1.
Ausgangslage ^
Art. 72 RL 2014/24/EU1 legt fest, dass ein Verfahren zur Änderung eines dem Vergaberegime unterfallenden Vertrages grundsätzlich ein eigenes Vergabeverfahren darstellen soll. Damit wird idF grundgelegt, unter welchen Umständen Änderungen von Verträgen während ihrer Laufzeit vergaberechtlich zulässig bzw. unzulässig sind. Ausgehend von Artikel 72 der Richtlinie 2014/24/EU und Artikel 89 Richtlinie 2014/25/ EU und der bezüglichen EuGH-Judikatur2 wurde in Österreich § 365 BVergG 2018 umgesetzt. Gleichzeitig hat die Europäische Kommission im Zuge der Corona Pandemie bereits im ersten Halbjahr 2020 Leitlinien zur Nutzung des Vergaberechts in der durch die COVID-19-Krise verursachten Situation3 publiziert und darin betont, dass schnelle und intelligente Lösungen und Flexibilität gefordert sind, um auch eine große Nachfrage einzelner Waren und Dienstleistungen in der Krise zu bewältigen. Zu diesen Maßnahmen wären vergaberechtlich zulässige Auftragserweiterungen zu zählen, als eine Möglichkeit, Verfahren erheblich zu verkürzen.4 Die genannten Leitlinien sind schwerpunktmäßig auf die Auftragsvergabe in Fällen äußerster Dringlichkeit ausgerichtet, die es öffentlichen Stellen bei Bedarf ermöglicht, innerhalb von Tagen oder sogar Stunden Käufe zu tätigen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Behörden so schnell handeln können, wie es technisch/physisch möglich ist. Wie die Europäische Kommission im der Flüchtlingsproblematik bereits 2015 betonte5, bieten „die europäischen Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe [...] mit der derzeit geltenden [...] Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe alle erforderlichen Instrumente, mit denen diesen Bedürfnissen entsprochen werden kann.“ Damit ist gerade auch Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU angesprochen. Die Stellungnahme des BMJ – StS VR vom 30.03.20206 betont unterdessen, dass sich die Ausnahmebestimmungen, wonach bestimmte Vergabeverfahren vom Anwendungsbereich des österreichischen Vergaberechts ausgenommen sind, auch im Zusammenhang mit „dem Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen der Republik Österreich“ (vgl. § 9 Abs. 1 Z 3 u § 178 Abs. 1 Z 3 BVergG 2018) ua wiederfinden. Dieser Ausnahmetatbestand kommt im Rahmen einer Krise wie am Beispiel der Corona-Pandemie zwar nicht zum Tragen, da die in Rede stehenden Beschaffungen üblicherweise weder geheim sind noch die innere Sicherheit der Republik Österreich in einem solchen Ausmaß gefährden, dass der Bestand des Staates als solcher gefährdet wäre. Betont wird aber, dass es gelindere Mittel gibt, die vorliegend eingesetzt werden können7, sodass insbesondere die Durchführung von Sonderverfahren in Betracht kommen, wozu auch die Vorgangsweise mittels zulässiger Vertragserweiterung zu zählen ist. Vorliegend soll daher gerade dieser Aspekt näher beleuchtet sein.
2.
Rechtliche Grundlage krisenbedingter Vertragsänderung ^
§ 365 Abs. 1 BVergG 2018 normiert den Grundsatz, dass wesentliche Vertragsänderungen ohne weiteres Vergabeverfahren immer unzulässig sind, das heißt jede Vertragsänderung unterliegt grundsätzlich einer neuen Ausschreibungspflicht im vergaberechtlichen Sinne. § 365 Abs. 2 BVergG 2018 enthält eine demonstrative Aufzählung solcher wesentlicher Vertragsänderungen, wie beispielsweise Bedingungen die einen potentiellen Interessentenkreis verändern können (Abs. 2 Z1), Veränderungen des wirtschaftlichen Gleichgewichtes im Vertragsverhältnis, vor allem zu Gunsten des Auftragsnehmers (Z2) und erhebliche Erweiterungen oder Verringerungen des Umfanges (Z3) insbesondere dann, wenn diese 10% oder 15% bei Bauaufträgen übersteigen und auch immer dann, wenn grundsätzlich ein Wechsel des Auftragnehmers (Z4) eintreten kann. § 365 Abs. 3 BVergG definiert dem entgegeben unwesentliche Vertragsänderungen, die insoweit abschließend geregelt sind. Solche unwesentlichen Vertragsänderungen sind Änderungen der Auftragssumme, die keine Änderungen des Schwellenwertes bewirken, von unter 10% bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, sowie bei Bauaufträgen von unter 15% (Abs. 3 Z1), wobei diese Änderungen über die gesamte Vertragslaufzeit kumulativ zusammenzuzählen sind. Weiters sind wertunabhängige Änderungen, und zwar dann, wenn klare präzise und eindeutig formulierte Vertragsänderungsklauseln solche vorsehen (Z2; dann liegt tatsächlich aber auch gar keine Vertragsänderung mehr vor, sondern eine Anpassung des Vertrages gemäß den Vereinbarungsgrundlagen), zulässig. Auch ein Wechsel des Auftragnehmers im Zuge von Umstrukturierungen bei gleicher Eignung (Z3) ist als unwesentliche Vertragsänderung bestimmt, ebenso, wie zwei besondere Ausnahmetatbestände (Z 5 und 6), betreffend unvorhersehbare Umstände und wirtschaftliche Erwägungen, die in der Folge noch eingehender Beachtung finden werden.
