5 Abs. 3 lit. d InfoSoc-RL unter Bedachtnahme auf Abs. 5 leg.cit. dahin auszulegen, dass seine Anwendung voraussetzt, dass die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers oder des ausübenden Künstlers, des zitierten Werks oder sonstigen Schutzgegenstands angegeben wird. Ist dieser Name jedoch nach Art. 5 Abs. 3 lit. e InfoSoc-RL nicht angegeben worden, ist diese Verpflichtung als erfüllt anzusehen, wenn lediglich die Quelle angegeben wird.30
[25]

Bei Anwendung der Zitierfreiheit ist, wie sich aus ErwGr 31 der InfoSoc-RL ergibt, ein „angemessener Rechts- und Interessenausgleich“ zwischen den Urhebern auf der einen Seite und den Nutzern von Schutzgegenständen auf der anderen Seite vorzunehmen.31 Darüber hinaus ist die Schrankenbestimmung zwar grundsätzlich strikt auszulegen, doch muss es die Auslegung dieser Voraussetzungen auch erlauben, die praktische Wirksamkeit der so umrissenen Ausnahme zu wahren und ihre Zielsetzung zu beachten.32

[26]

Eine vom EuGH neuerlich konkret betonte Voraussetzung des Zitats ist, dass der Schutzgegenstand (z.B. Werk) der Öffentlichkeit bereits „rechtmäßig zugänglich gemacht“ wurde. Eine Zugänglichmachung im Internet mit Zustimmung des Rechtsinhabers erfüllt diese Voraussetzung, wobei die Große Kammer die Möglichkeiten auflistet, dass dies aufgrund einer Zwangslizenz oder aufgrund einer gesetzlichen Erlaubnis erfolgt.33 Daher ist auch ein Zitat durch Verlinkung auf das zitierte Werk möglich.34

4.4.

Ausblick ^

[27]

Die Praxis sei allerdings gewarnt. Vorschnell etwa jedes Meme35 unter Hinweis auf die vorliegende Entscheidung als Zitat zu rechtfertigen, verkennt die sorgfältig vorgenommene Interessenabwägung des Urteils. Der von den Gerichten vorgezeichnete Weg bleibt ein schmaler Pfad. Die Meinungsfreiheit stößt wie die Kunstfreiheit dort an ihre Grenzen, wo die Abbildung (fremder Werke) einen Eingriff in die Geheim-, Intim- oder Privatsphäre darstellt oder einen beleidigenden oder entwürdigenden Inhalt hat.

5.

Zusammenfassung (Conclusion)36 ^

[28]

Zusammenfassend hat der OGH entschieden, dass die Verwendung eines bereits veröffentlichten Politikerfotos als „Bildzitat“ iSv § 42f UrhG gerechtfertigt sein kann, um iSd Meinungs- oder Versammlungsfreiheit berechtigte Interessen iZm gesellschaftspolitischen Debatten oder Aktivitäten anzukündigen. Dazu ist es erforderlich, dass bei diesem „fair use“ weder ideelle noch wirtschaftliche Interessen des Urhebers- oder Leistungsschutzberechtigten verletzt werden.

Literatur ^

Burgstaller/Thiele (Hrsg.), UrhG Kommentar4 (2022)

Kucsko/Handig (Hrsg.), urheber.recht2 (2017)

Schweighofer/Kummer/Hötzendorfer/Sorge (Hrsg.), Trends und Communities der Rechtsinformatik (2017), 543

Schweighofer/Kummer/Saarenpää/Hötzendorfer (Hrsg.), Verantwortungsvolle Digitalisierung (2020) 605

Walter, Die urheberrechtlichen Entscheidungen des EuGH vom 29. Juli 2019. Überblick in Leitsätzen, MR-Int 2019, 98