Leistungsabweichungen sind ein weiterer wesentlicher Anwendungsbereich zur möglichen ausschreibungsfreien Leistungsvergabe in der Krise, insbesondere, wenn sie durch notwendige gesetzliche Änderungen oder aufgrund des Bedarfs in der Krise geänderte Zusatzleistungen, Erweiterungen oder Reduktionen des jeweiligen Leistungsbereichs bedingt sind. Durch EuGH 07.09.2016, C-549/14 Finn Frogne wurde grundlegend festgelegt, dass für die Beurteilung der Wesentlichkeit zur Beurteilung der Ausschreibungspflicht einer Vertragsänderung nach den Kriterien der Rechtssache EuGH Pressetext (C-454/06) vorzugehen ist. Demnach sind wesentliche Änderungen dann anzunehmen, wenn die Verringerung des Auftragsgegenstandes zu einem potenziellen anderen Bieterinteressenkreis führen kann.
3.1.
Gesamt oder Einzelbetrachtung der Lose ^
Die Frage, ob eine Einzelbetrachtung ausgeschriebener Lose zulässig ist und damit verbunden die Frage der Zusammenrechnung einzelner Lose, ist am Begriff des (einheitlichen) Vorhabens8 zu messen. Für die Beurteilung, ob ein für die Berechnung des geschätzten Auftragswertes maßgebliches einheitliches Vergabevorhaben vorliegt, ist der Rechtsprechung des EuGH zufolge von einer – in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht – funktionellen Betrachtungsweise auszugehen.9 Die gebotene funktionelle Betrachtung erfordert die Einbeziehung unterschiedlicher Gesichtspunkte wie den örtlichen Zusammenhang, den gemeinsamen Zweck, die gemeinsame Planung oder das Vorliegen von Aufträgen aus gleichen Fachgebieten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, ob die in Frage stehenden Auftragsvergaben einen wirtschaftlichen Zusammenhang aufweisen. Die Beurteilung der Zugehörigkeit von Aufträgen zu einem (einheitlichen) Vorhaben ist demzufolge im Einzelfall der Vergabe eines Auftrags ausgehend von den jeweiligen tatsächlichen Umständen, die einen allfälligen wirtschaftlichen und technischen Zusammenhang begründen, vorzunehmen. Der EuGH10 nennt in dieser Entscheidung konkret als gewichtige Gründe, die für die Zusammenfassung von Aufträgen sprechen, die Gleichzeitigkeit der Einleitung der streitigen Vergabeverfahren, die Ähnlichkeit der Bekanntmachungen, die Einheitlichkeit des Gebietes, in dem diese Verfahren eingeleitet worden sind und die Koordinierung durch eine einzige Einrichtung. Daran bemessen sich letztendlich auch die in einzelnen Tatbeständen relevanten Prozentangaben zur Bestimmung unwesentlicher Vertragsänderungen.
3.2.
Unwesentliche Vertragsänderung durch Auftragserweiterung ^
Aus dem Systems des Art. 72 RL 2014/24/EU folgt, dass Änderung eines bereits vergebenen Vertrages grundsätzlich ein neues Vergabeverfahren erfordert. In Umsetzung dieser Bestimmung legt § 365 BVergG 2018 konkret fest, unter welchen Umständen Änderungen von Verträgen während ihrer Laufzeit vergaberechtlich zulässig (Abs. 3) bzw. unzulässig (Abs. 2) sind. Es ist daher in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob die jeweils beabsichtige Auftragserweiterung noch als eine unwesentlichen Vertragsänderung nach § 365 Abs. 3 BVergG 2018 qualifiziert werden kann.