  1. 1 OGH 24.05.2022, 4 Ob 37/22b (Gegendemonstration/Nie wieder Faschismus), jusIT 2022/57, 134 (Schmitt) = MR 2022, 200 (Walter) = NL 2022, 388 = wbl 2022/141, 475 = ZIIR 2022, 357 (Thiele).
  2. 2 „IRAC“ bezeichnet als Akronym „Issue, Rule, Analysis, Conclusion“ die in US-amerikanischen law schools vermittelte juristische Methode der Fallanalyse und dient in der US-amerikanischen Juristenausbildung der didaktisch erleichterten Erfassung von Gerichtsentscheidungen.
  3. 3 Die Frage ist das wichtigste Element der Entscheidungsanalyse, denn man muss das Recht ausreichend kennen, um die Frage zu finden. Die Rechtsfrage oder das Fallthema („Issue“) ist eine Mischung aus einer Vorschrift und den besonderen Fakten des Problems.
  4. 4 Nachdem das Problem richtig erkannt worden ist, soll die Regel, maW die kurz zusammengefasste Entscheidung des Gerichts als pures Ergebnis dargestellt werden. Ein nützlicher Leitfaden für die Formulierung der Regel besteht darin, die vom Gericht gefundene Lösung prägnant und verständlich wiederzugeben, um den Kontext zu schaffen, im nächsten Schritt den Sachverhalt und die juristische Lösung zu analysieren.
  5. 5 Die Analyse (oder „Application“) bildet den längsten und wichtigsten Abschnitt. Er erfordert ein hohes Maß an kritischem Denken und kann mit der Lösung eines Puzzles verglichen werden. Alle Teile müssen zueinander passen, damit das Bild vollständig ist. Die Entscheidung und die Thematik müssen erfasst und in deren dogmatisches Umfeld eingeordnet werden. Abweichungen oder Wertungsunterschiede, aber auch Parallelen zu Judikatur und Lehrmeinungen wollen hergestellt und bewertet sein. Es ist sicherzustellen, beide Seiten bzw. unterschiedliche Auffassungen abzuwägen und gegebenenfalls Gegenargumente vorzubringen. Bei bereits veröffentlichten Entscheidungen empfiehlt es sich, auf deren Rezeption in der Fachwelt einzugehen.
  6. 6 Im Ansatz bereits Bernsteiner in Dillenz/Gutman/Thiele/Burgstaller, UrhG Kommentar3 (2021) § 42f Rz. 6 ff (12).
  7. 7 Deutlich Bernsteiner in Thiele/Burgstaller, UrhG Kommentar4 (2022) § 42f Rz. 14.
  8. 8 OGH 03.10.2000, 4 Ob 224/00w (Schüssels Dornenkrone), MR 2000, 373 (Walter) = RdW 2001/85, 85 = EvBl 2001/30 = ÖJZ-LSK 2001/32/33 = JUS Z/3100 = ÖBl 2001, 181 = ARD 5241/31/2001 = SZ 73/149.
  9. 9 Bernsteiner in Thiele/Burgstaller, UrhG4 § 42f Rz. 51.
  10. 10 Deutlich OGH 31.01.1995, 4 Ob 1/95 (Friedrich Heer II), ARD 4686/20/95 = EvBl 1995/102 = ecolex 1995, 498 = MR 1995, 179 (Walter) = ÖBl 1996, 99 = SZ 68/26.
  11. 11 Selbst bei Erstreckung auf virtuelle Vorträge, vgl. Mitterer/Korn in Kucsko/Handig, urheber.recht2 (2017) § 42f Rz. 48.
  12. 12 Vgl. OGH 12.06.2001, 4 Ob 127/01g (Medienprofessor), MR 2001, 304 (Swoboda und Walter) = SZ 74/108.
  13. 13 Anders noch im Fall der „Lieblingshauptfrau“ des OGH 13.7.2010, 4 Ob 66/10z, JBl 2010, 799 = ÖBl 2010/55, 285 = MR 2010, 327 (Walter und krit Thiele) = ecolex 2011/25, 57 (Schumacher) = ÖBl 2011/15, 58 (Handig) = SZ 2010/82 = HS 41.176 = HS 41.177.
  14. 14 Schumacher in Kucsko/Handig, urheber.recht2 § 5 Rz. 39.
  15. 15 Zuletzt deutlich OGH 26.03.2019, 4 Ob 5/19t (Politikermasken), EvBl-LS 2019/93 (Brenn) = MR 2019, 186 (Walter) = RdW 2019/477, 608 = MietSlg 71.610; zust in Thiele/Burgstaller, UrhG4 § 5 Rz. 29.