Als solche unwesentlichen Vertragsänderungen legt § 365 Abs. 3 Z 1 BVergG 2018 bspw Preisänderungen von maximal allgemein 10% oder bei Bauaufträgen 15% fest. Dabei darf sich der Gesamtcharakter des Vertrages oder der Rahmenvereinbarung aufgrund der Auftragserweiterung nicht verändern. Im Falle mehrerer aufeinander folgender Änderungen wird deren Wert auf der Grundlage des kumulierten Nettowertes der aufeinander folgenden Änderungen bestimmt. Für die hier gem. Abs. 3 Z 1 leg. cit. genannten Werte ist der Auftragswert als Betrag ohne Umsatzsteuer heranzuziehen.11
Mit 365 Abs. 3 Z 5 BVergG 2018 werden darüber hinaus zusätzliche Leistungen angesprochen, die erforderlich geworden sind und nicht in den ursprünglichen Ausschreibungsunterlagen vorgesehen waren, wenn ein Wechsel des Auftragnehmers a) aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann und b) mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den Auftraggeber verbunden wäre. Abs. 3 Z 5 qualifiziert damit bestimmte, erforderliche Zusatzleistungen zu einem bereits erteilten Auftrag als „unwesentliche Änderungen“ und stellt dafür kumulative Bedingungen auf. So können mit dem bisherigen Auftragnehmer Zusatzleistungen abgewickelt werden, wenn einerseits ein Wechsel des Auftragnehmers aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen, wie aufgrund von Anforderungen an die Austauschbarkeit oder Kompatibilität mit im Rahmen des ursprünglichen Vergabeverfahrens beschafften Leistungen nicht erfolgen kann, und überdies mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den Auftraggeber verbunden wäre. Dogmatisch wird zur Ausnahmebestimmung des § 365 Abs. 3 Z 5 leg.cit. darauf hingewiesen, dass sich diese Bestimmung teilweise mit § 36 Abs. 1 Z 6 u § 37 bzw. § 206 Abs. 1 Z 6 BVergG 2018 (Verhandlungsverfahren ohne vorherige Bekanntmachung) überschneidet und Z 5 leg.cit. ein Spannungsverhältnis zwischen dem Wortlaut der lit. a und b aufweist: Wenn bereits aufgrund der lit. a (wirtschaftliche Gründe) ein Auftragnehmerwechsel „nicht erfolgen kann“ stellt sich die Frage, welche Bedeutung der lit. b („beträchtliche Zusatzkosten“) zukommen soll. Bei einer Gesamtbetrachtung beider literae dürfte es sich um Fälle der wirtschaftlichen bzw. technischen „Unmöglichkeit“ eines Auftragnehmerwechsels handeln. Hervorzuheben ist ferner, dass die zusätzlichen Leistungen „erforderlich“ geworden sein müssen. Anders als bei Z 6 handelt es sich beim Ausnahmetatbestand des Z 5 leg.cit nicht um „nicht vorhersehbare“ erforderliche Änderungen. Erfasst sind damit aber zur Erbringung der Leistung unbedingt notwendige aber wohl auch zweckmäßige zusätzliche Leistungen, die in der Ausschreibungsunterlage nicht vorgesehen waren. Die „Erforderlichkeit“ ist nach einem objektiven Maßstab zu beurteilen. Hinsichtlich der im Gesetz bezogenen „ursprünglichen“ Ausschreibungsunterlagen ist nach Verfahrenstypus zu differenzieren: So ist dies etwa bei offenen oder nicht offenen Verfahren jene Ausschreibungsunterlage (inklusive deren allfällige Berichtigungen), die den Unternehmen gemäß § 89 bzw. § 260 zur Verfügung gestellt wurde und die die Grundlage für die Erstellung der Angebote bildete; beim Verhandlungsverfahren ist es hingegen jene Fassung der Ausschreibungsunterlage, die die Grundlage für die Abgabe des endgültigen Angebotes bildete maßgeblich. Im Kontext des Abs. 3 Z 5 ferner relevant ist, dass jeder von mehreren zulässigen Zusatzaufträgen für sich genommen nicht über 50% des Wertes des ursprünglichen Vertrages aufweisen darf. Die Einzelwerte der Zusatzaufträge werden jedoch nicht zusammengerechnet, dh. das Kumulationsprinzip gilt nicht.
§ 365 Abs. 3 Z 6 BVergG 2018 trägt im Unterschied dem Umstand Rechnung, dass sich insbesondere bei langfristigen Vertragsverhältnissen Änderungen der externen Umstände ergeben können, die Auswirkungen auf die Ausführung des Vertrages haben. Für diese Fälle gewährleistet Abs. 3 Z 6 leg. cit. ein gewisses Maß an Flexibilität, um den Vertrag an aktuelle Gegebenheiten anpassen zu können, ohne ein neues Vergabeverfahren einleiten zu müssen. Abs. 3 Z 6 leg. cit enthält dabei kumulativ zu erfüllende Bedingungen. Einerseits muss es sich um erforderliche Änderungen handeln, die ein sorgfältig vorgehender Auftraggeber nicht vorhersehen konnte. Die in Z 6 angesprochenen „unvorhersehbaren Umstände“ sind Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den Auftraggeber unter Berücksichtigung der diesem zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Vorhabens, der üblichen (und bewährten) Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können.12 Ferner darf sich durch die Änderung der Gesamtcharakter des Auftrages nicht verändern. Dabei ist zu beurteilen, ob die beschriebenen Auftragserweiterungen tatsächlich im Vergleich zum ursprünglichen Vergabeverfahren Erweiterungen darstellen, die die Zulassung anderer als der ursprünglich zugelassenen Bieter oder die Annahme eines anderen als dem ursprünglich angenommenen Angebots erlaubt hätten (EuGH C-454/06, Rn. 35); den Auftrag in größerem Umfang auf ursprünglich nicht vorgesehene Dienstleistungen erweitert (EuGH C-454/06, Rn. 36), oder das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages in einer im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehenen Weise zugunsten des Auftragnehmers ändert (EuGH C-454/06, Rn. 37). Der VwGH13 hat festgehalten, dass „Änderungen der Bestimmungen eines öffentlichen Auftrages während seiner Geltungsdauer als Neuvergabe des Auftrages im Sinne der Richtlinie 92/15 anzusehen sind“, „wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen als der ursprüngliche Auftrag und damit den Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen dieses Vertrages erkennen lassen“ (vgl. EuGH C-454/06, Rn. 37). Der EuGH hat in seinem Erkenntnis C-91/0814 die durch C-454/06 begründete Judikatur fortgeführt und festgehalten, dass „wesentliche Änderungen der wesentlichen Bestimmungen eines Dienstleistungskonzessionsvertrages in bestimmten Fällen die Vergabe eines neuen Konzessionsvertrages erfordern“ können, „wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen, als der ursprüngliche Konzessionsvertrag und damit dem Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen dieses Vertrages erkennen lassen“ (EuGH Rs C-91/08, Rn. 37). Damit sind im Ergebnis lediglich Veränderungen, die geeignet sind, den Wettbewerb zu verfälschen und den (bestehenden) Vertragspartner gegenüber anderen Unternehmern zu bevorzugen, als – eine neue Ausschreibungspflicht begründende – wesentliche Änderung anzusehen. Im Kontext des Abs. 3 Z 5 und auch 6 ferner relevant ist, dass jeder von mehreren zulässigen Zusatzaufträgen für sich genommen nicht über 50% des Wertes des ursprünglichen Vertrages aufweisen darf (die Einzelwerte der Zusatzaufträge werden jedoch nicht zusammengerechnet, dh das Kumulationsprinzip gilt nicht). Die Auftragserweiterung liegt jedenfalls auch unter 50% des ursprünglichen Auftragswertes; auch diese Anforderung ist erfüllt. Dazu wird aber einmal mehr auf die Bekanntmachungsverpflichtung des § 365 Abs. 4 BVergG 2018 verwiesen.
4.
Ergebnis ^
EuGH 19.06.2008, C-454/06, Pressetext hat grundgelegt, dass Änderungen der Bestimmungen eines öffentlichen Auftrages während seiner Geltungsdauer als Neuvergabe des Auftrages im Sinne der Vergaberichtlinien anzusehen sind, wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen, als der ursprüngliche und vergebene Auftrag gehabt hat. Damit ist der immanente Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen dieses Vertrages erkennbar. Daraus ist abzuleiten, dass es unions- und vergaberechtlich geboten ist, auch nachträgliche Änderungen eines bereits abgeschlossenen Vertrages als Neuvergabe eines Auftrages anzusehen, wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen als der ursprüngliche Auftrag aufgewiesen hat. Zur Lösung trägt Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU bei der festlegt, unter welchen Umständen Änderungen von Verträgen während ihrer Laufzeit vergaberechtlich zulässig und unzulässig sind.