  16. 16 Vgl. instruktiv Bernsteiner in Thiele/Burgstaller, UrhG4 § 5 Rz. 29 ff.
  17. 17 EuGH 1. 12. 2011, C-145/10 (Painer) = ECLI:EU:C:2011:798 idF ECLI:EU:C:2013:138 = RdW 2012/5, 1 = wbl 2012/51, 153 = ecolex 2012, 58 (Handig) = MR 2012, 73 (Walter).
  18. 18 Vgl. bereits Thiele, Entscheidungsanmerkung, ZIIR 2021, 249 (250 f) mwH.
  19. 19 OGH 12.09.2001, 4 Ob 194/01k (Wiener Landtagswahlkampf 2001), MR 2002, 30 (Walter) = ÖBl-LS 2002/20; OGH 09.04.2002, 4 Ob 77/02f (Geleitwort), MR 2002, 387 = ÖBl 2002/147, 176 = ÖBl 2003/68, 250 (Dittrich); Kucsko-Stadlmayer in Kucsko/Handig, urheber.recht2 Vor §§ 41 ff Rz. 9 ff.
  20. 20 EGMR 25.01.2007, 68354/01 (Apokalypse II), ecolex 2007/302, 699 (Schumacher) = MR 2007, 124 = ÖJZ MRK 2007/11, 618 = ÖBl 2007/66, 297 (Wiltschek und Korn).
  21. 21 EGMR 10.1.2013, 36769/08 (Affaire Ashby Donald/Frankreich), MR-Int 2013, 41.
  22. 22 EGMR 01.09.2022, 885/12 (Safarov/Aserbeidschan) Rz. 30 mHw auf EGMR 11.01.2007, 73049/01 (Anheuser-Busch Inc. v. Portugal) Rz. 72, NL 2007, 11, und EGMR 12.07.2016, 562/05 (SIA AKKA/LAA gg Lettland) Rz. 41.
  23. 23 Vgl. noch OGH 11.8.2005, 4 Ob 146/05g (Smiths Freunde/Norweger), ecolex 2006/245, 587 (Schumacher) = MR 2006, 88 (Walter).
  24. 24 Kucsko-Stadlmayer in Kucsko/Handig (Hrsg.), urheber.recht2 Vor §§ 41 ff Rz. 30.
  25. 25 Statt vieler Walter, MR-Int 2019, 98 zu EuGH 29.7.2019, C-516/17 (Spiegel Online/Beck), C-476/17 (Pelham/Metall auf Metall/Kraftwerk) und C-469/17 (Funke Medien/Westdeutsche Allgemeine Zeitung/Afghanistan-Papiere).
  26. 26 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer), ECLI:EU:C:2013:138 = K&R 2012, 44 = GRUR 2013, 544 = GRUR Int 2012, 158 = EuZW 2012, 182 = afp 2012, 31.
  27. 27 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 127.
  28. 28 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 120.
  29. 29 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 136.
  30. 30 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 149.
  31. 31 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 132.
  32. 32 EuGH 1.12.2011, C-145/10 (Painer) Rz. 133; vgl. auch EuGH 4.10.2011, C-403/08, C-429/08 (Football Association Premier League u.a.) Rz. 162 f, ECLI:EU:C:2011:631.
  33. 33 Vgl. EuGH C-476/17 (Pelham) Rz. 89.
  34. 34 Vgl. auch Thiele, Draussen bleiben oder Dazugehören – Europäisches Urheberrecht und mitgliedstaatliches Persönlichkeit, in: Schweighofer/Kummer/Saarenpää/Hötzendorfer (Hrsg.), Verantwortungsvolle Digitalisierung (2020), 543 (553).
  35. 35 Zur Thematik siehe Thiele, De Memes [´MI:MS] – Kunstphänomene in Sozialen Medien oder massenhafte Urheberrechtsverletzungen, in: Schweighofer/Kummer/Hötzendorfer/Sorge (Hrsg.), Trends und Communities der Rechtsinformatik (2017), 605 mwN.
  36. 36 Der letzte Schritt bei der Anwendung der IRAC-Methode ist das Verfassen einer Schlussfolgerung, in der das wahrscheinlichste Ergebnis erläutert wird, das nach Anwendung der Regel auf den Sachverhalt und dessen Analyse ermittelbar erscheint. Das Ergebnis der gesamten Entscheidungsanalyse ist klar und prägnant anzugeben. Sollten am Anfang einer Entscheidungsbesprechung bereits Leitsätze „destilliert“ worden sein, kann die Zusammenfassung insoweit auch entfallen.