Aus der Systematik des Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU und auch seiner nationalen Umsetzungsnorm des § 365 BVergG 2018 folgt, dass das Verfahren zur wesentlichen Änderung eines Vertrages grundsätzlich ein Vergabeverfahren darstellen muss. Wie dargestellt ist bei richtlinienkonformer Interpretation des Artikel 72 der Richtlinien 2014/24/EU davon auszugehen ist, dass die Möglichkeiten des § 365 BVergG 2018 de lege lata ausreichend sind und mittels einer großzügigen Vertragsauslegung auch alle praktisch relevanten Sachverhalte, wie dargestellt, einfangen kann.
Vertragsanpassungen im Graubereich des § 365 BVergG sind grundsätzlich zulässig, wobei es immer um eine Interessenabwägung zwischen Kosten, Nutzen und Folgen einer Neuausschreibung oder einer Vertragsanpassung mit bestehendem Auftragnehmer geht. Dabei sind die wesentlichen Kriterien des Wettbewerbs, der Bietergleichbehandlung und Transparenz im Zusammenhang mit Änderungen des Bieterkreises zu beachten.
Empfohlen wird, für zukünftige Ausschreibungen bereits absehbare Vertragserweiterungen im Vertragswerk als „Regelungen“ im Sinne der genannten Bestimmungen aufzunehmen, wonach klare Umstände formuliert werden, unter denen eine Vertragsanpassung ohne gesondertes Vergabeverfahren dann immer zulässig wird. De lege ferenda ist hier kein weiterer Regelungsbedarf gegeben.
- 1 Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG; siehe https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=celex%3A32014L0024.
- 2 EuGH 05.10.2000, C-337/98, KOM-F; EuGH 19.06.2008, C-454/06, Pressetext; EuGH 13.04.2010, C-91/08, Wall; EuGH 14.11.2013, C-221/12, Belgacom; EuGH 07.09.2016, C549/14, Finn Frogne.
- 3 Mitteilung der Kommission – betreffend Leitlinien der Europäischen Kommission zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die COVID-19-Krise verursachten Notsituation vom 01.04.2020 (2020/C 108 I/01).
- 4 IdS auch Kurbos, Corona und Vergabe, bau aktuell 2020, 128.
- 5 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – zu den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik vom 9.9.2015 (COM(2015)454).
- 6 BMJ – StS VR (Stabstelle Bereich Vergaberecht) vom 30.03.2020.
- 7 Auch im Sinne EuGH RS C-187/16, Kommission gegen Österreich.
- 8 VwGH 20.04.2016, Ro 2014/04/0071 = VwSlg 19352 A/2016, vgl. EuGH Rechtssache C574/10 Autalhalle.
- 9 VwGH 23.05.2014, 2013/04/0025, mit Verweis auf EuGH 15.03.2012 Rs C-574/10, Kommission/Deutschland, Rn. 36 ff.
- 10 EuGH 05.10.2000, Rs C-16/98, Kommission/Frankreich, Rn. 64 u 65; vgl auch VwGH 20.04.2016, Ro 2014/04/0071 = VwSlg 19352 A/2016.
- 11 Kurz in Heid/Reisner/Deutschmann/Hofbauer, BVergG 2018 Rz 6 zu § 365.
- 12 Erwägungsgrund 109 der RL 2014/24/EU. Zu „nicht vorhersehbaren Leistungen“ vgl. bspw. die §§ 35 Abs. 1 Z 4, 36 Abs. 1 Z 4, 37 Abs. 1 Z 4 und 206 Abs. 1 Z 5 BVergG 2018.
- 13 VwGH 13.11.2013, 2012/04/0022, hat auf Grundlage von EuGH 19.06.2008, C-454/06, Pressetext.
- 14 EuGH 13.04.2010, C-91/08, Wall AG, Slg 2010, I-02815, für Dienstleistungskonzessionsverträge; EuGH 11.07.2013, C-576/10, Europäische Kommission/Königreich der Niederlande, Rn. 62.